Auf der Zunge liegt es mir schon seit einem Jahr mindestens, verschleppt wurde es immer wieder, weil der Gegenstand der Kritik so unbedeutend ist. Warum jetzt also? Um das ein mal gesagt zu haben, und dann weg ist das Zeug, kann man vergessen und nimmer wieder bemühen.
Fangen wir mit den durchaus lesenswerten Überlegungen auf anarchismus.de, betitelt mit „Anarchist:innen im Ukraine Krieg – Hintergründe und Kritik“. Dies ist, unter uns gesagt, eine recht gute Annäherung an das Thema, die Einschätzung der Maidan-Proteste von 2014 und der Rolle der radikalen Linken darin teile ich. Auch die ukrainische Rechte wird m.E. richtig eingeschätzt, die kulturell zwar an den Mainstream angeschlossen hatten, aber nicht schafften ihre „Erfolge“ auf dem Maidan in politische Dividende zu konvertieren. Vielleicht waren das einfach auch keine richtige Erfolge?
Der Hirnquark beginnt, wie so oft im diesem Zusammenhang gehört, bei Phrasen wie „gemeinsame Sache mit Staat und Faschisten“. Ich wünsche natürlich niemandem in einer Situation zu landen, in der Krieg plötzlich alles andere überschattet, aber man könnte wenigstens versuchen, sie nachzuvollziehen. Niemand wird hier moralisch erpresst, die Entscheidungen mancher (ehemaliger) GenossInnen zu teilen oder für gut zu befinden, aber wenn man schon Analysen aus der Reichadlerperspektive verfasst, könnte man wenigstens versuchen, die Beweggründe nachzuvollziehen.
Der Burgfrieden zwischen den Linken und den Rechten in der Ukraine ist nicht wirklich einer, aber die Prioritäten wurden bei manchen über Nacht anders gesetzt. Machen wir uns nichts vor, der sogenannte Antifaschismus ist auch hierzulande ein Straßenkrieg zwischen zwei jugendlichen Subkulturen, der sich gerne zum Spanischen Bürgerkrieg stilisiert.
Wie der Krimer Anarchist Alexandr Koltschenko es gegenüber dem finnischen Portal Takku formuliert: „However, in 2014, we found ourselves in a new situation where our old doctrines no longer applied“. Er weiß sonst noch ein paar interessante Sachen zu erzählen, sehr empfehlenswert. (Zur Erinnerung: zu seiner Unterstützung in russischer Gefangenschaft haben Leipziger AnarchistInnen nichts getan, auch bundesweit war das kein Thema).
Ich will die ganzen Dogmatismen dieser sogenannten Analyse, die sich für die anarchistische Staatskritik ausgeben, nicht mehr aufbröseln. Bei manchen Leuten besteht die ganze Klugheit, die sie den anderen vermeintlich voraus haben, darin, schon immer gewusst zu haben, dass in der Nacht alle Katzen schwarz seien. Pun intended.
Darauf folgt die Kritik an der Militarisierung des ukrainischen Staates, der konventionellen Kriegsführung und sogar Überlegungen, ausgerechnet das ukrainische Militärgerät zu sabotieren. Man rät zwar davon ab, das würde bei der Bevölkerung wahrscheinlich nicht gut ankommen, aber man merke: das Ganze richtet sich nicht an den Aggressor und es werden nicht den russischen GenossInnen Ratschläge erteilt, sie mögen sich bitte etwas mehr gegen den Krieg ihres Staates bemühen. Ich hoffe, das passiert nicht, weil die anarchistischen Herrschaften in den marodierenden russischen Söldnern den Verein freier Egoisten frei nach Stirner erblicken? „ Macht und Gewalt existier(en) nur in mir, dem Mächtigen und Gewaltigen“, wie es heißt. Das wäre zu hoch gestochen, ich geb’s zu. Aber die deutsche (und nicht nur) Linke hat eine seltsame Vorliebe für die Herrschaft der Rackets.
Demgegenüber zitieren wir eines der letzten Statements unserer (ehemaliger) GenossInnen von nihilist.li:
„Die Ukraine kämpft und wird weiter kämpfen, denn eine friedliche Lösung ist unmöglich. Kein Abkommen wird Russland dazu zwingen, sein Wort zu halten, sodass der Krieg trotz eines Waffenstillstands weitergehen wird.
Die Frage ist nur, mit welcher Intensität und in welchem Ausmaß der Krieg weitergehen wird. Jeder Waffenstillstand, auch wenn er mit schönen Siegeln wie „für immer“ besiegelt ist, wird von Moskau bei der ersten Gelegenheit gebrochen. Er ist kein Spieler, der sich an die Regeln hält, und das ist offensichtlich.
Eigentlich geht es also um Absurdität. Die Mitgliedschaft in der NATO bringt keine Beschränkungen für die Kriegsführung mit sich. Ja, niemand hat die Türkei daran gehindert, einen Teil Zyperns zu besetzen, und ihre Beziehungen zu Griechenland, einem anderen Mitglied der Allianz, können kaum als freundschaftlich bezeichnet werden. Die USA griffen den Irak trotz Meinungsverschiedenheiten innerhalb der NATO an.
Das heißt, der Tausch von Territorien gegen Mitgliedschaft verbindet uns theoretisch nicht die Hände. Nichts hindert uns daran, der NATO beizutreten und den Krieg für historische Gerechtigkeit fortzusetzen. Russland wird weiterhin gegen uns arbeiten, und es wird viele Gründe geben, die Offensive fortzusetzen. (…)
Natürlich wird eine neue Offensive politischen Willen erfordern, aber wir haben mehr als genug von dieser Ressource und mit der Zeit werden es sogar noch mehr sein, weil unsere Handlungsfähigkeit in der Weltpolitik wächst. Und deshalb ist die Idee selbst lächerlich. Für die NATO ist es profitabler, uns Waffen zu geben und aus der Ferne zu beobachten“.
Umso bezeichnender, dass es aus 2023 ist. Die GenossInnen, ahnten noch vor Dutzend Jahren, was auf sie zukommt, machten ihre Versprechen und hielten sie. Manche waren, manche sind noch immer beim Militär. Welche Ideale übrig bleiben werden und ob überhaupt, werden ukrainische und russischen Proletarier ihren Herren die Rechnung für diesen Krieg ausstellen – das werden wir leider erst sehen, wenn der Krieg in irgendeiner Form vorbei ist.
Inzwischen verhärten sich die Fronten auch im europäischen Hinterland, die UnterstützerInnen eskalieren und gehen aufeinander an den Orten los, wo sich die Szene trifft, so in St. Imer oder in Graz. Zur Begründung der reinen internationalistischen Lehre werden fleißig Zitate gesammelt. Zitate habe ich auch, wenn’s was hilft. Der letzte große russische Anarchist und Revolutionär Grigori Maximow z.B. war bekanntlich kein Freund des russischen Staatskapitalismus und hat gesehen, wie „die zivilisierte Staatengemeinschaft“ sich nach dem 1. Weltkrieg sehenden Auges in die nächste Katastrophe hineinmanövriert hatte, konnte zwischen den beteiligten Mächten noch klar unterscheiden.
„Die Geschichte, deren Mitverfasser das Proletariat ist, und es muss gesagt werden, dass es keineswegs der letzte ist, bietet ihm keine reiche Auswahl an Wegen. Sie zwingt es, um sich aus der totalen Sklaverei zu befreien, nur einen Weg zu gehen, und zwar gegen einen Feind, nicht gegen alle auf einmal. Gegen einen von drei Feinden: Nazismus, Bolschewismus, Kapitalismus. Gegen denjenigen, der in diesem historischen Augenblick eine direkte und unmittelbare Gefahr darstellt. Dieser Feind ist zweifelsohne der Nazismus. Eindeutig. Also, schießt auf den nächsten tollwütigen Hund, dann habt ihr Zeit, auch den entfernten zu treffen. Das bedeutet natürlich nicht, wie wir gesagt haben, dass sich die Arbeiterklasse mit den beiden anderen Feinden in „blutiger Freundschaft“ zusammenschließen muss. Im Gegenteil, es ist notwendig, sie ständig im Auge zu behalten und ihre Kräfte zu schwächen, soweit es dem Sieg über den Nazismus nicht schadet. die Feinde einen nach dem anderen zu schlagen, ist das Gebot dieses historischen Augenblicks. Der Nazifaschismus kommt an erster Stelle, die anderen an zweiter – zu der Zeit und in der Reihenfolge, die von den realen historischen Bedingungen und Möglichkeiten diktiert werden. Unter diesem Gesichtspunkt betrachten wir die militärischen Erfolge auf dem russischen Kriegsschauplatz wie auch auf anderen Kriegsschauplätzen; unter diesem Gesichtspunkt bewerten wir die Bedeutung der russischen und anderer Siege. Die Bedeutung der russischen Siege ist enorm; sie bringen zu einem großen Teil den Moment der endgültigen und vollständigen Niederlage des ersten und gefährlichsten Feindes der werktätigen Massen der ganzen Welt – des Nazifaschismus – und den ersten Moment des Kampfes für eine gleiche und freie Welt gegen die anderen.“
So what? Die Weltrevolution, wie wir wissen, hat sich nicht ereignet, die sowjetischen „Befreier“ haben zwar der Massenvernichtung Halt geboten, aber Osteuropa nicht gerade befreit. Die noch bei klaren Verstand geblieben sind, wurden von einer immensen Sinnkrise erfasst; es gibt schon Gründe, warum man Leute Rocker, Linow oder Rüdiger als „Revisionisten“ bezeichnet. Zitate können Texte manchmal schmücken, bringen ansonsten aber nicht viel. Irgendwo bei Kropotkin hieß es, dass der Anarchismus kein festes Dogmengebäude sein soll, sondern nur freiheitliche Tendenzen in der Natur und Gesellschaft beobachten und betonen. Heute prüft eine pseudo-religiöse Gemeinschaft, ob die Realität ihren heiligen Schriften entspricht.
Daher nur folgende hot takes, in aller Kürze: 1) Die ukrainischen GenossInnen (für jemand vielleicht keine GenossInnen mehr) sehen sich ein Teil eines antikolonialen Kampfes. Ob es jemandem so gefällt oder jemand überzeugt, geschweige denn objektiv richtig ist, ist zweitrangig. Das sollte man einfach zur Kenntnis nehmen, bevor man urteilt. 2) Nach dem Krieg (egal, wie er ausgeht) wird es in der ukrainischen Gesellschaft wichtig sein, wer wo war, und er/sie dort getrieben hat. Man wird danach gefragt. Ein Gedanke, der jemandem, der sich selbst seine „street credibility“ mit Lonsdale- und Adidas-Klamotten suggeriert, völlig fremd bleiben muss. Pun intended.
Es war bei anderen Gelegenheiten auch so, dass man auseinander gegangen ist, wenn dazu die Zeit war, und wieder zusammengekommen, wenn wiederum dazu die Zeit war. Bei allem Müll, den unsere antimilitaristischen FreundInnen aus Tschechien absondern, finde ich die Initiative großartig, die Deserteure und Kriegsdienstverweigerer zu unterstützen. Ein Freund der ukrainischen Nation, des ukrainischen Staates bin ich immer noch nicht geworden, die gelb-blaue Folkloristik und die den Durchschnitt übersteigende Militäranalyse überlasse ich den möchte-gern Führungskadern, denen das Weltproletariat abhanden gekommen ist und die ein Ersatzobjekt für ihre Projektionen brauchen. (Waren etwa die Antiimps nicht schon früher in dieser äußerst bemitleidenswerten Lage?) Ich sagte einmal: „Meine Solidarität mit der Ukraine in diesem Krieg ist meine Solidarität mit der zertrampelten russischen Gesellschaft“. Ich verabscheue in diesem Krieg nur eine Seite etwas mehr, als die andere. Das reicht mir vollkommen, um erneut um Spenden an Euromaidan, Solidarity Collectives und der Organisation der Veteraninen zu bitten.
Und nun wahrlich genug davon,
– ndejra