Buchbesprechung: „Rechte Tür links“

Kyrylo Tkachenko: Rechte Tür links. Radikale Linke in Deutschland, die Revolution und der Krieg in der Ukraine, 2013-2018. Stuttgart 2023

Die Jahre, die seit dem sog. Euro-Maidan und der Krym-Annexion vergangen sind, müssen jeder und jedem, die oder der die Ereignisse in der Ukraine aufmerksam verfolgt, bereits wie eine Ewigkeit vorkommen. Es ist viel passiert in dieser ewig langen und dennoch kurzen Zeit; dabei werden die Leute, die das unmittelbar getroffen hat, und Außerstehende den Ereignissen unterschiedliche Bedeutung beimessen. Nicht nur wir haben die Ukraine von außen beobachtet, die ukrainische Gesellschaft blickte zurück, die Kommunikation blieb verzerrt oder missglückte komplett.

Auch wenn Tkachenkos Ausführungen 2018 aufhören, sollte das den Reflexionsfähigen und Interessierten vollkommen reichen. Der Fremde, „der heute kommt und morgen bleibt“, wie es Georg Simmel irgendwo formulierte, sieht Manches schärfer, macht sich dementsprechend unbeliebt bei den Einheimischen. So viel anders ist die deutsche Linke seit Tkachenkos Versuch, diese dem ukrainischen Publikum zu erklären, nicht geworden: Ein Teil hängt immer noch sentimental Monstrositäten sozialistischer und postsozialistischer Gesellschaften an, ein Teil wird schwach bei islamistischen Metzgern aus dem Nahen Osten, die einen haben sich bei den postcolonial studies das letzte Hirn wegstudiert, den anderen gelten Leute wie Daniela Klette als Genossen, die dritten versuchen nach dem Vorbild der Gnostiker mit Sprachmagie ihrem biologischen Schicksal zu entfliehen, die anderen wiederum verlieren sich im theoretischen Delirium und finden nicht mehr zum Leben zurück, Sahra Wagenknecht gründet endlich ihre Querfront-Partei, allesamt sind wir felsenfest davon überzeugt, auf der „richtigen Seite der Geschichte“ zu stehen und über alle Zweifel erhaben zu sein. 2023 veröffentlichte der ibidem-Verlag die deutsche Übersetzung des Buches in der Reihe „Ukraininan voices“, der ich übrigens weitestmögliche Verbreitung wünsche.

Kyrylo Tkachenko hat Geschichtswissenschaft u.A. in München studiert und kennt die hiesige Linke gut genug, um ihr einen Spiegel vorhalten zu können. Der Name wird manchen noch seit der legendären Artikelserie auf Indymedia „Wie Teile der deutschen Linken Faschisten in der Ukraine unterstützen“ (1) bekannt sein, manchen erst seit Februar 2022 wegen seiner Berichte für die FAZ aus der Kyiwer U-Bahn. Mir persönlich liegt seine Replik auf den allseits beliebten menschgewordenen Senfspender Peter Nowak besonders am Herzen (2). Die Frust des Autoren teile ich: Der linke wie rechte deutsche Herrenmensch hört sich zwar vergnügt Berichte aus fernen Landen, aber lässt sich nicht gerne von AusländerInnen belehren, er weiß schon alles selber und zwar viel besser als diese; etwas in der Geschichte seines Landes, worüber er nicht gern spricht, hat ihn dermaßen geläutert, dass er – je nach politischen Vorlieben – entweder unbedingt die NATO aus seinem schimmeligen JUZ heraus bekämpfen oder sich wieder groß fühlen möchte, wenn die unbedeutenden Nationen dazwischen dem großen Nachbarn (ohne eine gemeinsame Grenze!) zum Fraß vorwirft.

„Ein solches Verhalten kann überraschen, es ist leicht zu verurteilen, lächerlich zu machen oder einfach abzutun wegen der Falschheit seines angeblichen ‚Linksseins‘. Etwas schwieriger ist es, die Ursachen zu erkennen und zu erklären“. (S. 39) Darum geht es hier: Dazugehören zu einer ganz großen Sache, moralische Überlegenheit verspüren bis zur völligen Ignoranz und Losgelöstheit von der schlecht eingerichteten Welt; eine geopolitische Wende der Linken, die blind alles akzeptiert, was gegen „den Westen“ ist. Das „Ouring“ – Identifikation mit einem höheren ethischen Zweck, die Annahme einer linksradikalen Identifikation verspricht sofortige Befriedigung des Wunsches, zu Guten zu gehören. Man könnte meinen, es wäre was für die Gruppenpsychologie, bis man sich vor die Augen führt, dass es zwischen (idealtypischer) ASJ und (idealtypischer) SDAJ in Bezug auf den russisch-ukrainischen Krieg (nicht nur) keinen Unterschied gibt. (3) Die Überlieferung ist größer als alle Sektenquerelen.

Aufrecht, gut und friedfertig sind wir alle; bloß je aufrechter, besser und friedfertiger, desto gewaltbereiter – wie die alttestamentarischen Zeloten. Witzig ist mittlerweile, dass das sogar den christlichen Theologen auch aufgefallen ist: „Im politischen Aktivismus steckt immer auch die Sehnsucht nach Gemeinschaft und Erlösung – wobei schon die Bemühung um das öffentliche Gut lustvoll „konsumiert“ wird. Und gerade dort, wo die Religion nicht mehr überzeugt, bietet der politische Aktivismus die Verheißung von Lebenssinn und höherer Bestimmung“. (4) Und das Leiden, den Märtyrerkult nicht vergessen! (Und die Rache an der Welt, die sich feige für Gerechtigkeit ausgibt und „am schönsten unter Anarchisten und Antisemiten“ blüht, wie es irgendwo bei Nietzsche heißt. Vielleicht ist das berufsmäßige Rumopfern ist der Grund, aus welchem die radikale Linke z.Z. so gut mit dem Islamismus resoniert).

Also versucht Tkachenko die seltsame Liebe der westlichen Linken für Despotien zu entschlüsseln. Dabei hatte die europäische Linke Russland vor 1917 nur als einen Feind, als einen Hort der Reaktion auf der Karte, diese Liebe ist gar nicht so alt. Warum sie ihren Gegenstand überdauert, kann nur mit Tradition erklärt werden. Objektiv gesehen sind UdSSR und VR China, die Gesellschaften des sog. Ostblocks das Beste, was die Linke in ihrer Wirkungsgeschichte jemals hervorgebracht hat, für mehr – oder besser gesagt: für Menschlicheres – hat es nicht gereicht. Der „Stalinismus“ und sein Paktieren mit dem Nazi-Faschismus lassen sich nicht aus der Geschichte entsorgen (5). Diese Geschichte gehört tatsächlich uns allen gemeinsam und ist dabei nicht nett zu uns: Retrospektiv, von ihren historischen Resultaten her, waren diese kolossalen sozialen Experimente neben dem klassischen Faschismus „nur“ Strategien der kapitalistischen Modernisierung von oben.

Man bemüht sich um Distanz: Sei es Trotzkismus oder sog. humanistischer, philosophischer Marxismus; in Osteuropa signalisiert man die Distanz gewöhnlich durch Anarchismus. Es ist nicht zu übersehen, dass beide bei ihrem jeweiligen Facettenreichtum sehr traditionalistische Veranstaltungen sind. „In der radikalen Linken haben die Anarchisten nicht ohne Grund den Ruf, die Gruppe zu sein, die am anfälligsten für Spaltungen, Skandale und Ausschlüsse aus ihren Reihen ist, wovor selbst die eifrigsten Aktivisten nicht sicher sind. Anarchistische Kollektive erklären die programmatische Offenheit ihrer Gruppen und sind in Wirklichkeit vielleicht der geschlossenste und elitärste Teil der radikalen Linken“. (S. 158) Die ganze wunderbare Sektenvielfalt, die sich den Außenstehenden als fifty shades of linke Hirnhautphimose präsentiert, erklärt sich aus der unmöglichen Notwendigkeit utopisch, also wahnhaft-religiös und gleichzeitig praktisch-nüchtern zu denken. Die Möglichkeiten, sich dabei das Hirn auszurenken, sind dementsprechend unzählig. Nicht umsonst lesen sich Agnolis „Subversive Theorie“ und Landauers „Revolution“ als Beiträge zur Religionsgeschichte des Abendlandes, von Bloch und Bakunin (Benjamin, Thielen, Kritischer Theorie usw. usf.) ganz zu schweigen.

Doch was tun (um einen Klassiker des Marxismus zu zitieren)? „Angesichts des Einflusses linker Tradition auf unsere Geisteskultur in den letzten 150 Jahren müssen wir den Grad ihrer unkritischen Rezeption als ein Problem anerkennen, das radikales Umdenken erfordert. (…) Manichäische und eschatologische Motive, ein hohes Maß an Verzauberung und damit einhergehende Rechtfertigung von Dingen, die letztendlich von keinem humanistischen Standpunkt aus zu rechtfertigen sind, finden sich auch bei vielen Intellektuellen, Denkern, die, so scheint es, nicht im Verdacht stehen, mit dem Stalinismus oder anderen hässlichen Spielarten kommunistischer Regime zu sympathisieren“. (S. 165f) Es muss ja nicht immer der Stalinismus sein und wären viele Freunde der Barbarei zu nennen: Die ganzen Chomskys, Zizeks, Badious, Saids, unsere deutsche Feuilletonkommunisten, die ganzen kollektiven Judith Butlers, die sich gerne als Progressive darstellen… Zu beginnen wäre also mit einer Kritik der linken Intellektuellenzunft, die im Prinzip nur das Herrschaftspersonal in Wartestellung hervorbringt. Ich gestatte mir noch einen Einwurf aus Norbert Bolz: „Die Welt retten zu wollen ist die ersatzreligiöse Variante des Willens zur Macht“. Kyrylo weiter: “Die Heuchelei des linken Intellektuellen besteht gerade darin, dass er nur in einer repräsentativen Demokratie existieren kann und nicht im Kommunismus, dessen Beginn er angeblich so eifrig kommen wünscht. (…) Ganz gleich, was uns der heutige Linksintellektuelle versichert, sein Verhalten zeigt bereits, dass der Erhalt eines Forschungsstipendiums, die Veröffentlichung eines Artikels in einer renommierten wissenschaftlichen Zeitschrift und eine Universitätsstelle für ihn tatsächlich weitaus wichtigere Ereignisse sind als der Sieg des Kommunismus. (…) die Haltung des linken Intellektuellen ist eine der typischen Manifestationen von Scheinheiligentum in der heutigen, scheinbar schon lange ‚entzauberten‘ Welt“. (S. 170f)

Das Vernünftige soll aber beibehalten werden, Kyrylo möchte „wissenschaftliche (diagnostische) Elemente unterscheiden und sie von den religiösen (utopischen) Elementen trennen“. Das Linke soll dem Humanismus weichen. Bloß den sich humanistisch gebenden Freund*innen der islamistischen Barbarei wird man damit nicht so einfach beikommen und die „erschreckende Entdeckung“, wie Tkachenko schreibt, dass alle Menschen Menschen, also mit vorgesellschaftlichen Rechten und Würde ausgestattet sind – ist selbst noch sehr christlich.

Womöglich geht es nur darum, dieses radikale Zelotentum noch ein Stück weiter zu säkularisieren? Und ist der politische Ausdruck davon eine biedere Sozialdemokratie, wie wir sie kennen und „lieben“? Oder eher ein „Anarchismus für Erwachsene“ eines Paul Goodmans? (6) Wozu das „Diagnostische“, wenn die utopische Zielvorgabe fehlt, wie ist dann die Diagnose überhaupt noch möglich? Sollte sich die Linke nicht vielmehr zu ihrer Kryptoreligiösität bekennen, würde sie dann nicht gleichzeitig nüchterner? Wie auch immer, es macht keinen Sinn, etwas zu kritisieren, dessen Sinn man nicht mehr sieht. Und sieh an, auch wir sind bei aller Hassliebe immer noch dabei.

– nd

Fußnoten:

  1. https://linksunten.indymedia.org/de/node/158919/index.html; https://linksunten.indymedia.org/de/node/163651/index.html und https://linksunten.indymedia.org/de/node/164630/index.html

  2. https://www.freitag.de/autoren/kyrylo-tkachenko/ukraine-linke-antwort-zu-peters-nowak-beitrag-keine-boni-fuer-nationalisten

  3. Die SDAJ könnte sich bloß den „theoretischen“ Aufwand sparen, wenn man auch ohne zu denselben Resultaten kommt.

  4. Norbert Bolz, Christentum ohne Christenheit, Berlin 2025

  5. Siehe „Stalinisiert euch!“ in Das grosse Thier #18

  6. Siehe „Freiheit und Autonomie“ in Das grosse Thier #20. Der Erwachsenen-Anarchismus hat allerdings Goodmans Übersetzer Stefan Blankertz langsam, aber sicher aus der Neuen Linken nach rechts geführt.

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