I.
Wolfgang Pohrt hat einen Essai geschrieben. Er kümmert sich darin nicht weiter um Widerspruchsfreiheit und handelt recht viel ab. Aber im großen und ganzen geht es um die Chancen des Kommunismus heute, und das Ergebnis ist, wie kaum anders zu erwarten, eher nüchtern oder – sofern man noch oder schon von der Idee des Kommunismus trunken ist – ernüchternd: „Tatsache ist, dass wir in diesem Augenblick nicht wissen, ob ein ‚Verein freier Produzenten‘ oder ‚Verein freier Menschen‘ – Marxens Umschreibung für das was Kommunismus wäre – möglich oder der Kapitalismus unvermeidlich ist.“ Soweit nicht besonders originell. Der Grund ist folgender: Der Kapitalismus brachte einerseits das Kunststück fertig, die Menschen des gesamten Erdballs in produktiven Kontakt zu bringen und so haben wir heute eine weltweite Arbeitsteilung innerhalb eines gewaltigen Organismus, der in der Erde gräbt, allerlei Bewegung freisetzt, mit ihr wiederholt den Naturstoff umformt – ihn sägt, schneidet, schmilzt, verschraubt, verlötet – bis die Natur plötzlich das Aussehen eines Computers oder auch nur eines Küchenmixers hat. Andererseits ist dem Kapitalismus das durch ein Prinzip gelungen, bei dem weder die Einzelnen noch das Kollektiv der Menschen ihren eigenen Produktionsapparat als Ganzes überblicken oder gar planen. Es war bekanntlich nicht die freie Übereinkunft, die zu dieser Arbeitsteilung führt, sondern die Konkurrenz, der Profit und nicht zuletzt allerlei staatliche Maßnahmen.
Jetzt haben wir den Salat: Einerseits einen gigantischen Maschinenpark, bei dem alle Teile mit allen auf falsche Weise verschränkt sind, von dem aber alle auf Gedeih und Verderb abhängen. Andererseits lauter gegeneinander und ihrem Produkt gegenüber gleichgültige Produzenten, die nach wenig anderem fragen als nach Lohn. Ausgerechnet diese Befehlsempfänger sollen sich nun daran machen, ihre Reproduktion frei umzugestalten, ohne dass dabei die allgemeine Versorgung zusammenbricht – in vielen Landstrichen muss sie sogar erst hergestellt werden. Die Schwierigkeiten springen ins Auge und ich kenne keine, die davon im Ernst auch nur spricht.
II.
Mr. Kapitalismus – dieser jenseitige Dämon – ist dabei nicht einmal besonders beliebt, er erscheint nur alternativlos. Sofern jemand nicht an den Kommunismus glaubt, mag er ein wenig gottlos sein, vielleicht fehlt es ihm an Nächstenliebe, aber Angesichts dessen, was die Idee des Kommunismus realiter bedeuten würde, ist jeder Zweifel angebracht. Daher Pohrt: „Wenn Zweifel an der Idee des Kommunismus unterdrückt und verscheucht werden müssen, verwandelt sich diese Idee in einen reinen Glaubensgrundsatz.“ Gut, der Kommunismus ist ein Heilsversprechen: Jede nach ihren Fähigkeiten, jeder nach seinen Bedürfnissen. Und wenn man daran glauben muss, so muss man auch daran zweifeln.
Der französische Klugscheißer René Descartes z.B. war Meister im Zweifeln; er zweifelte an allem. Das vorläufige Ergebnis war, dass er „wie nach einem unvorhergesehenen Sturz in einem tiefen Strudel so verwirrt“ wurde, dass er „weder auf dem Grunde festen Fuß fassen, noch zur Oberfläche emporschwimmen“ konnte. So hat Descartes ein wenig meditiert und am Ende wieder Land gesehen. Insbesondere hat er festgestellt, dass eine Idee – er nennt sie Gott, wir lieber Kommunismus – in seinem Kopf entstanden ist, die unmöglich seiner subjektiven Idiotie entsprungen sein konnte, da sie jenseits unserer individuellen Vorstellungskraft liegt. – Klaviere, Trüffel, Automobile, so viele man braucht und unabhängig von der individuell ausgeübten Arbeitsleistung: „Dies alles ist nun in der Tat so vorzüglich“, sagt Descartes, „daß mir dessen Abstammung aus mir allein um so weniger möglich erscheint, je sorgfältiger ich es betrachte. Man muß daher aus dem zuvor gesagten schließen, dass der Kommunismus notwendig existiert.“ Warum sonst sollten sich so viele Leute so viele Phantasien von einer möglichen Erlösung gemacht haben, auf dass wir endlich nicht mehr im Schweiße unseres Angesichts arbeiten und unter Schmerzen gebären müssen, vielmehr auch vom Baum des Lebens essen können, wo wir von der Erkenntnis bereits gekostet haben? (Vgl. Offenbarung des Johannes, 2, 7 und natürlich Genesis 3, insbesondere 3, 22) Warum sollte Jesus gesagt haben: „Sorgt nicht um euer Leben, was ihr essen und trinken werdet, auch nicht um euren Leib, was ihr anziehen werdet. Ist nicht das Leben viel mehr als die Nahrung und der Leib mehr als die Kleidung? Seht die Vögel unterm Himmel an: sie sähen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen; und eurer himmlischer Vater ernährt sie doch.“ Warum nicht deshalb, weil diese Idee existiert. – Zumindest als Möglichkeit.
III.
Aber genauer. Was genau soll so vorzüglich sein, dass aus der reinen Tatsache, dass wir es denken, schon folgt, dass es auch existiert? Welches Eisen ist so heiß, dass es auch von den erklärten Kapitalismuskritikern nicht angefasst werden will und von dem auch die Linksradikalen aller Schattierungen im wesentlichen lieber schweigen? Pohrt meint, man solle weniger Marx lesen, insbesondere nicht das „Kapital“. Das würde einen nur zu sehr zu Kopfe steigen, und am Ende hätte nichtmal Marx mehr gewusst, ob es die Menschheit schaffen würde, dafür aber ein verselbstständigtes Produktionsverhältnis mehr oder weniger genau ausgeleuchtet. Allerdings gibt er auch folgenden Hinweis: „Als Marx mit der Arbeit begann, da glaubte er, befeuert vom revolutionären Elan dieser Zeit zu wissen, was Kommunismus wäre.“ Was war also der Feuerglauben des jungen Marx? Man kann es z. B. in den Werken Band 3 rund um die Seite 67 nachlesen, einem zu Lebzeiten nie veröffentlichten Manuskript Marxens. Also um was geht es?
Ausgangslage: „Die Produktivkräfte erscheinen als ganz unabhängig und losgerissen von den Individuen, als eine eigene Welt neben den Individuen, was seinen Grund darin hat, daß die Individuen, deren Kräfte sie sind, zersplittert und im Gegensatz gegeneinander existieren, während die Kräfte andererseits nur im Verkehr und Zusammenhang dieser Individuen wirkliche Kräfte sind.“ Das sollte so ähnlich oben schon stehen: Sie wissen es nicht, aber sie tun es. Was sie wissen, ist, dass ihnen jemand eine Mohrrübe vor die Nase hält und sie dieser durch Gehorsam und Arbeit hinterherjagen müssen, um wenigstens genug Bissen zum leben zu haben; und selbst wenn sie wirklich genug Bissen davon abbekommen, so bleiben sie ewig unbefriedigt, weil sie durch die Rübe motiviert werden. Der Rest ist ihnen egal, der stellt sich irgendwie her.
Daher muss es eine Revolution geben: „Die Individuen müssen sich die Totalität der Produktivkräfte aneignen.“ Was durch die unsichtbare Hand automatisch geregelt wird, soll nunmehr nach den Nöten und Wünschen der Gattung geschehen. Der Anreiz, den Marx gibt, ist nicht von der Hand zu weisen: Wir würden dadurch zu unserer „Selbstbestätigung“ kommen, indem wir die mannigfaltige Natur in freier Übereinkunft umformen und uns dadurch angenehm machen. Wir, das ist das Proletariat, dieses bekanntermaßen zersplitterte und schwer zu bestimmende Viech, dem man momentan sagt, was es zu tun hat, sofern es was zu tun hat.
Da wir nun bereits eine Welt voller Industrie haben – Marx sagt, die „zu einer Totalität entwickelten und nur innerhalb eines universellen Verkehrs existierenden Produktivkräfte“ –, so muss die Aneignung dieses Maschinenparks „einen den Produktivkräften und dem Verkehr entsprechenden universellen Charakter haben.“ Sprich ohne Weltrevolution geht es nicht. Geht Berlin auf die Barrikaden, zahlen sie vielleicht dort keine Strom- und Gasrechnung mehr, und so sehr man das dem Bewegungskonzern – Gasag, Bewag oder wie er gerade heißt – gönnen würde, stellten vielleicht die Russen die Lieferung ein und Berlin wäre im Winter kalt, sofern man sich nicht mit den Russen ins Einvernehmen setzt.
Um zu einer solchen neuen Kooperation überhaupt fähig zu werden, schließt Marx daher, müssen sich die Individuen radikal ändern: „Die Aneignung dieser Kräfte ist selbst weiter nichts als die Entwicklung der den materiellen Produktivinstrumenten entsprechenden individuellen Fähigkeiten. Die Aneignung einer Totalität von Produktionsinstrumenten ist schon deshalb die Entwicklung einer Totalität von Fähigkeiten in den Individuen selbst.“ Eben noch asozial und mehr so durch das „automatische Subjekt“ „hinter ihrem Rücken“ vergesellschaftet, schon die allein verantwortlichen Herren der Produktion, und ganz Kairo will Essen und Nairobi auch. Das Ganze ohne Geld, Profit und Staat.
Die Revolution ist daher nach Marx nicht nur nötig, weil sich die Bourgeoisie hinter ihrer Polizei verschanzt und partout nicht freiwillig einer freien Ordnung weichen wird, sondern weil nur diese gesellschaftliche Explosion überhaupt die im Menschen schlummernde potentielle Energie freisetzen würde, die es braucht, um aus der Erde ein Paradies zu machen. Nur der Rausch der Revolution kann überhaupt „die zur Durchführung der Aneignung nötige Energie des Proletariats“ entwickeln. Marx hat die Sache nämlich wirklich wissenschaftlich betrachtet und hielt nichts von den Proleten, wie sie sind. Also ist eines der Resultate seiner Geschichtsauffassung, „daß sowohl zur massenhaften Erzeugung dieses kommunistischen Bewußtseins wie zur Durchsetzung der Sache selbst eine massenhafte Veränderung der Menschen nötig ist, die nur in einer praktischen Bewegung, in einer Revolution vor sich gehen kann; daß also die Revolution nicht nur nötig ist, weil die herrschende Klasse auf keine andere Weise gestürzt werden kann, sondern auch, weil die stürzende Klasse nur in einer Revolution dahin kommen kann, sich den ganzen alten Dreck vom Halse zu schaffen und zu einer neuen Begründung der Gesellschaft befähigt zu werden.“ – Halleluja!
IV.
Man kann die Möglichkeit einer solchen Revolution mit Descartes für erwiesen halten. Aber, so sagte ein deutscher Denker vor über 200 Jahren: 100 eingebildete Taler sind nicht mit 100 Talern zu verwechseln, die man wirklich in der Tasche hat. Die vorzüglichen Grillen etwa von Jesus transzendieren alle Vorgeschichte, aber wie sieht es mit ihrer Umsetzung aus? Man hat diesen Jesus ans Kreuz genagelt, seine Jünger haben ihm im Stich gelassen und ihm blieb nur zu fluchen: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt. Wäre mein Reich von dieser Welt, meine Diener würden kämpfen“.
Auch Descartes hatte den Kommunismus nur spekulativ bewiesen, indem er – wie oben angedeutet – sagte, dass solch eine erhabene Spinnerei einfach existieren muss. Was ihre Realisierung angeht, blieb er zurückhaltend, kann sie sich aber immerhin vorstellen: „Doch vielleicht bin ich etwas mehr, als ich selbst weiß, und sind alle die Vollkommenheiten, die ich dem Kommunismus zuschreibe, als Möglichkeiten in mir irgendwie angelegt, wenngleich sie sich noch nicht entfalten und noch nicht zur Wirklichkeit gelangt sind. Mache ich doch die Erfahrung, daß meine Erkenntnis schon jetzt langsam wächst. Auch sehe ich nicht, was im Weg stünde, daß sie so mehr und mehr wüchse bis ins Unendliche und warum ich nicht mit so gewachsener Erkenntnis alle übrigen Vollkommenheiten des Kommunismus sollte erreichen können.“ Aber er verwirft das sofort wieder, vernachlässigt aber die kollektive Kraft, die durch die sich frei vereinigenden Individuen entstehen könnte.
Auf diese hofft Marx, und seine Variante des jüngsten Gerichts ist die schönste. Aber wie gesehen war er bezüglich seines wundersamen Proletariats eher skeptisch und behalf sich daher mit der segensreichen Wirkung einer anhaltenden Revolte und Umwälzung auf die Subjekte selbst. Sprich: die Produzenten sollen sich mutig ins Feuer werfen und der Rest folgt dann irgendwie. – Heute reden nur die Anarchisten so.
V.
Akzeptiert man für einen Augenblick die Idee des Kommunismus und auch den alchimistischen Prozess einer fortwährenden Revolutionierung der Revolutionäre durch die Anforderungen und Freiheiten seiner Realisierung, so bleibt immer noch die Frage, wie dieser kollektive Prozess in Gang kommen soll? Ein Freund von mir führt LSD als neue Zutat der revolutionären Alchimie ein, und eine Bekannte nahm die alte Losung wieder auf: „Generalstreik und dann alle Macht den Räten!“ Das ist gut, aber LSD ohne Generalstreik führt ins ://about blank (1). Generalstreik ohne LSD erleben wir in Griechenland und Spanien. Gab es auch schon in Frankreich. Blieb phantasielos. Nachher hatten die den 3. Band der MEW nicht gelesen. LSD und Generalstreik würde vielleicht der Polizei in die Hände spielen und es käme nicht zur Rätemacht, sondern zu blendschockgranateninduzierten Horrortrips. LSD und MEW würden funktionieren, und mit der daraus gewonnenen neuen Erfahrung dann vielleicht auch ein Generalstreik mit anschließender kostenloser Inbetriebnahme der lebenserhaltenden Infrastruktur und Maschinerie und dann die sorgfältige Umstrukturierung unserer gesamten Reproduktion. Aber die Wahrheit bleibt doch, dass der Blick in die Gesichter der U-Bahn-Passagiere kein Vertrauen für eine solche Operation einflößt und der Bekanntenkreis sich zunehmend zwischen Kneipe und Familie aufzuspalten droht. Vom Blick in den Spiegel sollte man daher lieber ganz abraten. Ohne ein Wunder wird es nichts. Denn ob man es misanthropisch der Natur selbst anrechnet, dass die Menschheit zur freien Assoziation unfähig ist, oder aber den gesellschaftlichen Verhältnissen, die die Einzelnen immerzu aufs Neue als bedürftige, isolierte und zur Freiheit unfähige Individuen hervorbringt: man muss sich dem Jetztzustand stellen. Und darin setzt sich die Gattung tatsächlich aus konkurrierenden, krisenanfälligen Egoisten zusammen, die bei allem auch noch in mehr oder weniger latenter Panik verbleiben, weil ihnen ja tatsächlich ständig der „Kampf ums Dasein“ blüht, und die sich daher ängstlich und kastriert fühlen. Das ist alles andere als nur oberflächlich, vielmehr in jede Faser der menschlichen Natur eingeschrieben. Das letzte Wort hat nämlich seit dem Sündenfall leider immer noch Gott: „Und ich will Feindschaft setzen zwischen dir und dem Weibe und zwischen deinem Nachkommen und ihrem Nachkommen; der soll dir den Kopf zertreten, und du wirst ihn die Ferse stechen.“ –
Franz Hahn
(1) Einer dieser Berliner Tanzschuppen.
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