„Ukraine ohne Juden“

Der folgende Beitrag „Ukraine ohne Juden“ ist dem Buch „Besatzung, Kollaboration, Holocaust. Neue Studien zur Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden. Mit einer Reportage von Wassili Grossman“ entnommen. Die Erstveröffentlichung erfolgte 1943 in der Zeitung „Ejnikajt“. Aus dem Russischen wurde der Essay von dem Historiker Jürgen Zarusky übertragen und eingeleitet. Auf das ukrainische Kollaborationsregime und die geistigen Vordenker der heutigen Oppositionellen in der Ukraine wies Erich Später in der Februarausgabe der Monatszeitschrift „konkret“ hin (Der Artikel kann hier eingesehen werden: https://www.dropbox.com/s/9tp05nj92otsxap/sp%C3%A4ter.pdf). Auf ein literarisches Portrait von dem leider verstorbenen Martin Büsser in der Jungle World Nr. 33/2009 (http://jungle-world.com/artikel/2009/33/37329.html) wollen wir im Zuge der Veröffentlichung ebenfalls aufmerksam machen. Wir wollen an dieser Stelle ausdrücklich auf das Buch von Léon Poliakov „Vom Antizionismus zum Antisemitismus“ aus dem Ça Ira Verlag (http://www.ca-ira.net/verlag/buecher/poliakov-antizionismus.html) hinweisen. Die Werke von Wassili Semjonowitsch Grossman sind auf russisch frei zugänglich: http://lib.ru/PROZA/GROSSMAN/

Einleitung (1)

Seit Anfang August 1941 war der Schriftsteller Wassili Grossman als Kriegskorrespondent für die sowjetische Militärzeitung „Krasnaja Swesda“ (2) („Roter Stern“) im Einsatz und blieb es mit wenigen Unterbrechungen bis zum Ende des Krieges, das er mit der triumphierenden Roten Armee im eroberten Berlin erlebte (3). Aus unmittelbarer Anschauung berichtete Grossman über die Serie der Niederlagen der Roten Armee in den ersten Monaten des deutsch-sowjetischen Krieges und den scheinbar unaufhaltsamen Vormarsch der Wehrmacht; er schrieb über den ersten schweren Rückschlag der Deutschen im Winter vor Moskau; er war bei den Truppen an der Südfront und erlebte fast die ganze Schlacht von Stalingrad; er berichtete über die Schlacht von Kursk im Sommer 1943, und er war dabei, als die sowjetischen Truppen bis Ende Oktober 1943 die deutschen Besatzer aus der Ukraine östlich des Dnjepr, der „linksufrigen Ukraine“ vertrieben. Im Spätsommer und Herbst 1943, noch vor der Einnahme Kiews am 7. November, machte Grossman in dieser Region die Beobachtungen, die er in seiner Reportage „Ukraine ohne Juden“ verarbeitet hat.

Fast zwei Jahre hatten sich diese Gebiete unter deutscher Herrschaft befunden, zum kleineren Teil waren sie dem Reichskommissariat Ukraine unter Erich Koch zugeschlagen gewesen, zum größeren hatten sie unter Militärverwaltung gestanden (4).

Hier wie dort war die Bevölkerung einem grausamen und extrem gewalttätigen Besatzungsregime ausgesetzt. Ihre Behandlung als „Untermenschen“, das Massensterben der Kriegsgefangenen, Hunger und Ausbeutung, Massendeportationen zur Zwangsarbeit nach Deutschland, Morde an politischen Opponenten, Psychiatriepatienten, Roma, Juden hinterließen eine „Ernte der Verzweiflung“ (5), mit der Grossman unmittelbar konfrontiert wurde, als er mit der vorrückenden Roten Armee in die Ukraine kam: „Alte Männer laufen unseren Truppen entgegen, wenn sie russische Laute vernehmen. Sie weinen stumm vor sich hin und bringen kein Wort heraus. Weise alte Bäuerinnen sagen mit stillem Staunen: Wir dachten, wir würden lachen und singen, wenn wir unsere Armee wiedersehen, aber es ist so viel Trauer in unseren Herzen, dass unsere Tränen fließen‘.“ (6) Diese aus der Erfahrung der deutschen Besatzung erwachsene bedrückende Stimmung kennzeichnet Grossmans Bericht von einer Erkundung, die schrittweise etwas noch Bedrückenderes zutage förderte: das absolute Schweigen, die tödliche Stille überall da, wo einst jüdisches Leben die Ukraine geprägt hatte.

Was Grossman 1943 als erschütternde Abwesenheit begegnete, hat die zeithistorische Forschung eingehender erst in den letzten Jahren analysiert: Von den 1,4 Millionen Juden, die in der Ukraine 1941 unter deutsche Herrschaft gerieten, haben nur verschwindend wenige überlebt (7). Die ermordeten Juden der Ukraine machen nahezu ein Viertel der Gesamtzahl der Opfer des Holocaust aus, der sich dort vor allem in den östlichen Gebieten, um die es hier geht, in rasendem Tempo vollzog. „Östlich von Kiew“, so der Befund von Dieter Pohl, „waren die meisten jüdischen Gemeinden mit Ausnahme weniger Arbeiter schon unter der Militärverwaltung restlos ausgerottetworden.“ (8) Im Spätsommer 1942 wurden zum letzten Mal ukrainische Gebiete von der deutschen Militär- in die Zivilverwaltung überführt. Über ein Jahr, bevor Grossman mit der Roten Armee in die Ostukraine kam, hatten also SS, Polizei, Wehrmacht und einheimische Kollaborateure dort bereits ihr mörderisches Werk vollendet.

Grossmans Spurensuche war für ihn zugleich eine Rückkehr in einstmals vertraute Gefilde. Er war am 12. Dezember 1905 in der südwestlich von Kiew gelegenen ukrainischen Stadt Berditschew geboren worden, deren Bevölkerung damals zum Großteil aus Juden bestand. Noch 1926 stellten sie mit mehr als 30000 weit über die Hälfte der Einwohnerschaft. Mehr als 90 Prozent der Berditschewer Juden gaben zu diesem Zeitpunkt Jiddisch als Muttersprache an (9).Grossmans Eltern gehörten zur jüdischen Intelligenz. Der Vater war Chemiker, ein Beruf, den Grossman vor seiner literarischen Karriere ebenfalls ausübte -, die Mutter Französischlehrerin. In den Jahren 1930 bis 1932 hatte Grossman in der Bergbauindustrie des ostukrainischen Donbass gearbeitet. Auch sein erster bedeutender literarischer Erfolg, der ihm prompt die Aufmerksamkeit und Unterstützung Maxim Gorkis eintrug, hatte einen heimatlichen Bezugspunkt: Es handelt sich um die Erzählung „In der Stadt Berditschew“, die 1967 von Alexander Askoldow kongenial verfilmt wurde (10). Darin schilderte Grossman, wie eine schwangere Kämpfer in der Roten Armee zur Zeit des sowjetisch-polnischen Krieges 1920 bis zur Niederkunft bei einer jüdischen Familie einquartiert wird und nicht nur mit ihr unbekannten Seiten der eigenen Weiblichkeit, sondern auch mit der Welt der jüdischen Kleinhandwerker konfrontiert wird, wie sie zu dieser Zeit noch Tausende von Städten, Schtetln und Dörfern Osteuropas prägte. Grossman war allerdings kein jüdischer Schriftsteller, etwa in der Nachfolge eines Scholem Alejchem. Er war assimiliert und säkular eingestellt; er schrieb russisch und orientierte sich an der Tradition des russischen Realismus, insbesondere an Tolstoj und Tschechow.

Grossmans Eltern hatten sich früh getrennt. Bei Kriegsbeginn lebte er, ebenso wie sein Vater, in Moskau, seine Mutter aber weiterhin in Berditschew. Dass es ihm nicht gelungen war, sie rechtzeitig zu sich nach Moskau zu holen, blieb für Grossman lebenslang eine seelische Last. Berditschew wurde bereits am 7.Juli 1941 von deutschen Truppen besetzt. Am 15.September 1941 wurde der Großteil der jüdischen Bevölkerung der Stadt in einem vom Höheren SS- und Polizeiführer Russland Süd, Friedrich Jeckeln, organisierten Massaker ermordet. Im Sommer des folgenden Jahres wurden auch noch die letzten Überlebenden erschossen. Grossman selbst hat diese Vorgänge später für das „Schwarzbuch“ über den Genozid an den sowjetischen Juden rekonstruiert (11). Zu dem Zeitpunkt, als er die Reportage „Ukraine ohne Juden“ schrieb, stand Berditschew noch unter deutscher Besatzung. So konnte er sich noch nicht die letzte Gewissheit darüber verschaffen, ob die ihn seit langem begleitende Ahnung, dass er seine Mutter nicht mehr wiedersehen werde, der Wirklichkeit entsprach (12). In einer ähnlichen seelischen Verfassung waren wohl viele der Leser von Grossmans Reportage, deren russische Manuskriptfassung ins Jiddische übersetzt und in zwei Folgen am 25. November und 2. Dezember 1943 in der Zeitung „Ejnikajt“ („Einheit“) des Jüdischen Antifaschistischen Komitees (JAFK) der Sowjetunion veröffentlicht wurde (13). Grossman sprach sie direkt an, aber es gibt Hinweise, dass die Publikation in der „Ejnikajt“ vor allem deshalb erfolgte, weil er die Reportage aus politischen Gründen nicht in einem der russischsprachigen Organe unterbringen konnte, für die er sonst schrieb (14). Und auch hier erschien offenbar nicht der vollständige Text; eine angekündigte Fortsetzung unterblieb aus unbekannten Gründen (15). Die Publikation brachte Grossman jedenfalls in engeren Kontakt mit dem JAFK.

Die Ursprünge dieses offiziell erst am 23. April 1942 gegründeten Komitees reichen in die ersten Wochen des deutsch-sowjetischen Krieges zurück. Es sollte zunächst vor allem die Solidarität der Juden in der angelsächsischen Welt mit der kämpfenden Sowjetunion fördern und stand unter Kontrolle der Propagandaabteilung des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei. Zunehmend wuchsen ihm aber weitere gesellschaftliche Aufgaben zu (16). Dazu gehörte die Herausgabe einer Zeitung in jiddischer Sprache, auf deren Notwendigkeit Vertreter des späteren JAFK schon 1941 mit dem Argument hingewiesen hatten, dass es für die zahlreichen jüdischen Flüchtlinge und Evakuierten aus den westlichen Ge- bieten der Sowjetunion, die nur Jiddisch verstanden, keine Zeitung gab. Die jüdische Presse der besetzten Gebiete existierte nicht mehr und die zentrale sowjetische jiddische Zeitung „Der Eines“ war im Januar 1939 eingestell tworden (17). Neben den kulturell-politischen Bedürfnissen der „breiten jüdischen Massen“ im Lande betonten Solomon Michoels, der künftige Präsident des JAFK, und seine Mitstreiter die große propagandistische Wirkung, die eine in Moskau produzierte jiddische Zeitung auch im Ausland ausüben könne (18). Die Argumente verfehlten ihre Wirkung auf die sowjetische Propagandaverwaltung nicht, zugleich war diese aber bemüht, das Zeitungsprojekt in relativ engen Grenzen zu halten: Am 27. April 1942 wurde ein Blatt mit zehntausend Stück Auflage bei dreimal monatlichem Erscheinen im halben Format der „Prawda“ genehmigt (19). Trotz dieser Einschränkungen wurde die ab 7. Juni1 942 erscheinende Zeitung schnell zur „Schaltstelle für den Kontakt zwischen den Juden im Hinterland und an der Front“ (20).

In dem Blatt fanden sich auch regelmäßig Nachrichten über die nationalsozialistischen Judenverfolgungen. Grossmans Reportage stach dabei aber deutlich heraus21. Neben sei- nen journalistischen und schriftstellerischen Qualitäten zeichnet diesen Text die präzise Herausarbeitung der singulären totalen MassenVernichtung der Juden im Kontext einer generell extrem gewalttätigen Besatzungsherrschaft aus. Grossman führt als besonders schreckliches Beispiel für diese das Massaker im Dorf Kosary vom 11. März 1943 an. Bei dieser von Polizeieinheiten zusammen mit ukrainischen Kollaborateuren durchgeführten Mordaktion an nichtjüdischen Bewohnern der Ukraine einer der,wenn nicht der größten – überhaupt wurde das ganze Dorf ausgelöscht. Zirka 4000 Einwohner wurden getötet, nur – wenige überlebten (22). Grossman schildert das zerstörte Kosary und erläutert, dass der Massenmord, wie ihn die Okkupanten und ihre ukrainischen Kollaborateure hier verübt hatten, das Regelschicksal war, das die Deutschen den ukrainischen Juden zugedacht hatten.

Mit seiner differenzierten Betrachtung der nationalsozialistischen Besatzungs- und Vernichtungspolitik stand er in klarem Gegensatz zu den offiziellen sowjetischen Interpretationsmustern. Zwar hatte Außenminister Molotow bereits in seiner umfangreichen Zirkularnote über deutsche Verbrechen im besetzten Gebiet vom 6.Januar 1942 unter anderem die Massenerschießungen von Juden in Lemberg, Odessa, Kamenez-Podolskij, Dnjepropetrowsk, Mariupol und Kertsch angeklagt (23), aber schon in der folgenden Note vom 27.April 1942 war nur noch von friedlichen sowjetischen Bürgern die Rede und die zielgerichteten Morde an Juden wurden nicht mehr erwähnt (24). Und obwohl die Sowjetunion zu den Unterzeichnern der Interalliierten Erklärung zur Vernichtung der Juden vom 17.Dezember 1942 gehörte,werden darin bemerkenswerterweise nur die Deportationen von Juden aus deutsch besetzten Ländern nach Osteuropa und die Liquidierungen der Ghettos im besetzten Polen erwähnt, nicht aber die Massenmorde an den sowjetischen Juden (25). Die sowjetische Zurückhaltung, wenn es darum ging, den Holocaust beim Namen zu nennen, ist nicht allein darauf zurückzuführen, dass der Besatzungsterror gegen die sowjetische Bevölkerung generell extreme und – denkt man an das Massensterben der Kriegsgefangenen und die Hungerblockade gegen die Bevölkerung Leningrads – teilweise geradezu genozidale Ausmaße annahm, und auch nicht nur darauf, dass die Sowjetregierung darauf bedacht war, der nationalsozialistischen Propaganda vom jüdischen Bolschewismus keine Anhaltspunkte zu geben (26). Vielmehr setzte bereits ab 1942, vor allem aber nach den großen Siegen des Jahres 1943 die antisemitisch-nationalistische Metamorphose des Stalinregimes ein, die den letzten Jahren der Herrschaft des sowjetischen Diktators dann ihr bezeichnendes Gepräge verlieh. So war schon in der zweiten Jahreshälfte 1942 eine antisemitische Personalpolitik im Kulturbereich eingeleitet worden (27), und nach dem Sieg von Kursk war ein Aufblühen des russischen Nationalismus zu beobachten (28).

Damit ging eine Umdeutung der nationalsozialistischen Besatzungspolitik einher, wie sie etwa in dem Kriegsverbrecherprozess, der vom 15. bis 18. Dezember 1943 in Charkow stattfand und als Schauprozess angelegt war (29),deutlich zum Ausdruck kam. Die 12000 bis 15000 Charkower Juden, die zunächst im Barackenlager der dortigen Traktorenfabrik interniert und bald darauf erschossen und zu einem kleinen Teil in Gaswagen erstickt worden waren (30), wurden im Urteil des Prozesses zu nicht näher qualifizierten „Zivilisten“ (31) – obwohl im Protokoll der Außerordentlichen Kommission für die Stadt Charkow zur Untersuchung der dortigen Verbrechen vom 5. September 1943 der Vorgang noch eindeutig als eine gegen die Juden der Stadt gerichtete Vernichtungsaktion geschildert worden war (32). Der Angeklagte Reinhard Retzlaw, Angehöriger der Geheimen Feldpolizei, sagte vor dem Militärtribunal der 4. Ukrainischen Front aus, in seiner Ausbildung darüber instruiert worden zu sein, „dass das Sowjetvolk als minderwertige Rasse ausgerottet werden müsse“ (33), und in einem Leitartikel der „Prawda“ vom 16. Dezember 1943 zu dem Prozess hieß es: „Das deutsche Kommando hatte in seinen Militärschulen und Instituten besondere Lehrgänge eingeführt über die Notwendigkeit, die überwiegende Mehrheit der Sowjetbevölkerung auszurotten – besonders das russische und das ukrainische Volk.“ (34)

Die Ermordung der Juden wurde in der sowjetischen Propaganda keineswegs abgestritten, aber sie wurde als Bestandteil eines gegen die gesamte sowjetische Bevölkerung gerichteten Programms dargestellt (35). Es handelte sich nicht um eineLeugnung, wohl aber um eine „Einebnung“ des Holocaust und eine Verschleierung seiner antisemitischen Spezifik. Die Deutungsspielräume, die während und unmittelbar nach dem Krieg noch existierten, und die es ermöglichten, dass Grossman 1944 in der Zeitschrift „Snamja“ („Das Banner“) einen eindringlichen Bericht über das Vernichtungslager Treblinka publizieren konnte, in dem dessen Funktion im Holocaust klar herausgearbeitet wurde (36), wurden im Zuge der immer massiveren antisemitischen Metamorphose des sowjetischen Regimes in den letzten Lebensjahren Stalins (37) beseitigt. Ende 1947 wurde die Publikation des „Schwarzbuchs“ über den Genozid an den sowjetischenJuden, an dem Grossman ab 1944 maßgeblich mitgearbeitet hatte, untersagt. Der Chef der Propaganda-Abteilung des ZK der sowjetischen KP, Alexandrow, stieß sich daran, dass das Buch nicht der These von der gleichmäßigen Verfolgung aller sowjetischen Nationalitäten durch die deutschen Besatzer entsprach38. Im Januar 1948 wurde Solomon Michoels auf Geheiß Stalins in einem fingierten Autounfall ermordet. Ende November 1948 wurden das JAFK und die Zeitung „Ejnikajt“ auf Beschluss des Politbüros aufgelöst, die meisten Führungsmitglieder des Komitees wurden bald darauf festgenommen, 1952 standen 14 von ihnen vor Gericht, 13 wurden zum Tode, eine Angeklagte wurde zu einer fünfjährigen Verbannungsstrafe verurteilt (39). Die antisemitische Propaganda und insbesondere die Kampagne gegen die angeblichen jüdischen „Mörderärzte“ im Kreml Anfang 1953 verhießen nichts Gutes für das Schicksal der sowjetischen Juden. Der Tod Stalins am 5. März 1953 setzte jedoch dieser bedrohlichen Entwicklung ein Ende.

Grossman hatte in dieser Zeit den ersten Band seiner großen Stalingrad-Dilogie unter dem Titel „Für die gerechte Sache“ abgeschlossen (40). Dem Erscheinen in der Zeitschrift „Nowij mir“ im zweiten Halbjahr 1952 war ein langes Ringen mit Auflagen und Zensureingriffen vorausgegangen. Die Ermordung der Juden konnte er in diesem Werk nur in Randbemerkungen und in geradezu subversiver Verschlüsselung ansprechen (41). Der zweite Band der Dilogie, der heute weltbekannte Roman „Leben und Schicksal“, konnte in der Sowjetunion erst in der Perestrojka-Äraerscheinen, lange nach dem Tod des Autors, der am 15. September 1964 in Moskau einem Magenkrebsleiden erlag. Die Beschlagnahme des Manuskripts von „Leben und Schicksal“ durch den KGB im Februar 1961 und der vergebliche Kampf um „Freiheit für mein Buch“ (42) hatten zur Zerrüttung der Gesundheit Grossmans erheblich beigetragen. Erst 1980 erschien der Roman auf Russisch in einem Exilverlag in Lausanne. Die Grundlage dafür war ein aus der Sowjetunion hinausgeschmuggeltes, mikroverfilmtes Manuskript (43). In diesem epischen Werk hatte Grossman auf sowjetische Tabus keinerlei Rücksicht mehr genommen. Der „Große Vaterländische Krieg“ erscheint hier als ein paradoxer Kampf um die Freiheit, der zugleich die blutige Diktatur Stalins festigte. Der Gulag wird ebenso geschildert wie die nationalsozialistischen Konzentrationslager, und der Holocaust in erschütternder Weise vergegenwärtigt und zugleich analytisch in den Kontext des Krieges eingeordnet. Und nicht zuletzt beschreibt Grossman hier das Aufkeimen der antisemitischen Tendenzen des siegreichen stalinistischen Regimes, auf die die jahrzehntelange Unterdrückung der Wahrheit über den Holocaust in der Sowjetunion zurückzuführen ist, einer Wahrheit, die Grossman schon 1943 in seiner Reportage für die „Ejnikajt“ klar ausgesprochen hatte.

Jürgen Zarusky

Wassili Grossman: Ukraine ohne Juden

Wenn unter Kanonendonner und beim Geräusch explodierender Granaten unsere Truppen in die Dörfer der linksufrigen Ukraine einmarschieren, steigen die Flausgänse, mit ihren großen weißen Flügeln schlagend, in die Luft auf. Sie kreisen über den Hütten, über den mit grünen Wasserlinsen bedeckten Bächen, über den Blumen- und Gemüsegärten.

Es ist etwas Unheimliches in diesem schweren Flug des Geflügels, in seinem scharfen, aufgeregten und bitteren Schrei als ob er die Rotarmisten auffordern würde, hinzuschauen auf die kummervollen, schrecklichen Bilder des Lebens. Es scheint, als ob sich die Vögel über die Ankunft unserer Truppen freuen würden, und zugleich weinen und stöhnen sie, sie schreien angesichts des schrecklichen Kummers, der unermesslichen Verluste, der Tränen und des Blutes, von denen die ukrainische Erde grau und salzig geworden ist.

Seit ich als Sonderkorrespondent der „Krasnaja Swesda“ arbeite, war ich in sehr vielen ukrainischen Städten und Dörfern. Ich war in Starobelsk, Swatowo, Kupjansk und Walujki, in Woroschilowgrad, Rrasnodon, Neschin, Gluchow und Krolewez, in Tschernigow, Koselez, Astrog, Jagotin, Borispol, Baturin… Ich war in Hunderten von Dörfern, Weilern, Siedlungen und Fischerstädtchen an der Desna und am Dnjepr, in Gehöften, die von der Steppe umgeben sind, in heruntergekommenen Hütten von Pechsiedern, die alleine leben in der ewigen Finsternis der Kiefernwälder, in märchenhaften Dörfern, wo man die Strohdächer nur mit Mühe unter dem satten Grün der Obstgärten entdecken kann.

Wollte man all die Geschichten und all die Bilder zusammenfassen, die wir in den Tagen und Monaten, die wir in der Ukraine verbrachten, gehört und gesehen haben, ergäbe das ein schreckliches Buch über unvorstellbare Gräueltaten über Sklavenarbeit, über enorme Zwangsabgaben, über Kinder, die nach Deutschland verschleppt wurden, über niedergebrannte Häuser, über geplünderte Kornkästen, über Galgen auf Plätzen und an Straßen, über die Gräben, in denen man Menschen schon beim leisesten Verdacht einer Verbindung mit den Partisanen erschoss, über Beleidigungen, Hohn, Schimpfworte, über Bestechlichkeit, Sauferei und Willkür, über die rohe Sittenverderbnis der Verbrecher, die für die Dauer von zwei Jahren über das Schicksal, das Leben, die Ehre und das Eigentum des viele Millionen zählenden ukrainischen Volkes entschieden. In keiner ukrainischen Stadt, in keinem Dorf, gibt es ein Haus, wo nicht Worte der Entrüstung über die Deutschen zu hören wären, wo während dieser zwei Jahre keine Tränen vergossen worden wären, wo der deutsche Faschismus nicht verflucht würde, kein Haus ohne Witwen und Waisen. Diese Tränen und Flüche ergießen sich als Zuflüsse in den großen Strom des Kummers und des Zorns des Tag und Nacht wälzt sich sein schreckliches und leidvolles Tosen unter dem vom Volkes Rauch der Brände schwarz gefärbten ukrainischen Himmel dahin.

Aber es gibt in der Ukraine Dörfer, in denen man keine Klagen hört und keine ausgeweinten Augen sieht, wo Stille und Ruhe herrschen. In so ein Dorf kam ich zweimal. Das erste Mal am 20. September, das zweite Mal am 17. Oktober 1943. Dieses Dorf liegt an der alten Straße nach Kiew zwischen Neschin und Koselez. Beim ersten Mal war ich dort während des Tages, beim zweiten Mal an einem traurigen Herbstabend. Und beide Male herrschte in Kosary Stille, eine tödliche Stille. Siebenhundertfünfzig Häuser hatten die Deutschen hier am Vorabend von Ostern niedergebrannt. Siebenhundertfünfzig Familien starben im Feuer. Nicht ein Kind, nicht eine alte Frau, niemand ist lebend aus dieser Feuersbrunst herausgekommen. So rechneten die Faschisten mit einem Dorf ab, das Partisanen hereingelassen hatte. Hohes, staubiges Steppengras ist auf der Brandstätte gewachsen. Die Brunnen sind voller Sand, die Gemüsegärten alle von Unkraut überwuchert, und nur hier und da leuchtet eine Blume auf. Es gibt niemanden in Kosary, der sich beklagen oder eine Träne verlieren könnte; still liegen die toten Körper, die in den Höfen inmitten des Steppengrases begraben sind. Diese Stille ist schrecklicher als Tränen und Flüche, furchtbarer als Stöhnen und Schmerzensschreie.

Und ich dachte mir, dass genau so, wie Kosary schweigt, auch die Juden in der Ukraine schweigen. Es gibt keine Juden in der Ukraine. Überall – in Poltawa, Charkow, Krementschug, Borispol, Jagotin – in allen Städten und Hunderten von Schtetln, in Tausenden von Dörfern begegnet man keinen schwarzen verweinten Mädchenaugen, hört man nicht die grammvolle Stimme einer alten Frau, sieht man nicht das dunkle Gesichtchen eines hungrigen Kindes. Schweigen. Stille.

Ein Volk wurde meuchlerisch ermordet. Ermordet wurden alte Handwerker, erfahrene Meister ihres Faches – Schneider, Mützenmacher, Schuster, Kupferschmiede, Juweliere, Anstreicher, Kürschner, Buchbinder; ermordet wurden Arbeiter – Gepäckträger, Mechaniker, Elektriker, Tischler, Maurer, Schlosser; ermordet wurden Fuhrleute, Traktoristen, Kraftfahrer, Holzarbeiter; ermordet die Kutscher, Müller, Bäcker, Köche; ermordet die Ärzte – Therapeuten, Zahntechniker, Chirurgen, Gynäkologen; ermordet die Gelehrten – Bakteriologen und Biochemiker, Direktoren von Universitätskliniken, Lehrer der Geschichte, Algebra und Trigonometrie; ermordet wurden Privatdozenten, Lehrstuhlassistenten, Doktoren und Habilitierte aller möglichen Wissenschaften; ermordet wurden Ingenieure – Metallurgen, Brückenbauer, Architekten, Lokomotivenkonstrukteure; ermordet wurden Buchhalter, Rechnungsführer, Handelsangestellte, Beschaffungsagenten, Sekretäre, Nachtwächter; ermordet wurden Lehrerinnen und Näherinnen; ermordet wurden Großmütter, die Strümpfe stricken und köstliches Gebäck herstellen konnten, die wussten, wie man eine Bouillon oder Strudel mit Nüssen und Äpfeln zubereitet, und ermordet wurden Großmütter, die keineswegs gewandt in allen Dingen waren – sie vermochten nicht mehr, als ihre Kinder zu lieben und die Kinder ihrer Kinder; ermordet wurden Frauen, die ihre Männer treu liebten, und ermordet wurden leichtsinnige Frauenzimmer; ermordet wurden hübsche Mädchen, gelehrte Studentinnen und fröhliche Schülerinnen; ermordet wurden die Hässlichen und die Dummen; ermordet wurden die Buckligen, ermordet wurden Sängerinnen, ermordet wurden Blinde, ermordet wurden Taubstumme, ermordet wurden Geiger und Pianisten, ermordet wurden Zweijährige und Dreijährige, ermordet wurden achtzigjährige Greise mit vom grauen Star getrübten Augen, mit kalten, durchsichtigen Fingern und leisen Stimmen wie raschelndes Papier, und ermordet wurden schreiende Säuglinge, die bis zu ihrer letzten Minute gierig an der Mutterbrust saugten. Alle wurden ermordet viele Hunderttausende, Millionen von Juden in der Ukraine. Es geht hier nicht um den Tod im Krieg, mit der Waffe in der Hand, nicht um den Tod von Menschen, die irgendwo ein Haus, eine Familie, ein Feld, Lieder, Bücher, Traditionen, eine Geschichte zurücklassen. Es geht um die Ermordung eines Volkes, die Ermordung des Flauses, der Familie, der Bücher, des Glaubens. Es geht um die Ermordung eines Lebensbaumes, um das Absterben der Wurzeln, nicht nur der Zweige und Blätter. Es geht um die Ermordung der Seele und des Körpers einesVolkes, die Ermordung eines großartigen Schatzes von Fertigkeiten, der von Tausenden klugen, talentierten Meistern ihres Faches und Geistesarbeitern in vielen Generationen angehäuft wurde. Es geht um die Ermordung der Moral und der Traditionen einesVolkes, seiner fröhlichen Überlieferungen, die von den Großvätern auf die Enkel übergingen. Es geht um die Ermordung der Erinnerungen und traurigen Lieder, der Volkspoesie über das heitere und bittere Leben.Es geht um die Zerstörung der häuslichen Nester und der Friedhöfe.Es geht um die Vernichtung eines Volkes, das Jahrhunderte mit dem ukrainischenVolk nachbarschaftlich zusammengelebt, mit ihm zusammen gearbeitet und Freud und Leid auf ein und derselben Erde mit ihm geteilt hat.

In allen Büchern unserer großen Schriftsteller, die das Leben der Ukraine zeichnen, in den Werken Gogols, Tschechows, Korolenkos und Gorkis, in denen von traurigen und schrecklichen Zeiten die Rede ist, oder von stillen und friedlichen, in Gogols „Taras Bulba“, in der „Steppe“ Tschechows, in den wunderbaren und reinen Erzählungen Korolenkos – überall werden die Juden erwähnt. Und anders kann es auch nicht sein! Alle, die wir in der Ukraine geboren und aufgewachsen sind, sind mit den Bildern vom Leben des jüdischen Volkes in seinen Städten und Dörfern groß geworden. Erinnert euch an die Sabbat-Tage, an die Alten mit den Gebetsbüchern in der Hand, an die stillen Frühlingsabende; erinnert euch an diese alten Leute, wie sie im Kreis stehen und Gespräche voller Weisheit führen; erinnert euch an die bedächtigen Schuster aus den Schtetln, wie sie in ihren Häuschen auf niedrigen Bänkchen sitzen; erinnert euch an die naiven, spaßigen Schilder über den Türen der Schlosser- und Schusterwerkstätten; erinnert euch an die mit Mehlstaub bedeckten Rollkutscher mit ihren sackleinen Schürzen, die alten Großmüßßer in ihren langen Röcken, die mit Buchläden Karamellbonbons und Äpfel feilboten, die schwarzäugigen, gelockten Kinderchen, die herumliefen und im Sand buddelten – zwischen ihren Köpfen die hellen Köpfchen ihrer ukrainischen Freunde, die Blumen, die von der freigebigen Hand des Lebens über die reiche und gesegnete ukrainische Erde verstreut wurden. Hier haben unsere Großväter gelebt, hier haben uns unsere Mütter zur Welt gebracht, hier wurden die Mütter unserer Söhne geboren. Hier wurde so viel jüdischer Schweiß, wurden so viele jüdische Tränen vergossen, dass wohl niemandem der Gedanke kommt, den Juden als Gast auf fremder Erde zu betrachten.

Und nun habe ich diese Erde durchfahren und durchwandert vom nördlichen Donez zum Dnepr, von Woroschilowgrad im Donbass bis Tschernigow an der Desna. Ich bin zum Dnepr hinuntergestiegen und habe auf Kiew geschaut. In der ganzen Zeit habe ich nur einen Juden getroffen. Das war Leutnant Schlomo Kiperschtejn, der im September 1941 in der Nähe von Jagotin mit seiner Einheit in einen Kessel geriet. Seine heutige Ehefrau, die Bäuerin Wasilina Sokur, erklärte, er sei Moldawien Mehr als einmal hat man sie zur Gestapo geschleppt. Zweimal wurde sie verprügelt: Die Deutschen argwöhnten, ihr Man sei Jude. Doch sie bestand auf ihrer Version – ihr Mann heiße Stepan, sein Familienname sei Nowak. Ich habe mit ihm gesprochen, bin einen ganzen Abend mit ihm zusammengesessen und habe seinen Erzählungen zugehört, und wir alle – Kiperschtejn, seine Frau und die Bauern aus der Nachbarschaft – haben uns darüber gewundert, dass dieser Kiperschtejn am Leben ist, dass er nicht ermordet wurde. Weitere Juden habe ich in der Ukraine nicht getroffen. Bekannte haben mir erzählt, sie hätten in Charkow und Kursk Juden gesehen. Der Schriftsteller Ehrenburg hat mir mitgeteilt, dass er ein junges jüdisches Mädchen, eine Partisanin, in einem der Bezirke der nördlichen Ukraine getroffen habe. Und das ist alles.

Wo sind die Hunderttausende von Juden, die Greise und Kinder? Wo sind eine Million Menschen hingeraten, die drei Jahre zuvor friedlich mit den Ukrainern zusammengelebt haben, auf dieser Erde gelebt und gearbeitet haben?

Es hat keinen Sinn und es ist auch unmöglich, all die Juden mit Namen zu nennen, die von den Faschisten vernichtet worden sind. Denn alle Ermordeten sind in gleichem Maße schuldlos. Sie alle kann man in eine traurige Liste aufnehmen. Sowohl die Weltberühmten, als auch die Jüdinnen aus den abgelegenen Schtetln, die nur mit Mühe ihr jiddisches Gebetbuch lesen konnten. Warum sollte man die einen erwähnen und die anderen nicht? Aber es ist doch unmöglich, Hunderttausende namentlich aufzuzählen! Es hat keinen Sinn und es ist auch niemand in der Lage, all die Orte zu nennen, wo im Herbst 1941 und im Sommer 1942 die Massenmorde an den Juden stattfanden. In jeder großen und jeder kleinen Stadt, in jedem Schtetl – überall fanden Massaker statt. Wenn in einem Schtetl hundert Juden lebten, dann wurden hundert ermordet, alle einhundert und keiner weniger; wenn in einer großen Stadt 55 000 Juden lebten, so ermordete man 55 000 und keinen weniger. Wir unterstreichen, dass die Ausrottung nach genauen, skrupulös zusammengestellten Listen vollzog, dass in diesen Listen weder die hundertjährigen Greise noch die Säuglinge ausgelassen wurden. In diese Todeslisten wurde alle Juden eingetragen, die die Deutschen in der Ukraine antrafen – jeder einzelne.

Die Ermordung der jüdischen Bevölkerung ging nach einem bestimmten Muster vor sich, entsprechend einer genauen Anweisung, in der angegeben war, wie man einen Alten tötet, der sich gerade noch auf den Beinen halten kann und wie man die Seele aus einem Kindchen herausprügelt, das noch keinen einzigen eigenen Schritt gemacht hat.

In Hunderten von Städten wurde zur ein und derselben Zeit befohlen, die Juden in Ghettos zu treiben. Dann wurden sie angewiesen, sich zu versammeln, je 15 Kilogramm Gepäck mitzunehmen, und man führte sie aus der Stadt hinaus. Dort wurden sie mit Maschinengewehren erschossen. Zufällige Zeugen dieser Massenmorde sind noch heute, nach zwei Jahren, angesichts dieses Albtraums völlig fassungslos. Blut tropft ihnen aus den Augen, wenn sie sich an diese Bilder des Schreckens und des Wahnsinns erinnern.

Es ist unmöglich, all jene Obersten, Generäle, Majore, Hauptleute und Leutnants der deutschen Wehrmacht aufzuzählen, all die Gestapoleute, die die Ermordung der jüdischen Bevölkerung organisierten. Es ist unmöglich, all jene Soldaten, Gefreiten, Obergefreiten, Unteroffiziere, Gendarmen und Polizisten aufzuzählen, die diesen Mord ausführten.

In den besetzten Gebieten strafen und morden die Deutschen schon für das kleinste für die Aufbewahrung eines Dolches oder eines zu nichts mehr zu gebrauchenden Revolvers, mit dem die Kinder spielen, für ein vorlautes Wort, das dem Mund entschlüpft,für denVersuch, das eigene, von den Faschisten angezündete Haus zu löschen, für die Weigerung, nach Deutschland zur Zwangsarbeit zu fahren, für einen SchluckWasser, den man einem Partisanen gegeben hat – für all das verlieren Tausende von Geiseln ihr – Leben; erschossen wird jeder Passant, der sich nicht vor einem deutschen Offizier verbeugt. Aber die Deutschen vernichteten die Juden allein deshalb, weil sie Juden waren. Für die Deutschen gibt es keine Juden, die das Recht hätten, auf Erden zu existieren. Jude zu sein ist das aller größte Verbrechen, und dafür wird man umgebracht. Also haben die Deutschen alle Juden in der Ukraine ermordet. Und so haben sie die Juden in vielen anderen Ländern Europas ermordet.

Vor allem wurden die Greise und Greisinnen, die Kranken und die Kinder vernichtet. Das kam daher, weil sich die arbeitsfähigen Männer und Frauen sowie die Jugend der Evakuierung hatten anschließen können; sie zogen sich zusammen mit der Roten Armee zurück, sie kämpften an den Fronten oder arbeiten in der Verteidigung. In der Ukraine blieben nur jene zurück, die physisch nicht in der Lagewaren, wegzugehen. Ihnen – den Alten, Kranken und Kindern – haben die Deutschen ein Blutbad bereitet und alle ohne Ausnahme ausgerottet.

Seit Bestehen der Menschheit hat es kein solch unerhörtes Massaker, keine solche organisierte Massenausrottung vollkommen unschuldiger, schutzloser Menschen gegeben. Das ist das größte Verbrechen, das die Geschichte kennt – und die Menschheit kennt doch nicht wenige Übeltaten. Weder Herodes, noch Nero, noch Caligula, noch die tatarischen Chane – niemand hat so viel Blut auf der Erde vergossen, niemand hat solche Verbrechen begangen. Denn hier geht es wirklich um die Ausrottung eines ganzen Volkes, um die Vernichtung von Millionen Kindern, Frauen und Alten.

Das menschliche Gehirn hat eine unglückselige oder vielleicht auch eine glückliche Eigenschaft: Wenn wir in der Zeitung über den Untergang von Millionen gelesen oder davon aus dem Radio erfahren haben, können wir das Geschehen nicht erfassen, nicht bewusst begreifen. Wir sind nicht in der Lage, uns die Tragödie, die sich ereignet hat,vorzustellen, sie vor unserem geistigen Auge abrollen zu lassen und ihre Tiefe zu ermessen. Ein Mensch, der zufällig einen Blick in eine Leichenhalle geworfen oder gesehen hat, wie ein Lastwagen eine achtjährige Schülerin überfahren hat, ist einige Tage nicht ganz er selbst, kann nicht schlafen und hat keinen Appetit. Aber es gibt keinen Menschen mit einem so vibrierenden Herzen, einem solch einfühlsamen Verstand, mit solch einer Vorstellungskraft, mit einem so gewaltigen Gefühl für Humanität und Gerechtigkeit, dass er imstande wäre, den Albtraum dessen, was geschehen ist, zu ermessen, wenn er davon in einem Buch oder in der Zeitung gelesen hat. Diese Beschränktheit ist auch eine glückliche Eigenschaft des menschlichen Bewusstseins, sie schützt die Menschen vor moralischer Qual und davor, den Verstand zu verlieren. Zugleich ist diese Beschränktheit auch eine unglückliche Eigenschaft unseres Bewusstseins: Sie macht uns leichtsinnig, erlaubt es uns (wenn auch nur für einen Augenblick), die größte Untat der Welt zu vergessen.

Aber mir scheint, dass es in dieser grausamen und schrecklichen Zeit, in der unsere Generation dazu verurteilt ist, auf der Erde zu leben, nicht erlaubt ist, sich mit dem Verbrechen abzufinden, dass es nicht angeht, gleichgültig und sich selbst und anderen gegenüber moralisch anspruchslos zu sein.

Wassili Grossman


Fußnotenapparat:

(1) Ich danke Herrn Fedor Gouber, Baden-Baden, und der Erbengemeinschaft Grossman für die Genehmigung zur Publikation der deutschen Version von „Ukraine ohne Juden“ sowie Frau Verena Brunei für hilfreiche Hinweise bei der Übersetzung.
(2) Im Interesse der besseren Lesbarkeit von Grossmans Text wird hier statt der wissenschaftlichen Transliteration die Transkription verwendet, die auf Sonderzeichen verzichtet. Zitierte Titel in den Fußnoten werden aus Gründen der Exaktheit hingegen in der Transliteration wiedergegeben.
(3) Vgl. die Auswahl von Grossmans Kriegsaufzeichnungen: Antony Beevor, Ein Schriftsteller im Krieg.Wassili Grossman und die RoteArmee 1941-1945.Unter Mitarbeit von Lubov Vinogradova, München2007.
(4) Vgl. die Karte bei Karel C. Berkhoff, Harvest of Despair. Life and Death in Ukraine under Nazi Rule, Cambridge u. a. 2004, S. XVI, und Dieter Pohl, Die Herrschaft der Wehrmacht. Deutsche Militärbesatzung und einheimische Bevölkerung in der Sowjetunion 1941-1944, München 2008, S. 97ff.
(5) So der treffende Titel von Berkhoffs Studie.
(6) Beevor, Schriftsteller, S. 308.
(7) Siehe vor allem Dieter Pohl, Schauplatz Ukraine: Der Massenmord an den Juden im Militärverwaltungsgebiet und im Reichskommissariat 1941-1943, in: Norbert Frei / Sybille Steinbacher / Bernd C. Wagner (Hrsg.), Ausbeutung, Vernichtung, Öffentlichkeit. Neue Studien zur nationalsozialistichen Lagerpolitik, München 2000, S. 135-173; ferner Il’ja Al’tman, Zertvy nenavisti. Cholokostv SSSR 1941- 1945gg., Moskau 2002, S.289 – 298; zur Beteiligung der Wehrmacht am Holocaust in der UdSSR siehe Johannes Hürter, Hitlers Heerführer. Die deutschen Oberbefehlshaber im Krieg gegen die Sowjetunion 1941/42, München 2006, S.509 – 599, zur Heeresgruppe Süd, S.567-595, und Pohl, Herrschaft der Wehrmacht, S. 243-271. Um die Sammlung und Publikation von Zeugnissen Überlebender des Holocaust in der Ukraine hat sich besonders Boris Zabarko verdient gemacht: Boris Zabarko (Hrsg.), „Nur wir haben überlebt“. Holocaust in der Ukraine. Zeugnisse und Dokumente, Berlin 2004; ders. (redak- tor-sostavitel‘), Zizn‘ i smert‘ v epochu Cholokosta, 3 Bde., Kiev 2007-2008.
(8) Pohl, Schauplatz Ukraine, S. 153.
(9) Vgl. http://www.berdichev.org/historyreport.html und http://www.shtetlinksjewishgen.org/berdichev/Berdichevhistory.html [25.3.2008].
(10) Deutsche Ausgabe: Wassilij Grossman, Die Kommissarin. Aus dem Russischen von Thies Ziemcke, mit Fotos aus dem Film von Aleksandr Askoldov, Berlin 1989. Die sowjetische Zensur hielt den Film 20Jahre unter Verschluss; erst im Zuge der Perestrojkakonnte er 1987 öffentlich vorgeführt werden und wurde, nach dem er auf der Berlinale im gleichen Jahre Begeisterung ausgelöst hatte, zu einem Welterfolg und inzwischen zu einem Filmklassiker. Vgl. Maja Turovskaja, Ne fil’m, a „zelesnajamaska“. Ofkrytoe pi’smo o zakrytom 40 let nazad „Komissare“ Aleksandra Askoldova, in: Novaja gazeta Nr.5 (1323L), 29.1.2008.
(11) Wassili Grossman, Die Ermordung der Juden in Berditschew, in: Wassili Grossman/Ilja Ehrenburg/ Arno Lustiger (Herausgeber der deutschen Ausgabe) (Hrsg.), Das Schwarzbuch. Der Genozid an den sowjetischen Juden, Reinbek bei Hamburg 1994, S. 59-72; vgl. auch Pohl, Schauplatz Ukraine, S. 146 und S.160.
(12) Vgl. die Briefzeugnisse Grossmans bei Beevor, Schriftsteller, S.281 und S. 316, und den postum an die Mutter gerichteten Brief vom 15. September 1950, abgedruckt in Wassili Grossman, Leben und Schicksal. Roman. Aus dem Russischen von Madeleine von Ballestrem, Arkadi Dorfman, Elisabeth Markstein und Annelore Nitschke, Berlin 2007, S. 1051 f.
(13) Grossmans Biographen John und Carol Garrard zufolge ist sein russisches Manuskript aller Wahr- scheinlichkeit nach verloren gegangen. Garrard/Garrard, The Bones of Berdichev. The Life and Fate of Vasily Grossman, New York 1996, S. 391. Bei Beevor findet sich jedoch ein kurzer Textauszug, der sich teilweise mit der publizierten Form von Grossmans Reportage deckt und auf einem im Grossman- Bestand des Russischen Staatlichen Literaturarchivs lagernden Manuskript beruht; vgl. Beevor, Schriftsteller, S. 312-314. Die hier vorgelegte deutsche Übersetzung basiert auf der russischen Übersetzung der jiddischen Publikation von Rachil‘ Baumvol‘ („Ukraina bez evreev“), in der von Shimon Markish herausgegebenen Anthologie Vasilij Grossman, Na evrejskie temy. Izbrannoe v dvuch tomach, Bd. II, Tel Aviv 1985, S. 333-340.
(14) So Simon Markish, Le Cas „Grossman“, Paris 1983, S.68, und Semen Lipkin, Stalingrad Vasilija Grossmana. Ann Arbor, Michigan 1986, S. 26.
(15) Grossman, Ukraina, S. 340.
(16) Zur Geschichte des JAFK vgl. Simon Redlich (Hrsg.), Evrejskij antifasistskij konntet v SSSR 1941- 1948. Dokumentirovannaja istorija, Moskau 1996; Arno Lustiger, Rotbuch: Stalin und die Juden. Die tragische Geschichte des Jüdischen Antifaschistischen Komitees und der sowjetischen Juden, Berlin 1998.
(17) Vgl. „Eines“, in: elektronnja evrejskaja enciklopedija; http://www.eleven.co.il/article/15087 [27.3.2008].
(18) Obrascenie gruppy sovetskich evrejskich pisatelej [ijul‘ 1941 g.], Redlich, Evrejskij antifasistskij konn- tet, S.50, und Vtoricnoe obrascenie gruppy evrejskich pisatelej v Sovinformbjuro, ebenda, S.50f. Aleksandr Visnevskij, Tragedijagazety „Ejnikajt“, http://alvishnev8391.narod.ru/einikait.htm [10.8.2007].
(19) Resenie Sekretariata CK VKP(b), ebenda, S.54. Erst 1945 wurde die Erscheinungsfrequenz deutlich erhöht; vgl. Visnevskij, Tragedija.
(20) Arno Lustiger, Die Geschichte des Jüdischen Antifaschistischen Komitees der Sowjetunion, in: Das Schwarzbuch,1S. 1093-1098, hier S. 1095.
(21) Visnevskij, Tragedija.
(22) Igor‘ Guscenko, Kozary, in: Zerkalo nedely, Nr. 23 (602) 17.-23.Juni 2006, http://wvvw.zn.ua/3000/3150/53654/; http://w\vw.pravoslawe.org.ua/index.php?action=fullinfo&r_type=news&id=19761.
(23)Njurnbergskijprocess.SbornikmaterialovNjurnbergskogoprocessanadglavnyminemeckimivoen- nymi prestupnikami v dvuch tomach podgotovlen pod redakciej K. P. Gorsenina (glavnyj redaktor), R. A. Rudenko i I. T. Nikicenko, Tom pervyj, Moskau 1954, S. 504-517. Online verfügbar unter http://nurnbergprozes.narod.ru/.
(24) Gennadij Kostyrcenko, Tajnaja politika Stahna. Vlast‘ i antisemitizm, Moskau 2001, S. 226. Kostyrcenko datiert die Note auf den 28. April 1942, vermutlich das Publikationsdatum. Ilja Al’tman, Die Widerspiegelung der nationalsozialistischen Politik der Judenvernichtung in der sowjetischen Literatur und Publizistik (1940-1980), in: Frank Grüner/Urs Heftrich/Heinz Dietrich Löwe (Hrsg.), „Zerstörer des Schweigens“. Formen künstlerischer Erinnerung an die nationalsozialistische Rassen- und Vernichtungspolitik in Osteuropa, Köln 2006, S. 17-32, hier S. 19.
(25) Dokumente zur Deutschlandpolitik, Reihe I, Band 3, Zweiter Halbband (1.7.-31.12.1942), Frankfurt a.M. 1988, S. 1162f.
(26) Zum letztgenannten Aspekt Kostyrcenko, Tajnaja politika, S. 226f.
(27) Gennadij Kostyrcenko, V plenu u krasnogo faraona. Politiceskie presledovanija evreev v SSSR v poslednee stalinskoe desjatiletie. Dokumentärnoe issledovanie, Moskau 1994, S.9ff.
(28) Alexander Werth, Russland im Krieg, Gütersloh 1965, S. 496-499.
(29) Andreas Hilger/Nikita Petrov/Günther Wagenlehner, Der „Ukaz 4.3″: Entstehung und Problematik des Dekrets des Präsidiums des Obersten Sowjets vom 19. April 1943, in: Andreas Hilger/ Ute Schmidt/ Günther Wagenlehner (Hrsg.), Sowjetische Militärtribunale, Band 1: Die Verurteilung deutscher Kriegsgefangener 1941-1953, Köln u. a. 2001, S. 177-209, hier S. 178f.
(30) Pohl, Schauplatz Ukraine, S. 148.
(31) Verbrechen und Strafe. Der Charkower Prozess über die von den deutsch-faschistischen Eindringlingen in der Stadt Charkow und Umgebung während der zeitweisen Okkupation verübten Greueltaten, o.O., o.J. [ca. 1945], S.71. Im Urteil wird die Zahl von 20000 Ermordeten angeführt.
(32) Das Protokoll ist auszugsweise wiedergegeben in: Hamburger Institut für Sozialforschung (Hrsg.), Verbrechen der Wehrmacht. Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941-1944, Ausstellungskatalog, Hamburg 2002, S. 183. Hier wird die Zahl von 15000 Ermordeten angegeben.
(33) Ebenda, S. 32.
(34) Ebenda, S. 2.
(35) Heinz-Dietrich Löwe, The Holocaust and the Soviet Press, in: Grüner u.a. (Hrsg.), Zerstörer des Schweigens, S.33-56, hier S.39; Lev Besymenski, Was das Sowjetvolk vom Holocaust wusste, in: Leonid Luks (Hrsg.), Der Spätstalinismus und die .jüdische Frage“. Zur antisemitischen Wendung des Kommunismus, Köln 1998, S. 69-87.
(36) Der Bericht erschien im Verlag für fremdsprachige Literatur später auch in einer deutschen Ausgabe: Wassilij Grossmann, Die Hölle von Treblinka, Moskau 1946. (37) Vgl. dazu Leonid Luks, Zum Stalinschen Antisemitismus für historische Kommunismusforschung 1997, S. 9-50.
(38) Zur Geschichte des Schwarzbuches siehe Redlich, Evrejskij antifasistskij komitet, S. 246-269, sowie Ilja Altman, Das Schicksal des „Schwarzbuches“, in: Grossman/ Ehrenburg/ Lustiger, Schwarzbuch, S.1063-1084, zu Grossmans Rolle bei seiner Erstellung siehe Garrard/ Garrard, Bones, S.195-228.
(39) V. P. Naumov (Hrsg.), Nepravednyj sud. Poslednyj stalinskij rasstrel, Moskau 1994, S.375-382; Kostyrcenko, V plenu, S. 26-152.
(40) In deutscher Übersetzung 1958 in der DDR unter dem Titel „Wende an der Wolga“ erschienen.
(41) Vgl. Jürgen Zarusky, Shoah und Konzentrationslager, in: Vasilij Grossmans Roman „Leben und Schicksal“, in: Dachauer Hefte 22 (2006): Realität Metapher Symbol. Auseinandersetzung mit dem Konzentrationslager, S. 175-198, hier S. 180-186. – –
(42) So Grossmans Formulierung in einem Schreiben an Chruschtschow, abgedruckt in Grossman, Leben und Schicksal (Ausgabe 2007), S. 1054-1058.
(43) Vgl. dazu Wladimir Woinowitsch, Leben und Schicksal des Wassili Grossman und seines Romans, ebenda, S. 1059-1068.

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