Wilhelm Reich: Charakteranalyse. Technik und Grundlagen für studierende und praktizierende Analytiker, Selbstverlag, Wien 1933 (Erstausgabe, auf archive.org, zit. als: EA)
Wilhelm Reich, Charakteranalyse, Kiepenheuer & Witsch, Köln 1971, 10. A. (zit. als: 2018)
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Ob der Materialismus eine „Naturwissenschaft von der Gesellschaft“ braucht, das heisst einen ausgearbeiteten Begriff vom gesellschaftlichen Menschen als einem Naturwesen und vom Naturverhältnis als der Grundlage der Gesellschaft, das hängt alleine davon ab, ob er eine haben kann. Unter Freudomarxisten und im Umfeld der kritischen Theorie wird als Kandidatin die Psychoanalyse gehandelt. Aber man macht sich selten die Mühe, sie nach ihren Voraussetzungen und ihren Folgen hin anzuschauen.
Es gibt einige beachtenswerte Kritik u.a. Firestones nicht nur an einigen Begriffen der Psychoanalyse, sondern auch an der Ersatzfunktion, die sie in den westlichen Gesellschaften angenommen hat. Was es unter den historischen Materialisten nicht gibt, ist eine kritische Betrachtung, welche der Sätze der Psychoanalyse überhaupt Anspruch haben, als wahr zu gelten. Es ist, wie wenn man die Lehre gar nicht ernst nähme, sondern als ob man nur auf ihren Sound, ihr Vokabular, ihre „tieferen Einsichten“ nicht verzichten wollte.
Es kann aber nicht die Frage sein, ob einem eine Lehre gefällt; sondern was man als wahr anzunehmen gezwungen ist. Und es kann leicht das Missgeschick passieren, dass einem eine solche Lehre bei genauerer Betrachtung in Stücke bricht, von denen einige sich als zwingend erweisen, einige andere aber ganz und gar verworfen werden müssen, so dass am Ende vielleicht etwas ganz und gar anderes herauskommt als die Doktrin der historischen Freud-Schule selbst.
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Die „Charakteranalyse“ ist eine Arbeit, die peinlich genau von den Doktrinen der Freud-Schule ausgeht und sie auf geradezu penible Weise ihrer eigenen Logik gemäss weiterführt. Sie ist aus der klinischen Praxis heraus geschrieben, Reich praktizierte an Freuds wiener Psychoanalytischen Ambulatorium und war Leiter des Technischen Seminars der wiener Psychoanalyse. Sie ist aber auch der Anlass geworden, ihren Autor aus der Freud-Schule auszustossen, auch wenn sie nach wie vor gewissermassen als inoffizielles Lehrwerk zu gelten scheint. Dass sie eine derart auffällige Stellung in der Freud-Schule einnimmt, liegt vielleicht nicht an ihren eigenen Fehlern, sondern bringt ein tiefer liegendes Problem in der Lehre Freuds zum Ausdruck.
Dass sich in der „Charakteranalyse“ politische und therapeutische Ideen überkreuzen, ist bekannt. Aber weniger bekannt, ja fast völlig verschwiegen, ist der genuin wissenschaftstheoretische Gehalt dieser Ideen gerade an ihrem Kreuzungspunkt. Natürlich muss man nur „Gesellschaftsordnung“ sagen statt „Neurose“, oder „Autorität“ statt „Übertragung“, und man erhält die explosivsten Sätze, die z.B. um 1968 herum gesagt und gedacht worden sind. Aber Reich hat die Sätze, die zu diesen Gleichungen einladen, nicht aus Revoluzzertum heraus erfunden, sondern sie sind ihm und der Psychoanalyse aus erkenntnistheoretischen Gründen aufgenötigt. Ohne diese Sätze hätte die Psychoanalyse gar keine Aussicht darauf, als Wahrheit gelten zu können.
Die erkenntnistheoretische Argumentation, aus der das zu sehen ist, findet sich in allgemeiner Form S. 25 ff. EA, 37 ff. 2018, in auf das Material angewandter Form aber über das ganze Buch (in der ursprünglichen Fassung).
Die Arbeit der Analyse fördert verdrängte Konflikte zutage. Reich führt nun aus, und jeder Analytiker scheint das Problem zu kennen, „daß Symptome oft trotz der Bewußtheit des früher verdrängten Inhalts bestehen bleiben“, dass „das Bewußtwerden allein zur Heilung nicht genügt“, EA 26.
„War man einmal vor diese Frage gestellt, so gesellte sich sofort die andere hinzu, ob denn dann nicht doch diejenigen Gegner der Psychoanalyse recht behielten, die schon immer gemahnt hatten, nach der Analyse müsse die „Synthese“ erfolgen“, EA 26. Wer aber sollte eine solche Synthese, d.h. die Neuzusammensetzung der Triebstruktur, in die Hand nehmen, und vor allem, nach welchen Kriterien? Was ist eine „gesunde“, was ist eine „kranke“ Triebstruktur? Wer soll das beurteilen, und nach welchen Kriterien? Nach denen der jeweils gegenwärtigen Moral, die man selbst unschwer als Produkt der Neurose begreift? Weiterlesen