Buchbesprechung: Wilhelm Reich, Charakteranalyse

Wilhelm Reich: Charakteranalyse. Technik und Grundlagen für studierende und praktizierende Analytiker, Selbstverlag, Wien 1933 (Erstausgabe, auf archive.org, zit. als: EA)

Wilhelm Reich, Charakteranalyse, Kiepenheuer & Witsch, Köln 1971, 10. A. (zit. als: 2018)

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Ob der Materialismus eine „Naturwissenschaft von der Gesellschaft“ braucht, das heisst einen ausgearbeiteten Begriff vom gesellschaftlichen Menschen als einem Naturwesen und vom Naturverhältnis als der Grundlage der Gesellschaft, das hängt alleine davon ab, ob er eine haben kann. Unter Freudomarxisten und im Umfeld der kritischen Theorie wird als Kandidatin die Psychoanalyse gehandelt. Aber man macht sich selten die Mühe, sie nach ihren Voraussetzungen und ihren Folgen hin anzuschauen.

Es gibt einige beachtenswerte Kritik u.a. Firestones nicht nur an einigen Begriffen der Psychoanalyse, sondern auch an der Ersatzfunktion, die sie in den westlichen Gesellschaften angenommen hat. Was es unter den historischen Materialisten nicht gibt, ist eine kritische Betrachtung, welche der Sätze der Psychoanalyse überhaupt Anspruch haben, als wahr zu gelten. Es ist, wie wenn man die Lehre gar nicht ernst nähme, sondern als ob man nur auf ihren Sound, ihr Vokabular, ihre „tieferen Einsichten“ nicht verzichten wollte.

Es kann aber nicht die Frage sein, ob einem eine Lehre gefällt; sondern was man als wahr anzunehmen gezwungen ist. Und es kann leicht das Missgeschick passieren, dass einem eine solche Lehre bei genauerer Betrachtung in Stücke bricht, von denen einige sich als zwingend erweisen, einige andere aber ganz und gar verworfen werden müssen, so dass am Ende vielleicht etwas ganz und gar anderes herauskommt als die Doktrin der historischen Freud-Schule selbst.

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Die „Charakteranalyse“ ist eine Arbeit, die peinlich genau von den Doktrinen der Freud-Schule ausgeht und sie auf geradezu penible Weise ihrer eigenen Logik gemäss weiterführt. Sie ist aus der klinischen Praxis heraus geschrieben, Reich praktizierte an Freuds wiener Psychoanalytischen Ambulatorium und war Leiter des Technischen Seminars der wiener Psychoanalyse. Sie ist aber auch der Anlass geworden, ihren Autor aus der Freud-Schule auszustossen, auch wenn sie nach wie vor gewissermassen als inoffizielles Lehrwerk zu gelten scheint. Dass sie eine derart auffällige Stellung in der Freud-Schule einnimmt, liegt vielleicht nicht an ihren eigenen Fehlern, sondern bringt ein tiefer liegendes Problem in der Lehre Freuds zum Ausdruck.

Dass sich in der „Charakteranalyse“ politische und therapeutische Ideen überkreuzen, ist bekannt. Aber weniger bekannt, ja fast völlig verschwiegen, ist der genuin wissenschaftstheoretische Gehalt dieser Ideen gerade an ihrem Kreuzungspunkt. Natürlich muss man nur „Gesellschaftsordnung“ sagen statt „Neurose“, oder „Autorität“ statt „Übertragung“, und man erhält die explosivsten Sätze, die z.B. um 1968 herum gesagt und gedacht worden sind. Aber Reich hat die Sätze, die zu diesen Gleichungen einladen, nicht aus Revoluzzertum heraus erfunden, sondern sie sind ihm und der Psychoanalyse aus erkenntnistheoretischen Gründen aufgenötigt. Ohne diese Sätze hätte die Psychoanalyse gar keine Aussicht darauf, als Wahrheit gelten zu können.

Die erkenntnistheoretische Argumentation, aus der das zu sehen ist, findet sich in allgemeiner Form S. 25 ff. EA, 37 ff. 2018, in auf das Material angewandter Form aber über das ganze Buch (in der ursprünglichen Fassung).

Die Arbeit der Analyse fördert verdrängte Konflikte zutage. Reich führt nun aus, und jeder Analytiker scheint das Problem zu kennen, „daß Symptome oft trotz der Bewußtheit des früher verdrängten Inhalts bestehen bleiben“, dass „das Bewußtwerden allein zur Heilung nicht genügt“, EA 26.

„War man einmal vor diese Frage gestellt, so gesellte sich sofort die andere hinzu, ob denn dann nicht doch diejenigen Gegner der Psychoanalyse recht behielten, die schon immer gemahnt hatten, nach der Analyse müsse die „Synthese“ erfolgen“, EA 26. Wer aber sollte eine solche Synthese, d.h. die Neuzusammensetzung der Triebstruktur, in die Hand nehmen, und vor allem, nach welchen Kriterien? Was ist eine „gesunde“, was ist eine „kranke“ Triebstruktur? Wer soll das beurteilen, und nach welchen Kriterien? Nach denen der jeweils gegenwärtigen Moral, die man selbst unschwer als Produkt der Neurose begreift? Weiterlesen

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Aus Landauers „Revolution“ (1907)

Unsere den Durchschnitt übersteigende Landauer-Expertise gebietet uns vorauszuschicken, dass es sich beim „Essay“ um „Discours de la servitude volontaire(1574) von Étienne de la Boétie handelt.

Schließlich aber ist zu sagen: sind die Revolutionen zusammenfassende und vorausgehende, auch immer wiederkehrende Mikrokosmen, so ist dieser Essay der Mikrokosmos der Revolution. Er repräsentiert den Geist, von dem wir sagen, dass er Geist ist nur in der Negation, da er aber in der Negation Geist ist: die Ahnung und der noch nicht auszusprechende Ausdruck des Positiven, das heraufkommt. Dieser Essay verkündigt, was in andern Sprachen später Godwin und Stirner und Proudhon und Bakunin und Tolstoj sagen werden: In euch sitzt es, es ist nicht draußen; ihr selbst seid es; die Menschen sollten nicht durch Herrschaft gebunden sein, sondern als Brüder verbunden. Ohne Herrschaft; An-archie. Aber das Bewusstsein fehlt oder ist kümmerlich entwickelt, dass es heißen muss: Nicht durch Herrschaft, sondern –. Wohl ist die Negation dieser empörten Naturen erfüllt von Liebe, die Kraft ist, aber doch nur in dem Sinne, wie Bakunin es prachtvoll gesagt hat: Die Lust des Zerstörens ist eine schaffende Lust. Wohl wissen sie, dass die Menschen Brüder sind; aber sie glauben, sie seien es schon wieder, wenn die Hemmnisse und Gewalten entfernt sind. In Wahrheit sind sie es nur während der Zeit, in der sie die Hemmnisse und Gewalten bekämpfen und heben. In Wahrheit lebt der Geist nur in der Revolution; aber er kommt nicht zum Leben durch die Revolution, er lebt nach ihr schon wieder nicht mehr. Sie werden sagen wollen: ja, wenn die Revolution einmal ganz siegreich sein wird; wenn nicht mehr das Alte, eben Bekämpfte sich wieder aufrichtet. Das ist so, wie wenn einer klagen wollte: wenn ich meine Träume festhalten und in Erinnerung und bewusstem Schaffen starr machen und gestalten könnte, wäre ich der größte Dichter. Es liegt in der Tatsächlichkeit und so im Begriff der Revolution, dass sie wie ein Gesundfieber zwischen zwei Siechtümern ist; ginge nicht die Mattigkeit voraus und folgte nicht die Ermattung, so wäre sie gar nicht. Ganz etwas anderes, oder: noch etwas anderes dazu als Revolution ist nötig, damit ein Bleiben und ein ganzes, bleibendes Weitergehen über die Gestaltungen der Menschen kommt. Denn wir wissen jetzt, wie das Wort weiter zu sprechen ist: Nicht durch Herrschaft, sondern durch Geist; aber es ist noch nicht viel damit getan, dass wir den Geist rufen; er muss über uns kommen. Und er muss ein Gewand und eine Gestalt haben; er hört nicht auf den bloßen Namen Geist; und niemand lebt, der sagen kann, wie er heißt und was er ist. Diese Erwartung ist es, die uns ausharren lässt in unserm Übergang und Weitergang; dieses Nichtwissen ist es, das uns der Idee folgen heißt.

Und was folgt ist, wenn nicht der vernünftigste, dann auf jeden Fall einer der vernünftigsten Sätze, die unsere Literatur überhaupt vorzuweisen hat:

Denn was wären uns Ideen, wenn wir ein Leben hätten?

Auch nur ein Satz und bloß ein Gedanke,  der Adorniten wie uns selbst unglücklich stimmen kann. Doch alles andere, zumindest das meiste, ist nur Geröll und nichts als Geröll. Und nein, mit diesem Satz wird nicht ein angeblich gedankenfreies, dumpf-biologisches Leben angepriesen.

– spf

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Syrien: Rückschau I

Es ist Zeit, auf ein paar Vermutungen aus den letzten Jahren zurückzuschauen:

Buchbesprechung: Syrisch-Kurdistan

Alles das, wofür „Rojava“ so berühmt wurde, wurde in der syrischen Revolution entwickelt, noch ehe die PKK überhaupt eine Rolle spielte. Schon in der frühesten Phase der Revolution, in der landesweiten Protestbewegung, haben Leute wie Omar Aziz aus den unmittelbaren Bedürfnissen der Bewegung lokale Koordinationskomittees gegründet und diese landesweit koordiniert; als Organe nicht nur der gegenseitigen Selbsthilfe, sondern als Organe der Revolution selbst. Mit weiterem Fortschreiten der Revolution dehnte sich die Tätigkeit dieser Organe immer weiter in die früher vom Staat beherrschte Sphäre aus, und zerschnitt dessen Machtbasis fortschreitend, während sie die Organisierung der revolutionären Gesellschaft immer weiter befestigte. Die PKK hat die Selbstverwaltung in Syrien nicht erfunden, sondern sie vorgefunden, eingerahmt, und benutzt sie natürlich zu ihrer Propaganda.

Die erstaunliche Zähigkeit der revolutionären Strukturen zeigt sich daran, dass es dem Regime in fünf Jahren Krieg nicht gelungen war, wieder Herr der Lage zu werden. Omar Aziz sagte im November 2012, kurz vor seinem Tod in einem syrischen Gefängnis: „Wir sind nicht schlechter als die Arbeiter der Commune. Die hielten 70 Tage stand. Wir sind nach eineinhalb Jahren noch da.“ Und er hatte Recht, und es war noch lange nicht vorbei. Bis 2019 haben die letzten dieser Organe ausgehalten, und schon zeigen sich die Umrisse eines neuen Anlaufs.

Als der sogenannte Islamische Staat (Daesh) auf Kobane marschierte, musste das von den Kurden (z.B.) als eine tödliche Bedrohung wahrgenommen werden. Der Wille, sich zu verteidigen, erzeugt aber nicht von alleine auch die Mittel, sich zu verteidigen, und zu diesen gehört auch eine funktionierende Organisation. Die PKK besass als einzige eine fertige Organisation; sie hatte auch keine anderen bestehen lassen. Die Lage ist ganz analog zu den bürgerkriegsähnlichen Zuständen im türkischen Südosten der 1990er Jahre: die einzige bestehende Organisation, das einzige Werkzeug der kollektiven Verteidigung war die Organisation der PKK. Der Deal, der gemacht werden muss, ist dieser: die PKK bietet der Gesellschaft sich als Organisation an, und die Gesellschat hat es mit Loyalität zu bezahlen.

Diese Allgemeinheit, die sie dadurch gewinnt, ist erschlichen und erzwungen. Sie hat als ihre Grundlage nicht die Gesellschaft und ihre Veränderung, sondern sie steht ihr eigentlich äusserlich gegenüber. Auch was sie etwa für die Gesellschaft tut, wird gewissermassen hinter dem Rücken der Gesellschaft getan sein. Umgekehrt ist nur durch völlige Loyalität, das heisst durch Anstrengung und Selbsttäuschung, irgendein Teil der Gesellschaft in der Lage, die Handlungen der Partei für freie Handlungen der Gesellschaft zu halten. Das lässt schlimmes ahnen. Sie steht eigentlich zur Gesellschaft nicht anders, als der Staat steht. Sie wird der Gesellschaft gegenüber undurchdringlich bleiben, auch wenn ihr geliebter Führer noch so viel Staatskritik treibt. Der sogenannte Islamische Staat ist zurückgeschlagen fürs erste, immerhin, aber dem Problem, wie die revolutionäre Gesellschaft zu einer angemessenen Organisation findet, wird man keinen Fussbreit näher kommen.

In den arabischen Landesteilen gab es einen anscheinend völlig anderen Verlauf. Seit dem Beginn der militärischen Phase, das heisst seit dem Beginn der militärischen Angriffe auf die syrische Gesellschaft (und seit dem Abfall des kurdischen Nordens) organisierten einerseits die lokalen Komittees eine territoriale Verteidigung, bestehend aus ehemaligen Soldaten und Wehrpflichtigen; andererseits aber fielen ganze Truppenteile samt ihren Generälen von dem Regime ab und gründeten die Freie Syrische Armee. Drittens aber gründeten eine Reihe Organisationen des Exils, oder kaum organisierte Intellktuelle des Inlands, zusammen mit abgefallenen Militäroffizieren den Syrischen Nationalrat (SNC).

Darin auch folgende Anekdote über Öcalan:

Sein Narzissmus schwappte in jeden Bereich über. Wenn er mit seinen Leuten in der PKK fussball spielte, wie er das oft tat auf dem Gelände in Damaskus, schoben die Spieler ihm wohlweislich den Ball rüber und passten auf, nicht im Weg zu stehen, wenn er ein Tor schiessen wollte. Aber er bestand darauf, dass jemand eine Liste führte, wieviele Tore er geschossen hatte. Einmal vergass der PKK-Kämpfer, der diese Liste führen sollte, vier von seinen Toren. Öcalan explodierte und schrie den Mann, einen erfahrenen Kämpfer aus der Provinz Botan, an. … Er fragte Mehmet, wieviele Tore er gemacht hatte, und Mehmet sagte: 12. Öcalan fing an zu schreien: Du Penner, wie kannst du vier von meinen Toren vergessen! Mehmet entschuldigte sich, aber Öcalan schrie weiter. Später am Tag, als Öcalan einen Vortrag halten sollte, war das erste, was er fragte: „Wo ist dieses Arschloch? Wie konnte er meine Tore vergessen? Vier Tore vergessen ist wie vier Kämpfer vergessen … und das ist dasselbe wie die Revolution zu vergessen und Kurdistan zu vergessen.“ Danach dachte ich ok, jetzt ist es endlich vorbei. An dem Abend wurde er auf Med TV interviewt. Und da fing er schon wieder an damit, und sagte „dieser Penner, dieser Penner von einem Leutnant, er hat vier von meinen Toren vergessen, wie kann man vier von meinen Toren vergessen?“

„Syrianization of the World“:

Vor Jahren hat Yasin al-Haj Saleh das Wort „Syrianization of th world“ geprägt. Der syrische Krieg, die Niederschlagung der syrischen Revolution werde dem Verlauf der kommenden Geschichte ihren Stempel aufdrücken. Die Welt hat die syrische Revolution im Stich gelassen, sie hat ihre Niederschlagung hingenommen (die Fassbomben, die Städtebelagerungen, den Artilleriebeschuss, die Aushungerung, das Sarin). Sie hat nicht nur so getan, als ginge es um „innere Angelegenheiten“; nein, sie hat dankbar die Lüge geglaubt von der abwechselns islamistischen oder imperialistischen Verschwörung, die hier niedergeschlagen werden müsste.

Je gewaltsamer die Konterrevolution, desto mehr musste die unplausible Lüge eingehämmert werden. Sie deformiert das Denken. Die stumpfe Wiederholung der Greuel erzeugt eine passive Gewöhnung. Eine Gleichgültigkeit kann aber, egal was die Bürger sich erhofft haben, niemals eintreten. Man konnte nicht einfach tun, als existierte das alles nicht. Wer es ignorieren wollte, musste sich und andere belügen; musste mittun.

Die „Syrianization of the world“ ist der Eintritt in eine Epoche, in der dieses und ähnliches geschehen kann und ständig geschehen wird. Wir erleben es täglich und werden noch mehr erleben.

Militärisches zur sogenannten Revolutionstheorie

Es ist genau diese Situation, die es einigen vorrevolutionären Parteien erlaubt, auf dem ständig sich verschiebenden Boden zu operieren, anstatt z.B. einfach auseinanderzufallen; und zwar gerade denen, die von der wirklichen Bewegung am meisten abgeschlossen sind. Ihre Stellung und Tätigkeit unterscheidet sich an sich nicht von der aller anderen vorrevolutionären Gewalten. Sie alle streben danach, den Prozess der Revolution an der für sie günstigsten Stelle abzubrechen; er ist ihnen nur Mittel zu einem für sie bereits vorher feststehenden Zweck. Man pflegt in der Regel unter Marxisten der Revolution insgesamt diesen Zweck zuzurechnen; und unterscheidet säuberlich zwischen bürgerlicher, proletarischer Revolution usw. Aber der Zweck der Revolution selbst kann von niemandem angegeben werden; sie hat als solche gar keinen, sowenig die Gesellschaft ein vernünftiges Prinzip.

Der Bürgerkrieg ist unter diesen Umständen das Grab der Revolution, aber ohne dass es auf einfache Weise vermieden werden könnte, dass die Revolution den Bürgerkrieg hervorruft. Betrachten wir das fürchterlichste Beispiel eines solchen Fehlschlags, die syrische Revolution seit 2011, unter diesem Aspekt.

Die ersten Demonstrationen waren gross und populär genug, dass man meinen konnte, hier habe man es mit einer Revolution vom Typus der sogenannten friedlichen Revolutionen zu tun. Auch als das Militär gegen die Demonstrationen eingesetzt worden war, schien sich das noch nicht zu ändern. Das Militär, grösstenteils aus Wehrpflichtigen zusammengesetzt, tat das, was z.B. Engels von einem solchen Militär für den günstigsten Fall erwartete, und wechselte zum grössten Teil sofort die Seiten oder lief auseinander.

Das Regime hatte aber für diesen Fall seit 1982 vorgesorgt, es hatte spezielle Einheiten aufgebaut, die rekrutiert waren aus den Angehörigen der Minderheitsreligionen, die das Regime in grosser Furcht vor der sunnitischen Mehrheit zu halten gewusst hatte. Diese Kerne der Armee blieben funktionsfähig, und die Reste der übrigen Einheiten liess sich einstweilen um diese gruppieren und zusammenhalten. Das Regime tat dann aber etwas, das angeblich niemand jemals in so einer Situation tun würde. Es begann, mit dem reduzierten Kern seiner Armee gerade die Arbeiterwohngegenden, die naturgemäss vorwiegend sunnitisch waren, zu beschiessen. Es radikalisierte die Revolution, von der Konterrevolution aus.

Zu diesem Zeitpunkt war keine andere organisierte politische Kraft militärisch handlungsfähig; weder „die Revolution“, wer immer das sein sollte, noch irgendeine der Parteien, auch nicht die islamistischen gleich welcher Richtung. Die Auseinandersetzung hatte noch nicht einmal angefangen. Zu dieser Zeit waren die revolutionären Kommittees noch meistens gar nicht gegründet, die später in vielen Orten entstanden sind; diejenigen lokalen Organe der Gesellschaft in Revolution, von deren blosser Existenz unsre bürgerliche Öffentlichkeit bis heute nie etwas gehört hat, und auch ihr Wurmfortsatz nicht, die sogenannte Linke.

Auch die desertierten Soldaten aus der auseinandergefallnen Armee begannen nun erst, unter dem Schock der ungeheuren Ereignisse, sich neu zu organisieren, nämlich in lokalen Verteidigunskräften. Damit beginnt natürlich dasjenige, was man die Militarisierung der Revolution genannt hat. Aber die Dynamik, die dieser Vorgang angenommen hat, kommt eigentlich daher, dass die Revolution in einem bestimmten Sinne sich nicht militarisiert hat und auch sich nicht militarisieren kann.

Es ist oft die Frage gestellt worden, was die lokalen Organe der Revolution daran gehindert hat, sich zu einer effektiven Koordination zusammenzutun. Meistens wird getan, als ob das Dazwischentreten der vorrevolutionären Exilparteien, des sogenannten syrischen Nationalkongresses usw. dazu hingereicht hat. Es ist allerdings dann unerklärlich, was diesem disfunktionalen Haufen von Politikanten eigentlich befähigt hat, sich diese Rolle anzumassen.

Die lokalen Kommittees haben das Problem der Einheit nicht lösen können, weil sie das Problem der militärischen Gewalt nicht haben lösen können. Die bewaffneten Kräfte waren nicht von den lokalen Kommittees aufgestellt, unterhalten und befehligt; ob dazu die Mittel fehlten, oder ob gerade die Furcht vor der Militarisierung den Ausschlag gegeben hat, ist nicht eindeutig zu sagen. Die bewaffneten Kräfte waren daher auch keiner Stelle wirklich Rechenschaft schuldig. Und es war gerade in dem Milieu dieser Milizen, dass die verschiednen Parteien militärische Gestalt und politische Macht gewonnen haben; nach nicht langer Zeit hauptsächlich die islamistischen, deren ganze Richtung zu der Revolution der lokalen Kommittees im grössten möglichen Gegensatz steht. Aber die Dynamik war auch in den kurdischen, drusischen und selbst christlichen und alawitischen Orten keine andere; für oder gegen das Regime, überall ist die wirkliche Macht in die Hände regionaler Milizen gefallen, die der einen oder der anderen Partei, der PKK oder der SSNP oder der Hezbollah angeschlossen sind.

Aber es ist gar nicht ausgeschlossen, dass das Problem der militärischen Gewalt für die Revolution an sich gar nicht lösbar ist. In diesem Fall müsste jede Revolution notwendig dasselbe Schicksal haben, sofern ihr Feind nur skrupellos genug ist und sofern er sich auf einen bestimmten Teil der Gesellschaft überhaupt noch stützen kann. Denn das syrische Regime hatte die militärische Gewalt am Anfang gar nicht benutzt, um die abgefallenen Städte wiederzuerobern. Das war, wie sich herausstellte, für die Niederlage der Revolution auch nicht nötig. Es hatte lediglich die revolutionäre Koordination unmöglich zu machen, indem es der Reihe nach einzelne Gegenden angriff; und zwar reichte dazu für den Anfang Beschuss und Bombardierung.

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Das Imperium schreckt zurück

Der allseitsbekannte Experte in Sachen Antiimperialismus Jörg Kronauer, dessen Fachkenntnisse wir hier schon mal gewürdigt haben, meldet sich vom geopolitischen Schachbrett zu den Gerüchten von nordkoreanischen Sozialismussklaven, die bislang noch nie ihr geliebtes Land verlassen durften, an der russisch-ukrainischen Front.

„Letztendlich war gar nicht entscheidend, ob Nordkorea wirklich Soldaten entsandt hatte.Die Tatsache, dass dies eine realistische Option war, genügte, die strategischen Kalkulationen des Westens in Frage zu stellen… Dass Europa zum Ziel einer Intervention aus Asien geworden sein könnte, ist historisch neu. Es ist ein weiteres Indiz dafür, dass Ruropas (sic!) Weltherrschaftsträume geplatzt sind – und ein Hinweis darauf, wo sein Abstieg enden könnte, wenn man versuchen sollte, ihn mit Gewalt zu verhindern, statt ihn, soweit möglich, friedlich zu gestalten“. (konkret 12/24)

Auch wenn niemand von den außenstehenden Experten weiß, was gerade Tatsache ist, darf man als Tatsache annehmen, dass diese angeblichen drei, acht oder zwölf Tausend Kims Sklaven sich verdammt gut tarnen können. Man hat sie bis jetzt weder in Donbass noch im Kursker Gebiet in nennenswerter Anzahl gesichtet. Was beide Seiten dagegen bemerkt haben sollten, ist dass Nordkorea das russische Militär mit Unmengen an minderwertiger Munition für Erdöl versorgt. Gute Nachricht: die Geschosse fliegen meistens nicht wie sie sollen; die schlechte: mindestens 40% davon tun dies schon. Und das ist bereits zu viel, wenn Frieden uns ein Anliegen sein soll. Weiterlesen

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Dienstag, 10.12. Würzburg: 1336 Tage

Am Dienstag, dem 10. Dezember um 19.00 Uhr gibts den Film „1336 Tage. Höhen, Tiefen, aber immer aufrecht“ im Anno Domini in Würzburg (Nebenzimmer) zu sehen.

Sie haben es geschafft! Sie haben ihre Fabrik übernommen: die Teefabrik vor den Toren Marseilles wird jetzt in Selbstverwaltung betrieben. Seit September 2015 sind die Packungen der Marke „1336“ in den Regalen französischer Supermärkte zu finden.

Nach mehr als drei kämpferischen Jahren, haben die 76 verbleibenden Arbeiter_Innen von Fralib im Mai 2014 den Konflikt mit dem Lebensmittel-Multi Unilever beendet und eine Genossenschaft gegründet: die Scop-ti. Sie übernehmen die Fabrik, die Maschinen und 20 Mio. Euro Startkapital: „Wir haben gegen einen Konzern gekämpft! Nein, keinen Konzern, wir kämpften gegen die Welt. Das Kapital, das ist die Welt heute. Und wenn wir in Gémenos dieser Scheißwelt was Gutes tun können, da bin ich dabei! Ob ich gewinne oder verliere!“

In seinem Film lässt Claude Hirsch die bewegten Geschehnisse Revue passieren, die zu diesem Sieg führten: Fabrikbesetzungen, politischer Druck, Zusammenhalt.

Der Film „1336 Tage“ ist Teil 2 der Fralib-Saga, der erste Teil (hier auf labournet.tv) begleitete die kämpferischen Arbeiter_Innen vom Schließungsbeschluss 2010 bis zum Herbst 2011. Übrigens, die SCOP „Fabrique du Sud“ führt die im Film erwähnte Eisfabrik „Pilpa“ weiter (siehe hier auf labournet.tv).

Artikel zu dem Konflikt finden sich hier auf labournet.de, und die Webseite der Arbeiterproduktivgenossenschaft SCOP-TI hier.

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News unterm Radar IX

I II III IV V VI VII VIII

Im 1011. Tag des dreitägigen militärischen Vorstoßes der russischen Streitkräfte nach Kyiv passieren interessante Sachen. Halten wir sie kurz unter dem Vorbehalt fest, dass sie über Nacht bereits ganz anders sind. So was ist bekanntlich arg undankbar.

Am 21. November hat Russland die Produktionshallen von „Juschmasch“ in Dnipro mit einer Mittelstreckenrakete des Typs „Oreschnik“ angegriffen. So eine Rakete wird von Russland zum ersten Mal seit 36 Jahren eingesetzt. Der Einsatz hat allerdings weder die gegnerische Seite noch die eigenen Gefolgschaft beeindruckt: so neuartig ist die Rakete nicht, sondern aus den älteren Modellen zusammengebaut, vielmehr sind es die Satellitenbilder der vermeintlichen Schäden von „Juschmasch“, die beide Seiten „enttäuschten“. (Tief beeindruckt war anscheinend nur Scholz). Der chronisch fehlinformierte Putin spricht bereits von „Spaltung in Elementarteilchen“ und davon, dass bereits „der kinetische Einschlag gewaltig wie ein Meteoriteneinschlag“ sei und dass neue Angriffe auf Kyiv erfolgen könnten. Die Warnung ist jedenfalls ernst zu nehmen, immerhin konnte die ukrainische Luftabwehr die „Oreschnik“ nicht abfangen. Wie es im besser verteidigten Kyiv aussehen würde, würde mal lieber gar nicht herausfinden wollen, wird es aber eines Tagen tun müssen. Weiterlesen

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Von der Transnationalisierung des Staatsvorfelds

(aus dem Heft #20, das man nun online einsehen kann)

Um an die Kritik des «Anarcho-Liberalismus» (1) anzuschließen, aus der leider nichts geworden ist: solche Leute sind mir früh genug, noch vor fünfzehn oder zwölf Jahren begegnet. Bekanntlich ist die «radikale» Linke überdurchschnittlich anfällig für Freaks, Junkies und Devianten aller Art, aber diesmal waren es meist studierte Leute, die zwar oberflächlich den ganzen linksradikalen Jargon beherrschten, aber nicht wussten, wofür all die mittlerweile auch toten Formeln vom Klassenkampf, Gleichheit und Emanzipation standen; dafür kannten sie sich ganz gut mit dem «Tod des Subjekts», «Performativität» und allerlei «Identitäten» aus. Es wurde z.B. Verneigung vor allen denkbaren, obwohl nicht anwesenden Minoritäten verlangt, umso rücksichts- und respektloser wurde in den eigenen Kreisen herumgetrampelt. Und das Phänomen war nicht nur im ost/westdeutschen Kontext zu beobachten – auch im osteuropäischen. Auch dort gab es früh genug Manipulationen durch Schuldzuweisungen und Verleumdungen, damals noch vage Einübungen in virtue signalling und cancel culture, den Kampf um alle Sorten von Ressourcen bzw. soziales Kapital und Deutungshoheit. Das alles angesichts der gemeinsamen Gegner, die damals schon stark und gefährlich waren: 2012/13 waren die Auseinandersetzungen mit den Nazis oder mit der Behörde zur Extremismusbekämpfung in Russland nicht besonders spaßig. Kurzum, man hat sich früh genug in all den Szene-Spielchen eingeübt, die Jahre später die US-amerikanische BLM-Bewegung zugrunde gerichtet haben. (Mich verblüfft es noch immer, wie bei den «trained marxists» von ihrem «Marxismus» nur der bloße Machtkampf zwischen den ethnischen Gruppen übrigbleibt). Bloß in Osteuropa gab es weder nennenswerte Infrastruktur, um die man hätte kämpfen können, noch irgendeine dauerhafte soziale Bewegung von gesellschaftlicher Relevanz. 2000/2010er waren die Jahre der jugendlichen Subkulturen. Besonders machtgeile oder übergriffige Personen wurden größtenteils rechtzeitig in die Schranken gewiesen, schlimmstenfalls ins Gesicht gefistet und aus allen Zusammenhängen entfernt. Wer sich in anderen Subkulturen herumgetrieben hatte, weiß, dass es allgemein bei Jugendlichen der Brauch ist, subcultural businnes as usual. Klar, hier und da sind Punkclubs, Distros, Squats, freie Räume und Gemeinschaftskassen für z.B. Gefangene entstanden und genauso schnell wieder verschwunden, doch besonders förderlich für die Karrieren angehender BewegungsmanagerInnen waren sie nicht, weil sie nicht einmal in der Nähe zur Staatsideologie stehen (ganz im Gegenteil), weder in Bulgarien, noch in Belarus oder sonst wo. Wozu also der Aufwand und woher kommt das?

Zum Teil ist es ein Kargokult. Ein Wissens- und Kulturtransfer aus dem «Westen», wenn man will. Eine postmarxistische und/oder -anarchistische und post/decoloniale Diskursaufblähung, die zunehmende Verakademisierung der Linken (vor allem nach der Niederlage der Moskauer Proteste 2011/12), schleichende Moralisierung und Verpsychologisierung der Politik. Das, was sich für psychologische Selbstvorsoge für AktivistInnen ausgibt, dient öfters dazu, pseudofachmännisch dem Gegner und sich selbst eine Diagnose zu verpassen, zur Solidarität mit sich und zur Entsolidarisierung mit dem Gegner aufzufordern. Was will man tun? Auch das ist mittlerweile eine Zwischenstufe, die bereits passiert ist. Die Jugendlichen, die von und für TikTok und OnlyFans leben, verhalten sich und sehen gleich aus in Madrid, London, Kyjiv und Astana; andere Subkulturen globalisieren genauso. Die ukrainische Linke ist letztens aus allseitsbekannten Gründen Anfang 2022 aus allen Wolken gefallen, die russische ist z.T. immer noch so, obwohl irgendwo im Exil sitzend… Weiterlesen

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Über den Nutzen des Staates

1. Der Staat als Befreier ist eine Illusion immer gewesen, die Befreiung in den Staat hinein ist bürgerliche Utopie. Die Notwendigkeit, über den Staat hinaus zu kommen, ist unter den Radikalen auch der Alten Revolution nie ganz vergessen worden. Es hat sich aber kein Weg gefunden, weil die Grundlagen der Gesellschaft nicht angetastet wurden, die des Staats bedarf: das Vaterrecht an der Familie, und das private Eigentum.

Anmerkung. „Wir müssen also auch über den Staat hinaus! – Denn jeder Staat muß freie Menschen als mechanisches Räderwerk behandeln; und das soll er nicht; also soll er aufhören“. Aus diesen Zeilen spricht ehrliche Naivetät. Der Staat behandelt die Menschen als sein Material. Die neueren Bürgerkriege geben einen Aufschluss darüber. Das Entsetzen darüber wird heute kaum angemessen zum Ausdruck gebracht, und wenn, dann in doktrinaler Verzerrung. Gelogen wird heute aber meistens durch Weglassen.

2. Die klassenlose Gesellschaft ist eigentlich im Staat unmöglich, der Staatskommunismus nichts als die vollendete Negation des einzelnen Menschen. Er ist selbst eine auf die Spitze getriebne Form der bürgerlichen Utopie, oder sogar einer älteren, die so alt sein mag wie der Staat selbst.

3. In der Arbeiterbewegung sind wirklich Formen gefunden worden, die über den Staat hinausweisen, und zwar von dem Flügel, der sein Heil nicht mehr vom Staat erwartet.

Anmerkung.
Für die Arbeiterbewegung vor der Sozialdemokratie ist der Schlachtruf der Lyoner Arbeiter von 1831: „Arbeitend leben oder kämpfend sterben!“ genauso relevant wie die Prinzipien der Pioniere von Rochdale 1842. Sie lebt und stirbt auf dem Grat zwischen Umsturz und Selbsthilfe. In dieser der offiziellen Linken völlig unleserlichen Geschichte ist ein genaueres Wissen davon zu finden, was die Gesellschaft ist und wie sie anders werden soll, als in allen theoretischen Arbeiten. Wiederentdeckt werden kann sie nur von ihresgleichen.

4. Die Revolutionen nach 1917 hatten als ihren unmittelbaren Gegenstand den Übergang zum modernen Staat. Dieser Satz bedeutet nichts anderes, als dass alle Revolutionen als Arbeiterrevolutionen gescheitert sind. In keinem Land, in dem dieser Übergang schon vollzogen war, hat es je eine erfolgreiche Revolution dieses Typs gegeben; aber genug Anläufe, dass man die Richtung kennen kann.

5. Spätestens seit 1968 ist die Idee der Befreiung in den Staat hinein bankrott. Keine revolutionäre Partei hat sie je wieder vermocht in den Dienst zu nehmen. Wo es versucht worden ist, ist es zu Zwecken der Konterrevolution versucht worden.

6. Die Frage, wie man über den Staat hinaus kommt, stellt sich heute unmittelbar; nicht wegen der Stärke der revolutionären Idee, sondern wegen ihrer Schwäche und wegen des Fehlens jeder anderen Perspektive.

7. Damit ist der Staat aber noch nicht am Ende. Im Gegenteil führt er ein anderes, zweites Leben. Die Staatenlosigkeit, die Schutzlosigkeit des nackten Lebens, tritt grell dort hervor, wo ein Staat nicht besteht. Weiterlesen

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Über „Identitätspolitik“

1. Wir benutzen das Wort „Identitätspolitik“ nicht gerne, weil wir nicht genau wissen, was es bedeutet. Das liegt nur zur Hälfte an unserem erschreckenden Mangel an Bildung. Zur anderen Hälfte liegt es daran, dass es niemandem gelungen ist, amtlich zu erklären, was es bedeuten soll; namentlich unter denjenigen, die sich für Identitätspolitik erklären.

„Identitätspolitik“ gehört zu den vielen Wörtern, die im politischen Denken der heutigen Gesellschaft herumflattern, die keine vernünftige Definition kennen, die alles bedeuten können und auch das Gegenteil, und die insgesamt eher zur Verwirrung beitragen als zur Klärung. Es ist vermutlich kein Zufall. Jeder Begriff, den diese Gesellschaft oder ihre Bestandteile zur Selbstbeschreibung verwendet, teilt diese Unklarheit.

Deswegen benutzen wir solche Begriffe nach Möglichkeit nicht. Das materialistische Wörterbuch hat bisher noch jedesmal genauere Begriffe angeboten, für deren Inhalt man sich nicht auf die Ehrlichkeit der Leute verlassen muss, die man mit ihnen bezeichnet. Ob diese materialistischen Begriffe richtig verwendet werden, erkennt man daran, dass sie Wirkung haben, d.h. Klarheit erzeugen, wo vorher keine war; und einen gegebenen Zustand als unhaltbar offenlegen, der vorher ertragen worden ist.

Falls dem Materialismus einmal solche Begriffe ausgehen, und erst dann, wird man ihn als widerlegt ansehen dürfen.

2. Was auch immer „Identitätspolitik“ einmal geheissen hat, in den letzten 10 bis 15 Jahren ist das Wort zu einem Anzeiger für das Denken einer verwalteten Welt geworden. Sie ist heute nirgendwo mehr eine Waffe in den Händen der Unterdrückten, sondern in den Händen derjenigen, die das Recht beanspruchen, zu entscheiden, wer reden darf und wer schweigen muss.

Niemand unter den Unterdrückten hat diese Macht. Wer ist denn unter den Unterdrückten ihre authentische Stimme? Sie werden ja nicht alle zufällig genau das gleiche denken. Es werden aber nicht alle gleichermassen gehört, sondern nur diejenigen, deren Stimmen Gehör verschafft wird. Von wem? Von denen, die diese Macht haben.

Nehmen wir die Palästinenser. Spricht die PFLP und ihr Umfeld, Samidoun usw., ingesamt der völkische Flügel der palästinensischen Linken für diese? Oder sind es eher Leute wie z.B. Hamza Howeidy? Diese Frage ist für einen Materialisten absurd, weil er nie auf den Gedanken käme, ihnen eine und nur eine Stimme zuzurechnen. Selbstverständlich gibt es verschiedene politische Linien in der palästinensischen Politik, und sie sind auf den Tod verfeindet wie überall sonst.

Für wen also ist dieser Gedanke nicht absurd, sondern sogar selbstverständlich? Für diejenigen, die beanspruchen, in ihrem Namen zu handeln, und die sich deshalb eine Vollmacht ausstellen lassen müssen. Sie müssen sich natürlich diejenigen heraussuchen, die bereit sind, ihnen diese Vollmacht zu erteilen. Die anderen sind natürlich Verrätesr, „tokens“, keine „echten“ Palästinenser, weil sie nicht denken und reden wie „echte“ Palästinenser.

Und das heisst nichts anderes als: man gesteht den Unterdrückten eine und genau eine Weise zu, was sie zu denken und wovon sie zu reden haben. Halten sie sich daran, werden sie immerhin gehört. Halten sie sich nicht daran, werden sie ignoriert. Es bedarf dazu gar keiner ausdrücklichen Entscheidung oder überhaupt einer aktiven Handlung, sie existieren einfach nicht, und was sie sagen, kommt nicht in Betracht.

Im Grunde geschieht hier, wenn auch nur auf der Ebene der Illusion, dasselbe, was imperiale Politik tut: für ein unterworfenes Gemeinwesen wird eine genehme Führung eingesetzt.

3. Tut „Identitätspolitik“ heute irgendwo etwas anderes? Gelegentlich müssen „Identitätsgruppen“ erst definiert werden, aber welche anerkannt werden, der Grad ihrer relativen Unterdrückung im Vergleich untereinander, und wer für sie spricht, das alles wird nicht von Unterdrückten entschieden, sondern von denen, die die Macht dazu haben. (1) Die Ausübung dieser Macht ist nichts anderes ist als eine Einmischung in die Willensbildung der Unterdrückten, und ihr Ziel ist jedesmal das gleiche, nämlich eine genehme Führung zu installieren.

Der Nutzen für die interpretierende und verwaltende Klasse ist gross. Er sichert ihnen ihre Legitimation, nämlich die Fortdauer ihres Anspruchs, jedes Übel der Gesellschaft und die Weise seiner Abhilfe bestimmen zu können.

Für die Gesellschaft insgesamt und für die gesellschaftliche Bewegung läuft die Fortdauer dieses Zustands darauf hinaus, den unterdrückten Klassen jede Möglichkeit der Selbstbestimmung zu nehmen. Alle ihre Belange werden bisher von den interpretierenden Klassen verwaltet, d.h, bewirtschaftet. Die interpretierende Klasse hat an einer Veränderung nicht das geringste Interesse. Je weniger sie in der Lage ist, die Probleme auch nur zu verwalten, desto aggressiver muss sie reagieren auch nur auf den Versuch, sie ihnen aus den Händen zu nehmen.

Was also in jedem Falle in Grund und Boden verwaltet werden muss, ist jede Art des nicht vorschriftsmässigen Denkens unter den Unterdrückten.

„Identitätspolitik“ ist heute die Form, in der die verwaltete Welt gegen unvorhergesehene Gedanken vorgeht. Sie ist daher beliebt bei den verwaltenden Klassen und denen, die es gerne wären, bis hinunter zu den Bewegungsbürokraten und den Ein-Mann-Zentralkomittees, d.h. den „linken“ Intellektuellen.

Sie haben die Welt gern übersichtlich. Was wahr und was falsch ist, ist ihnen im Kern egal, so wie es dem Verwaltungsvollzug von je her gleichgültig gewesen ist.

Alle zusammen wachen sie über die am weitesten vorgeschobene Befestigung des Feinds, das vorschriftsmässige Denken. Diese Befestigung muss und wird umgangen werden, erst dann werden andere Dinge möglich sein.

Anmerkungen

1
Sie streiten es natürlich ab. Sie werden sagen: nein, im Gegenteil jede unterdrückte Gruppe entscheidet über die Umstände ihres Kampfes selbst, und was eine unterdrückte Gruppe ist, weiss nur die unterdrückte Gruppe selbst. Diese Sätze sind völlig zutreffend, indem sie den historischen Prozess, beschreiben, der bekanntlich in Abwesenheit eines Schiedsrichters abläuft. Dass sie es aber nicht so meinen, zeigt sich, wenn man sie bittet, diese Sätze auf den Zionismus anzuwenden.

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„Brenn“ Vorauflage

Das Magazin für aufrührerische Dichtung „B’renn“ hat seine Vorauflage zur ersten Ausgabe herausgebracht. Sie wird an Interessierte verschickt mit der Gelegenheit, Kommentare anzubringen, die in der endgültigen Auflage mit abgedruckt werden sollen.

Interessierte melden sich über die üblichen toten Briefkästen oder über das Thier.

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Aufruf: Zeitschrift für aufrührerische Dichtung

Aus dem letzten Heft:

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Too bad, no magic, I’m afraid you’re really tragic

Ein anderes ÄUßERST wichtiges Thema, welches praktisch direkt nach den Befindlichkeiten der bereitwillig zum Staatsvorfeld degradierten ostdeutschen radikalen Linken nach den thüringischen und sächsischen Landtagswahlen kommt, ist ein aufgetauchtes Diskussionspapier der britischen Anarchisten zum Thema Szenevereinnahmung durch den sog. Queeraktivismus.

The turf war zone / the new offence

Shit wigs and steroids

Vor allem der Name „The new offence“ hat etwas unwiderstehlich sympathisches in sich. Wir haben uns schon gefragt, was aus dem Pamphlet gegen den Anarcho-Liberalismus aus dem Jahr 2018 geworden ist. Nun, hier ist es offensichtlich, das Argumentationsniveau ist erwartbar niedrig: wir sind die Arbeiterklasse und ihr seid wahlweise cocks in frocks oder soft cunts aus den Großstadtbüros. Es ist unbestreitbar billig, wenigstens bei der Bezeichnung der Opponent*Innen hätte man sich festlegen können. Wie auch immer, that‘s the spirit right now. Fühlt sich jemand berufen, es besser zu machen, macht es bitte, es ist längst Zeit!

spf

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