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Wir müssem über die Veränderungen reden, die mit den Dörfern in den Jahren seit den 1950er Jahren geschehen sind. Ohne diese Veränderungen sind die der Städte nicht zu verstehen.
Nehmen wir eine Monstrosität wie den Europastern in Würzburg, eine Wüste aus Fahrspuren und Betonpfeilern von der Grösse eines kleineren Stadtteils. Als dieses Ding geplant wurde, lag es im Grunde am Stadtrand. Seither ist es von Gewerbe- und neuen Wohngebieten einigermassen ist Stadtinnere eingewuchert worden. Dieses mehrspurige Scheusal reicht auch für den heutigen komplett irrsinnigen Verkehr beinahe noch aus.
Diese Tatsache ist auffällig. Als er in den 1960ern geplant worden ist, gab es in Dörfern, in denen heute 300 Autos stehen, ungefähr 3. Man soll nicht glauben, dass es unter der gewöhnlichen Bevölkerung der Städte anders ausgesehen hat. Man muss sich dieses Bauwerk am Anfang als im Vergleich zu heute menschenleer vorstellen.
Umgekehrt gab es in denselben Dörfern, in denen es heute 5 Vollerwerbs-Landwirtschaften gibt, 200. Und wir reden hier von Leuten, die noch ihre Besen selbst gebunden haben.
Was dazwischen liegt, kann nur als gewaltige Mobilisierung von Arbeitskraft bezeichnet werden. Und zwar Mobilisierung im mehrfachen Sinne, einerseits Verfügbarkeit für den Arbeitsmarkt, andererseits Bedarf nach Motorisierung. Die Bauern fahren natürlich nicht mit dem Auto zur Arbeit, sie sind damals tatsächlich auf ihre Felder oft noch zu Fuss gegangen.
Die ungeheure Zunahme des Automobilverkehrs ist zu einem erstaunlich hohen Teil die direkte Folge der Verwandlung der Landbevölkerung von Bauern in Verkäufer von Lohnarbeit. An dieser Stelle dürfen gern die besonders Gescheiten ihre Nase rümpfen und irgendetwas von der „Idiotie des Landlebens“ sagen, die man damit glücklich überwunden habe, oder irgendeine andere bedeutungslose Phrase.
Diese Verwandlung ist natürlich nicht freiwillig geschehen. Wenn man probeweise einmal die Relationen zusammenrechnet), wie sich eine Personenstunde in der Landwirtschaft gegen eine Personenstunde gewerblicher Arbeit ausgetauscht hat, wird man erstaunt sein. Das geht natürlich fast nur auf Grundlage anekdotischer Evidenz und auch nicht direkt, sondern man muss ein paar Proxys verwenden. Wieviel Schweine musste ein Bauer 1955 verkaufen, um die Personenstunden zu bezahlen, die im Bau eines neuen Hauses stecken? Wieviel waren es 1995? Raten sie die Zahlen, stecken Sie sie in einen Umschlag mit 85 Cent in Briefmarken für die Antwort, und nehmen Sie an der Verlosung teil! (Auflösung weiter unten).
Die Relation ist erstaunlich. Der Bauer musste 1995 etwas mehr als hundert mal mehr Schweine verkaufen als 1955, um die Personenstunden für ein Haus zu bezahlen. Und Schweine waren auch vorher kein absolut knappes Gut, die Bauern waren damals zahlreicher und hatten keinerlei Anbietermacht, so dass der Schweinepreis sich als Proxy durchaus eignen dürfte für die epochale Entwertung landwirtschaftlicher Arbeit.
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Man wird mir einwenden, 1955 gehöre noch zu den letzten Mangeljahren nach dem Krieg. Ja, genau darum handelt es sich. Diese Mangeljahre wären der Normalzustand in einer warenproduzierenden Gesellschaft. Die Abweichung von diesen Relationen kommt durch den Effekt einer prosperierenden kapitalistischen Industrieproduktion zustande, und die kam für unser Zeitalter damals erst langsam wieder in Gang. Und es ist genau diese Konjunktur, deren Aufsteig, Durchsetzung, Reife und Fäulnis wir seither erlebt haben.
Anstatt als Normalzustand eine funktionierende, exportierende und hohe Profitraten schiebende Industrieproduktion anzunehmen, wie es den Leuten des westlichen Marxismus meistens widerfährt, sollte man stattdessen einmal nach der Herkunft und Eigenart desjenigen Reichtums fragen, der eine solche Wirtschaft möglich macht. Man sollte, mit einem Wort, die Gesellschaft des Wirtschaftswunders als ein logisches Rätsel betrachten. Man tut es meistens nicht, denn es lässt sich so schlecht lösen; es ist viel einfacher, so zu tun, als wäre es keines.
Meine ausführlichen Überlegungen zu diesem Problem kann ich hier nicht mitteilen, sie sind nachzulesen in „Staat oder Revolution II“, welches mein Verlag hoffentlich dereinst einmal herauszubringen sich im Stande sehen wird. Hier muss es ausreichen, dass man das schwer begreifliche daran nicht als einen Nebenaspekt, sondern als den Kern der Sache selbst ansieht: die Entwertung landwirtschaftlicher Arbeit zugunsten gewerblicher ist das, was kapitalistische Akkumulation überhaupt ermöglicht, und diese Akkumulation gelingt nur, wenn sie diese Entwertung aufrechtzuerhalten vermag. Mit einem Wort also, Rosa Luxemburg hatte Recht. Weiterlesen →