Buchbesprechnung: S. Krüger, „Kritik der politischen Ökonomie und Kapitalismusanalyse“

(und zu guter Letzt die Besprechung aus dem letzten Heft – dGT)

Stephan Krüger, „Kritik der politischen Ökonomie und Kapitalismusanalyse“, 6 Bde., Hamburg 2010-2019, VSA Verlag

Die globale Krise von 2008 f. hat eine Reihe von Fragen wieder zu Ansehen gebracht, die früher ein eher verstecktes Dasein geführt haben. Überall in der linken und gewerkschaftlichen Literatur werden auf einmal wieder Debatten geführt, die irgendwann einmal in den 1980ern mehr oder minder sanft eingeschlafen waren; was ist eigentlich Geld, worauf beruht eigentlich die kapitalistische Produktion, wie und warum entstehen eigentlich Krisen?

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Sicherlich übertreiben wir masslos, wenn wir behaupten, diese Debatten wären vor 2008 nicht geführt worden! Sind nicht trotzdem jedes Jahr etliche neue Titel auf dem Buchmarkt aufgetaucht, von den verschiedensten Autoren, aus den verschiedensten Blickwinkeln und mit den verschiedensten Hintergründen? Ja, aber alle diese Theorien haben auf unheimliche Weise friedlich koexistiert, als wäre die Zeit schon angebrochen, wo der Wolf neben dem Schaf Gras rupft, Jes. 65, 25.

Ausser Robert Kurz und der Krisis auf der einen, der ISF Freiburg auf der anderen Seite, die man beide zusammen die „Wertkritik“ nannte, gab es unseres Wissens keinen Gegensatz in der Debatte, der noch irgendwie als feindlich bezeichnet werden konnte, jedenfalls nicht mehr seit 1989. Alle Standpunkte auf der Linken waren zu etwas ununterschiedenem zusammengeflossen, es war in Wahrheit ganz egal, ob man aus der leninistischen Stamokap-Schule kam oder vom Keynesianismus; die gegenseitigen Standpunkte taten sich, wie Schelling sagen würde, nicht mehr weh. Das ist nie ein gutes Zeichen.

Es ist nicht recht klar, ob es daran lag, dass nichts mehr von der Antwort auf diese Fragen abzuhängen schien, oder ob es aussichtslos war, darüber auch nur im Ernst nachzudenken; oder ob sich die Ansicht verbreitet hatte, dass der Gegenstand zu diesen Fragen irgendwann, vermutlich vor langer Zeit, abhanden gekommen war. Seit dann 1999 Huffschmidts „Politische Ökonomie der Finanzmärkte“ bei VSA erschien, musste allen klar sein, dass es niemandem mehr gross um die Einzelheiten scheren würde.

Allerdings stellt sich nach 2008 die Sache anscheinend plötzlich völlig anders dar. Nicht nur hierzulande, sondern überall scheinen die oben genannten Fragen plötzlich wieder mit Unnachgiebigkeit diskutiert zu werden. Man muss sich vorstellen, dass sogar ein gemütlicher und völlig unbekannter Verein wie die International Working Group on Value Theory über die bisher exotische Frage des Profitratenausgleichs plötzlich einfach auseinandergefallen zu sein scheint; dass also plötzlich Fragen akut, ja dringend wurden, die früher lange Zeit, und zwar vermutlich seit den 1960ern schon, für immer unwichtiger gehalten oder verschämt verschwiegen wurden.

Die Idee, alle die verschiedensten Tendenzen, Leninismus, antirevisionistischen Marxismus, Neue Marx-Lektüre und Keynesianismus und alles das irgendwie zusammenfügen zu können, hatte vor 2008 nicht funktioniert, sie bildete keineswegs die theoretische Unterlage für eine neue globale Linke; nach 2008 blamiert sie sich endgültig, weil ihre konstituierenden Bestandteile, wie sich zeigt, in Wahrheit in verschiedene Richtungen ziehen. Mit Verblüffen sieht man, dass nicht nur die europäische Linkspartei zwei Gesichter hat, die allerdings auf dem identischen Kopf sitzen, sondern auch alle ökonomische Theorie, die sich nichtsdestoweniger auf den identischen Marx zu berufen gezwungen ist.

Auf einmal erstehen die vergessenste marxologischen Gespenster wieder auf aus ihren stillen Grüften, selbst die des Dritten Bandes; was rede ich, sogar schon die des Zweiten, und den hat immerhin so gut wie niemand gelesen. Über die Antworten auf diese Fragen besteht natürlich keine Einigkeit, aber immerhin wird allen klar, dass keine Einigkeit besteht. Das ist immerhin etwas; in so einem Klima ist es wahrscheinlicher, dass es irgendwann welchen aufgeht, dass es die ganze Theorie, die bis vor kurzem noch alle in der Tasche zu haben meinten, gar nicht gibt.

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Stephan Krüger hat bei VSA jetzt eine „Kritik der Politischen Ökonomie“ in 6 Bänden veröffentlicht. Das ist ohne Zweifel ein Mammutwerk, das den besten Teil eines Jahrzehnts verschlungen haben dürfte, uns man kann das nicht ohne Respekt sagen. Ich weiss nicht, wieviele Leute sich die Mühe gemacht haben, sie zu lesen; ich weiss aber aus sicherer Quelle, das solche Bücher, wie AGBs, nicht dazu da sind, sie zu lesen, sondern um sich darauf berufen. Ein Buch dieser Länge und dieses Sachumfangs dient dazu, eine komplexe These aufzustellen, und sie über das ganze Gebiet einer Wissenschaft durchzuführen, um einen Beweis zu führen. Einen Beweis für eine bestimmte Art, das Wissenschaftsgebiet zu betrachten; dass sie nämlich eine vollständige Beschreibung ermöglicht; und einen Beweis für eine bestimmte Art des Umgangs mit diesen Ergebnissen, nämlich einen Möglichkeitsbeweis für eine bestimmte Art von Politik.

Die Art der Anschauung ist die keynesianische, und die Art der Politik ist, was Stephan Krüger sozialistische Marktwirtschaft nennt, und worüber hier also 6 Bände lang Beweis erhoben wird, ist die reale Durchführbarkeit einer sozialdemokratischen Politik neuen Typs. Es gibt durchaus einen gewissen Teil der neueren Literatur, mit dem Krüger hier konkurriert, und wenn wir uns den Namen Piketty (sng) in Erinnerung rufen, wird er diese Konkurrenz zumindest in der Publikumsgunst verlieren. Aber damit ist nicht gesagt, dass er ihn in Hinsicht auf seine Wirkung verlieren wird.

Der VSA-Verlag verlegt nichts ohne Grund, und ich nehme an, dass er Krüger nicht denselben horrenden Druckkostenvorschuss abverlangt hat, über den andere VSA-Autoren mir berichtet haben. Hochgerechnet auf Seitenzahl und angesichts der vergleichsweise aufwendigen Ausstattung der Bücher hätte das Krüger ein mittleres Vermögen gekostet, das er nie wieder hereinbringen kann. Der VSA-Verlag hat sich aber strategisch seit den 1990ern erst als Hausverlag der DGB-Linken, dann der globalisierungskritischen Linken aufgestellt; das folgt einer strategischen Entscheidung des Verlags und der angeschlossenen Zeitschrift „Sozialismus“, nach 1990 zusammen mit der KB-Mehrheit strategisch mit der PDS, und zwar deren koalitionsorientierten Flügel zusammenzuarbeiten (Wagenknecht wurde damals von der antideutschen KB-Minderheit und der Zeitschrift „konkret“ herumgereicht).

Das Verlagsprogramm gruppiert sich um eine mittlere Linie, die in etwa die Verlagslinie darstellen dürfte, und daneben einige outliers wie Sandleben zur Linken und Wendl zur Rechten; interessant ist aber auch, wer nicht verlegt wird. Einige Arbeiten, die ich für grundstürzend halte, sind dort abgelehnt worden. Die Verlagslinie selbst bewegt sich um den Versuch einer Synthese, die in etwa das Spektrum dessen abdeckt, was vor 2008 recht unterschiedslos nebeneinander stand; es wird kein Versuch gemacht, dieses Spektrum zu erweitern, in dem man bisherige Aussenseiter hereinnimmt, die grundsätzlich andere Fragen stellen. Es ist aber anscheinend klar geworden, dass es einer ganz anderen Anstrengung bedarf, auf diesem Boden wirklich eine Synthese zu formulieren, die hegemoniefähig ist; das heisst: wissenschaftlich formulierbar, und politikfähig.

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Seit ich denken kann, ist in linken Kreisen der stehende Witz über einen ehrgeizigen Autor, dass er das „Kapital“ fertigschreiben wolle; und das hat Krüger buchstäblich unternommen, wenn auch unter dessen alten Titel. Löst das Werk den Anspruch, eine Kritik der politischen Ökonomie zu sein, denn auch ein? Zunächst ist es auffällig, dass die Kritik der politischen Ökonomie selbst wieder eine politische Ökonomie ist, und zwar diesmal eine in sich logisch zusammenhängende. Das stellt das ganze Unterfangen grundsätzlich in Frage: wenn eine ökonomische Theorie für eine von den Übeln des Kapitalismus befreite Gesellschaft denn mit den Mitteln der Theorie aufzufinden wäre, warum ist nicht früher schon einer draufgekommen?

Die zweite Frage, die sich mir aufdrängen würde, wenn ich aus welchen Gründen auch immer ein Buch unter diesem Titel schreiben wollte, wäre: was ist eigentlich der Gegenstand der Kritik, die „politische Ökonomie“? Historisch versteht man darunter die erste ökonomische Lehre mit wissenschaftlichem Anspruch, die klassische Ökonomie, die Lehre von Smith und Ricardo. Die originale „Kritik der politischen Ökonomie“ hat diese Lehre an ihrer wissenschaftlichen Wurzel, der Rechtfertigung des Eigentums aus der Arbeit, so gründlich aufgesucht, dass von ihr nichts übrig geblieben ist; oder besser, dass sie abgelöst worden ist von ökonomischen Theorien, die man verlegenheitshalber als neoklassische Lehre bezeichnet: immer noch auf dem Standpunkt des Eigentums, aber ohne eine Spur des Versuchs, es zu begründen, und ebendeswegen streng genommen auch ohne wissenschaftlichen Wert.

Umgekehrt muss man den frühen Neoklassikern, insbesondere Böhm-Bawerk und Bortkiewicz, zugestehen, dass sie die marxische Lehre beerdigen helfen haben; die sozialdemokratische Bewegung um 1900 hat sich ja dem Namen nach auf Marx bezogen, aber mit seiner Lehre wenig anzufangen gewusst. Um so weniger Widerstand fand die frühe Neoklassik bei ihrem Angriff auf das Herzstück des „Kapital“, die Lehre von der Profitrate. Bis heute gilt dieser Angriff als äusserst erfolgreich, der ganze Band 3 geriet sogar bei den selbstbezeichneten Marxisten in Misskredit, und die ganze Schule schämt sich seitdem sozusagen über den Hauptpunkt der eigenen Schuldoktrin und sucht Entschuldigungen dafür, wie Marx dieser Fehler unterlaufen konnte, und Gründe, warum trotzdem Reste seiner Lehre zu retten sein sollten, wenn sie nicht gleich, wie der Hauptstrom sowohl der Leninisten wie der SPD, gleich nach 1900 die ganze theoretische Basis ausgewechselt hat.

Mit einer solchen Schule kann man ja nun nicht viel anfangen, und eigentlich muss man sich dann auch über nichts mehr wundern. Rätselhaft ist eigentlich nur, warum man dann nicht Marx gleich ganz aufgibt und ihn Leuten überlässt, die mit seinen Sachen was anfangen können, statt ihn nicht nur immer und immer wieder herbeizuzitieren, sondern aus ihm solch einen Heiligen zu machen, dass man jeden einzelnen Halbsatz seitenweise interpretiert, und solch einen wirren Heiligen, dass man seine Privatbriefe hernimmt, um seine veröffentlichten Schriften zu interpretieren; ein Verfahren, das man aus der Hölderlin-Philologie entnommen hat und das schon dort eine Unverschämtheit gegen den Autor ist.

Hier ist vermutlich nicht der richtige Ort, nachzuweisen, dass es mit den Sätzen des Band 3 mehr oder minder seine Richtigkeit wirklich hat; dass also nicht 50 Jahre, wie Lenin meinte, sondern 150 Jahre marxistischer Literatur Marx nicht verstanden haben. Hier ist auch nicht der Ort, nachzuweisen, dass es an gründlich formulierten Einwänden gegen dieses Treiben nie gefehlt hat, dass vielmehr alle paar Jahre ein Autor auf die richtige Lösung tritt; und auch nicht der Ort, nachzuweisen, dass dieses Missverständnis nicht aus Unwissen, Dummheit oder Mangel an Mühe geschieht, sondern System hat; dass die neoklassische Kritik so dünn sein konnte, wie sie wollte, weil sie auf die Bereitschaft traf, das Feld zu räumen; weil der Hauptstrom der Linken naturgemäss überhaupt nie interessiert war an einer Kritik, die nicht „die Pfeiler des Hauses stehen lässt“. Uns, der Linken der Linken, geht es ebenso naturgemäss ganz anders.

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Es war also eigentlich ganz in der Ordnung, dass die Sozialdemokratie, als sie nach dem grossen Krieg sich neu sortiert hat und in Besitz der Staatsmacht geriet, sich nach etwas anderem umgesehen hat als der Lehre von Marx. Diese Lehre gibt für so etwas keinerlei Basis ab. Sie zeigt, zu Ende gedacht, diese Wirtschaftsordnung als einen gigantischen Auffahrunfall, der den Nachteil hat, stellenweise plausibel zu sein. Auf der Basis der „Pfeiler des Hauses“ lässt sich nichts gutes errichten. Eine andere Gesellschaft kann durchaus gebaut werden, aber das erfordert bewusste, massive und gemeinsame Aktion. Eigentum, Familie und Staat sind die Namen der „Pfeiler des Hauses“.

Die Sozialdemokratie an der Macht kann an so etwas kein Interesse haben. Diese Sozialdemokratie hat eine andere ökonomische Theorie nötig. Historisch geliefert hat sie John Maynard Keynes, und durchgesetzt hat sie sich zuerst gar nicht innerhalb der Sozialdemokratie, sondern unter den Demokraten des amerikanischen New Deal und unter dem rechten Flügel der britischen Labour Party, welche Parteien beide nicht zur klassischen Sozialdemokratie gehören, und insbesondere unter den Bedingungen der Weltkriegswirtschaft. Die Sozialdemokratie nach dem zweiten Weltkrieg fand beides, die Praxis der Kriegswirtschaft und die keynesische Lehre fertig vor.

Die bürgerliche Partei der Arbeiterklasse, die keine eigene Idee zu ihrer paradoxen Mission haben konnte, traf auf diejenige Lehre, in deren Gestalt die bürgerliche Ökonomie ihre unlösbaren Probleme zu lösen beabsichtigt, indem sie ihre unüberschreitbaren Grenzen überschreitet. Das Ergebnis dieses Treffens war nicht ohne weiteres zufriedenstellend. Die krisenhaften Entwicklungen seit den 1970ern waren in dieser Form in der keynesianischen Lehre nicht vorgesehen, und die Lehre geriet ins Hintertreffen, und mit ihr die Sozialdemokratie. Die Debatten, von denen wir vorhin gesprochen hatten, begannen in dieser Zeit und vor diesem Hintergrund.

Der Nerv von Keynes‘ Lehre ist die Geldtheorie; das Geld ist für die ökonomische Wissenschaft immer eine schwierige Sache gewesen, es bietet eine Reihe von begrifflichen Schwierigkeiten und logischer Probleme, von denen wir fürs erste ohne weiteres annehmen können, dass sie auf dem Boden der ökonomischen Wissenschaft unlösbar bleiben werden. Gleichzeitig gehört Geld natürlich zu den Grundbegriffen dieser Wissenschaft. Sie befindet sich in der merkwürdigen Lage, mit ihren eigenen Grundbegriffen nicht viel anfangen zu können. Auch das ist nie ein gutes Zeichen.

Die Neoklassik, nicht viel anders als die klassische Ökonomie, tut eigentlich so, als treibe sie Wissenschaft von Gütern; als sei das Geld eigentlich nicht vorhanden, und müsse erst in einem zweiten Schritt dazugedacht werden, liegt wie ein Schleier über der sogenannten Realwirtschaft. In der klassischen Theorie ist diese Lehre eigentlich zusammengewachsen mit dem grundlegenden Problem, eine von wertbildenden Arbeitsmengen beherrschte Güterwirtschaft mit ihrem Preisausdruck, der monetären Welt, zu verknüpfen; also gerade mit dem sogenannten Transformationsproblem, das Marx beansprucht, begrifflich gelöst zu haben. Die neoklassische Lehre hat genau diesen Problemkomplex herausgeschnitten, und endet dann dennoch bei einer Trennung von Real- und Geldwirtschaft, ohne diese Trennung eigentlich noch begreifen zu können.

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Keynes‘ Lehre begreift das Geld nicht als einen neutralen Schleier über der Güterwirtschaft, sondern erstens als ein Gut neben anderen Gütern, und zweites seinen Markt als den zentralen Markt, dessen Bewegungen alle anderen Gütermärkte beeinflussen. Er stiftet damit einen Zusammenhang aller Märkte, und aller Güterpreise einschliesslich der Arbeitslöhne. Von dieser Position aus werden zwei Dinge begreifbar: die vielfältigen Schwierigkeiten einer kapitalistisch dominierten Wirtschaftsordnung sind nicht einfach mehr oder minder zufällige Störungen, sondern zwingende Folgen der seltsamen Eigenheiten des Geldes, dessen verschiedene Gebrauchswerte, die Geldfunktionen, in Widerspruch zueinander stehen; der Nomalzustand der Märkte ist deswegen zwingend die Unterauslastung, das heisst Arbeitslosigkeit und Armut. Und zweitens ist dieser Zustand aber bewusster Regelung zugänglich, sobald die ökonomischen Grössen bekannt sind; der demokratische Staat muss die kapitalistische Ökonomie nicht in der gläubigen Hoffnung hinnehmen, dass sie das Versprechen allgemeiner Wohlfahrt von sich aus einlösen werde.

Für das Selbstverständnis der bürgerlichen Gesellschaft ist diese Idee zentral. Und sie ist, seit Adam Smith sie formuliert hat, nie eingelöst worden. Die Gründung der bürgerlichen Gesellschaft ist nicht nur unbeendigt, sondern sie ist gescheitert, und nicht nur einmal, sondern viele Male, und viele Male neu unternommen. Lord Keynes‘ Lehre ist nur einer unter diesen Anläufen, unternommen an dem Moment, an dem die älteste kapitalistische Hauptökonomie, das britische Imperium, das als erstes den kapitalistischen Weltmarkt hergestellt hatte, in den Niedergang ging. Die Erben dieses Imperiums als Hauptträger des bürgerlichen Projekts waren die USA und die Sozialdemokratie; mit einem Wort, der Westen.

Auf diesen Linien, und an dieser historischen Kreuzung, wo wir vom gleichzeitigen Niedergang dieser beiden sehr verschiedenen Mächte reden müssen, finden wir den Versuch Krügers vor; den Versuch, das ganze theoretische Gewebe des „Kapital“ von seinen Ergebnissen her nach rückwärts aufzurollen und neu zu weben, und zwar auf der Basis nicht der klassischen, sondern der keynesianischen Ökonomie. Was bedeutet das? Kann man marxistische Kritik der Ökonomie treiben und gleichzeitig die kritisierte Ökonomie auch noch?

Man muss sich die Polemiken im Umfeld des VSA-Verlags dazu ansehen. Sie richten sich nicht selten gegen die Wagenknecht-Linke, für die sich umgekehrt dieselbe Frage stellt: sie tut so, als treibe sie Marxismus, während sie in Wirklichkeit Neoklassik treibt. Die Wagenknecht-Linke hält an den vermeintlich handfesten und populären Gedanken des kleinen Eigentums, der ehrlichen Arbeit, der missbrauchten Marktmacht, der soliden und der unsoliden Finanzierung fest, sie formuliert letztlich einen linken Populismus der Marktwirtschaft. Alle ihren Sätze sind eigentlich längst der marxistischen Kritik verfallen, aber sogar noch der keynesianischen. Von Krügers Standpunkt aus gesehen, und das ist die Lösung des Rätels, fällt beides irgendwie zusammen: solange die Wagenknecht-Linke eines der beiden Gesichter der europäischen Linkspartei darstellt, und das wird immer so sein, hat eine marxistisch-keynesianische Hybride den erborgten Anschein der Plausibilität für sich.

Was nun diese ganze Situation noch weiter kompliziert, oder eigentlich ihren Kern bildet, ist die Krise der Europäischen Union und ihres Kerns, der Eurozone. Der Niedergang der bisherigen Sozialdemokratie in Europa ist vor allen Dingen eine Funktion dieser Krise, die sich schon in den 1990ern angedeutet hat. Dass nach 208 nicht gelungen ist, die europäische Integration zu einer politischen Einheit auszubauen, hat die Lage hervorgebracht, dass am Beispiel Griechenlands vor aller Augen demonstriert wurde, wie dieses Europa die Krise zu bannen gedenkt. Die europäische Sozialdemokratie trug die politisch durchgesetzte Verarmung eines ganzen Landes mit, im Austausch gegen eine halbwegs keynesianische Währungspolitik; sie zog sich damit den Hass aller zu, beider Enden des Spektrums: der wirklich Verarmten, als auch derer, die fürchten, mit undurchsichtigen Finanzmanövern der Europäischen Zentralbank um ihr Erspartes gebracht zu werden. Der Aufstieg der AfD und ihres Spiegelbilds, der Wagenknecht-Linken, und der Niedergang der Sozialdemokratie gehören zusammen.

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Für jeden Wiederaufstieg einer europäischen Sozialdemokratie ist politische Integration der EU eine Bedingung; die andere ist die Darstellbarkeit keynesianischer Politik in dieser. Ohne das ist die Idee sinnlos, aus einer aus der Form gelaufenen Freihandelszone einen Rahmen für gesellschaftlichen Fortschritt gewinnen zu wollen. Und auch für die europäische Linkspartei, wo sie einen Platz in einer neuen sozialdemokratischen Konstellation sucht, ist also so etwas wie eine kritische Solidarität mit der EZB am Platz.

Zeichnet sich denn aber schon deswegen damit der Umriss eines neuen sozialistischen Anlaufs ab? Man kann es noch nicht so richtig glauben. Alles, was man bisher sieht, ist der theoretische Versuch, dieses mit Mitteln einer marxistischen Theorie zu begründen, indem deren Äquivalenz mit der keynesianischen bewiesen wird. Es ist unwahrscheinlich, dass diese Operation gelingt; die „Kritik der politischen Ökonomie“ hat mit der europäischen Linken das eine gemeinsam, dass beiden ihre jeweils eigenen Gespenster nicht auszutreiben sein werden.

Die neue Orthodoxie, an der im Hause VSA genauso gearbeitet wird wie in den Schreibstuben fleissiger Professoren wie Stützle, Heinrich, oder Elbe, ist im Inneren unwahr. Ob sie daran arbeitet, Marx zum Keynesianismus herunterzubringen oder für das glatte Verständnis studentischer Theoriezeitschriften zuzurichten, bleibt am Ende sich gleich; in beiden Fällen ist sie gezwungen, eine ganze Reihe Umstände zu unterschlagen, die dem glatten Verständnis und der glatten Handhabung entgegenstehen. Es läuft am Ende ohnehin beides aufs gleiche hinaus.

Nehmen wir nochmal das Geld. Es ist völlig klar, dass das eine mysteriöse Angelegenheit ist, und Marx hat niemals den Eindrcuk erweckt, für sie eine ganz einfache Lösung vorzulegen. Sowenig wie aus der Schulökonomie wird man aus dem „Kapital“ eine glatte Formel dafür mitnehmen können, was Geld eigentlich ist. Die Schulökonomie unterscheidet Geldfunktionen, und sie unterscheidet Geldformen, und deren Bestimmung widerspricht sich ab und zu, ohne dass man dagegen recht etwas tun kann; und man kann, wenn man will, bei Marx einen Grund finden, warum das so ist. Was man nicht finden wird, ist eine alternative bessere Theorie, die das ganze in einem Aufwaschen erklärt.

Seit Anbeginn der Geldwirtschaft taucht zum Beispiel das auf, was Marx Geldware nennt; nennen wir sie beispielhaft Gold. Ist Gold also Geld? Aber ein Wechsel z.B., ein Bankguthaben, ein Schuldversprechen ist auch Geld. Eine Banknote mit Zwangskurs ist auch Geld. Man kann nun sehr leicht marxistische Theorie treiben, indem man einfach die beiden letzten Bestimmungen unklar fasst, so dass sie verschwimmen, und die erste, die Geldware, unter den Tisch fallen lässt; wie vom Standpunkt der heutigen Zentralbanken Gold ja nicht mehr als Geld, auch nicht mehr als Deckungsreserve gehalten wird.

Damit ist eigentlich die letzte Irritation am Geldrätsel verschwunden, und das Geld lässt sich als so etwas wie ein Schuldversprechen begreifen, mithin ganz glatt verstehen, es bietet eigentlich überhaupt kein Geheimnis mehr dar. Oder doch? In der Krise gehen die Anleger, man weiss nicht, warum, dann doch wieder ins Gold, und die Banknoten hinwieder sind eigentlich keine Schuldversprechen mehr, seit gerade die Einlösepflicht in Gold abgeschafft worden ist. Was für ein Leistungsversprechen deckt denn die Banknote? Als Deckungsreserve halten die Zentralbanken anderes Zentralbankgeld, eigentlich Banknoten anderer Zentralbanken; sie garantieren sich ihre Banknoten gegenseitig.

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Wir erinnern uns, vor Zeiten einmal Jochen Bruhn in einem Vortrag über diese Merkwürdigkeiten reden hören zu haben; in der Literatur finden wir recht wenig. Ein derzeit noch ungedrucktes Manuskript von Thilo Schumm behandelt sie, zuweilen in Worten, die an Jochen Bruhn erinnern; und Schumm zieht ziemlich gnadenlos die Verbindung zwischen der theoretischen Zurichtung der marxischen Begriffe zu Zwecken sozialdemokratischer Zentralbankpolitik. Sind Schumms Erörterungen ein gültiger Einwand gegen das Programm Krügers und gegen die gesamte Verlagslinie des VSA-Verlags? Man müsste ihn vielleicht gedruckt veröffentlichen, um eine Diskussion darüber zu erzwingen. Man muss das Ding freilich ziemlich lektorieren. VSA hat es, wie man hört, abgewiesen. Wundert es mich?

Schumm ist soweit ich weiss der einzige, der in dieser Debatte den Standpunkt der Geldware überhaupt noch vertritt. Aber ohne diesen Standpunkt braucht man mit Marx gar nicht mehr anfangen. Man kann dann gleich zu Keynes übergehen, wenn man denn das Gefühl hat, Keynes könnte einen retten. Warum tut mans dann nicht? Weil man das Gefühl eben nicht hat.

Schumms Standpunkt löst natürlich nicht das Rätsel. Aber es stellt das Rätsel in seiner ganzen Grelle wieder her. Was, zum Teufel, ist denn der „Reichtum der Gesellschaften“, der Grundbegriff und Gegenstand der wissenschaftlichen Theorie der Wirtschaft? Zu dieser Frage und ihrer möglichen Antowrt kommen wir durch folgende Überlegung: die Währungen sind offiziell gedeckt nicht mehr durch Goldreserven, sondern durch Devisenreserven, das heisst durch Währungsreserven ausländischer Währungen. Diese Reserven häufen sich bei den Zentralbanken durch den Export an, d.h. dadurch, dass inländische Unternehmen Exportüberschüsse erwirtschfaften und die Devisen bei den Banken, in letzter Instanz den Zentralbanken in inländisches Zentralbankgeld umtauschen. Wie kommt es aber zu diesen Exportüberschüssen?

Ich habe es bisher geschafft, in einer Buchbesprechung mit keinem Wort auf das besprochene Buch einzugehen, uns werde das eisern bis zum Schluss durchhalten. Exportüberschüsse sind nicht Nebensache in der kapitalistischen Produktionsweise, sondern ihr eigener innerer Antriebsgrund. Der Weltmarkt ist nicht gleichgültiger Austausch gelegentlich anfallender Überschüsse, sondern Beginn und Ziel der ganzen Veranstaltung. Der Kapitalismus ist nicht, wie die Lektüre praktisch aller Handbücher aber nahelegt, eine Veranstaltung der Binnenwirtschaft.

Marxologisch ausgedrückt: auf den Weltmärkten wird nicht Profit, sondern Extraprofit erwirtschaftet. Inhalt, Substanz des Reichtums derjenigen Gesellschaften, in denen die kapitalistische Produktionsweise vorherrscht, ist also nicht das aus irgendeinem Grund wertförmige oder verdinglichte Produkt inländischer Arbeit, das dann genauso zufällig gegen ausländisches sich glatt austauscht; sondern Inhalt oder Substanz dieses Reichtums ist jede gesellschaftliche Arbeit, wertförmig oder nicht, das heisst eigentlich: Ausbeuten und herrschen ist dasselbe Ding. Dieser Bakunin zugeschriebene Satz verdient, als erster Hauptsatz der Kritik der politischen Ökonomie zu gelten.

Wie das ganze zugeht, dafür hat unser Freund Christian Girschner 1999 in seinem Buch „Politische Ökonomie und Weltmarkt“ ein theoretisches, sauber auf Marx beruhendes Gerüst geliefert. Das Buch ist praktisch nicht gelesen worden. Und auch, wie man hört, seinerzeit von VSA abgelehnt. Es ist abschreckend lang, aber verändert das Leben eines Marxisten. Das kann man über die meisten Sachen nicht sagen, die bei VSA gedruckt sind.

Welche Motive oder Folgen alle diese Autoren ihren Arbeiten übrigens selbst zuschreiben, ist gleichgültig. Es gilt das gedruckte Wort. Es hat eigene Objektivität. Welche Schlüsse zwingend daraus zu ziehen sind, darüber hat der Autor keine Gewalt.

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Es kann keinen Sozialismus in einem Lande geben. Auch keinen demokratischen. Auch keine sozialistische Marktwirtschaft, wie Stephan Krüger sie propagiert. So wie der Keynesianismus, wenn er sozialistisch sein will, nicht loskommt von Marx, so kommt der Marxismus, auch wenn er keynesianisch sein will, nicht los von den rohen und barbarischen Formen, zu denen Keynes bekanntlich den Goldstandard zählt. Die Gesellschaft selbst ist zu roh und barbarisch dazu. Und nach ganz demselben Gesetz wird die europäische Linkspartei wie die Sozialdemokratie, von der sie herkommt, immer zwei Gesichter haben: ein aufgeklärtes, für das die Neue Marx-Lektüre und der Keynesianismus die Theorie liefern, und ein schroff abweisendes, das auf dem engen nationalen und neoklassischen Standpunkt verharrt.

Diese wird der keynesianischen Linke immer folgen, wie ein böser Doppelgänger. Man muss mir das nicht glauben. Man soll sich stattdessen die Gründe anschauen, warum jemand wie der letzte Vorsitzende der ÖTV Bayern und Mitautor der Göttinger Thesen, Michael Wendl, von der SPD zur Linkspartei übergetreten ist, und die Gründe, warum er wieder zur SPD übergetreten ist.

Wo die einen Kreislauftheorie treiben, treiben die anderen Merkantilismus. Beide haben tief und fürchterlich Unrecht. Man sieht es nie wieder so genau wie in ihrer Position zu Griechenland: die einen ringen sich mit schweren Bedenken dazu durch, das im Ergebnis gutzuheissen, was man Griechenland angetan hat; die anderen finden daran zu kritisieren, dass es die Deutschen Geld gekostet hat. Will man danach mit beiden noch etwas zu tun haben? Man muss. Man ist mit ihnen in diesem Land zusammengesperrt. Und in dieser Linken.

Die einen blicken zum Neoliberalismus hin, die anderen zur AfD. Man muss kalt feststellen, dass beide Positionen notwendig, das heisst nict verhinderbar, gewesen sind. Die Linke hat wenig eigenen Antrieb, die Grundmauern des Hauses nicht stehenzulassen. Von dieser Position ist weder wissenschaftliche Kritik der politischen Ökonomie noch linke Politik möglich, und keine Synthese. Die Vertreter dieser Position sind aber die, die immer die Wissenschaft und die Politik im Munde führen. Vielleicht muss man das ändern.

Stephan Krügers Mammutwerk ist von unserem Standpunkt aus damit eigentlich schon fast vollständig behandelt. Man kann nicht so boshaft sein, wie Bruhn über Elbe sagte, sein Buch erspare die Führung eigener Zettelkästen; es ist tatsächlich anregender als das. Man stellt sich Fragen, die man sich lange nicht gestellt hat. Ultimativ ist das ganze Unterfangen vergebens. Das heisst nicht, dass es nicht nah am Kern eines wirklichen politischen Projekts formuliert ist; ob dieses Projekt als Sekte oder als Regierung endet, kann nicht vorhergesagt werden. Unser Projekt ist es nicht; die Frage ist nur, ob es Gegenstand unserer Kritik bleibt.

Stephan Krüger berät als Unternehmensberater Gewerkschaften und Betriebsräte. Es ist umständlich, zu ihm Kontakt zu bekommen. Nach allem, was ich aus seinen Büchern entnehme, ist er für diese Aufgabe hervorragend geeignet. Die Ökonomie und die Arbeiterbewegung sind beides sehr seltsame Dinge. Sie sind in sich selbst widerspruchsvoll und zerklüftet. Dinge, die an einer Stelle helfen, helfen an der anderen nicht. Es wird definitiv eine Zeit kommen, in der es nötig sein wird, Belegschaften Leute wie Stephan Krüger empfehlen wird, und wir werden dann nicht zögern, das zu tun.

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