„…den Entschluss zu fassen, die Freiheit zu denken“

Eine Hommage an Simone Weil

(aus dem Heft #14)

von Seepferd

Angeblich war sie das alles gleichzeitig: Anarchistin, Marxistin, scharfe Kritikerin von Marxismus und Anarchismus, politische Philosophin, Mittelschichtstochter, ungelernte Arbeiterin, Jüdin, Skeptikerin, katholische Mystikerin, Feministin, Pazifistin und militante Antifaschistin. Vermutlich konnte sie das alles sein – und zwar gleichzeitig –, weil sie nichts davon sein wollte. Nichts ausschließlich. Das muss man sich trauen. Vermutlich ist das auch der Grund, warum so wenige mit ihr was anfangen können. Die KatholikInnen zerren sie auf ihre Seite, die AnarchistInnen beanspruchen sie für sich. Die einen meinen, irgendwo in ihrem recht kurzen Lebenslauf „Brüche“ ausmachen zu können, wo und aus welchen Gründen sie sich vom sozial-revolutionären Engagement in die religiöse Kontemplation zurückgezogen hätte; die anderen betonen vielmehr die „Kontinuitäten“: die Rückbesinnung auf christliche Ethik würde dem Engagement für alle Unterdrückten dieser Erde nicht widersprechen. Das Bildungsbürgertum gedenkt ihrer in periodischen Abständen: Es ist ja längst kein Tabu mehr, ein wenig (selbst)ironisch über tote Revolutionäre und andere Verrückte zu sprechen. (1) Man (ge)braucht sie, ähnlich wie Albert Camus, zur Selbstvergewisserung, ohne angeben zu können, wessen man sich eigentlich vergewissert und wie ernst es gemeint ist. (2) Eine Kuriosität also, „rote Jungfrau“, weiblicher Nietzsche, durchgeknallt und letztlich für nichts nütze. Ich persönlich trage das Interesse an der Person Weil schon lange mit mir herum, es hätte womöglich ein Vortrag in den Räumen am Josef-Stangl-Platz in Würzburg werden können, doch dazu kam es nicht. Und das ist vielleicht besser so. Nun scheint es mir abseits von runden Daten und irgendwelchen Jubiläen angebracht, bei einer dermaßen unpraktisch veranlagten Person nach gesellschaftlicher Praxis nachzufragen.

Jedes noch so dünnes Büchlein über sie bzw. von ihr ist, wie z.B. „Anmerkungen zur generellen Abschaffung der politischen Parteien“, mit einer kleinen biographischen Notiz versehen. Es ist also bei ausreichendem Interesse nicht schwer, Simone Weil historisch und ideengeschichtlich einzuordnen. In aller Kürze also, obwohl ich es nicht schaffe, das unterhaltsamer als Antje Schrupp 2009 (3) oder Heinz Abosch 1990.

Simone Weil wurde 1909 in einem guten bürgerlichen Haus in Paris geboren, hatte jüdische Wurzeln, genoss gute Ausbildung und wurde schließlich Lehrerin für Philosophie. Interessierte sich für Politik und soziale Kämpfe, zeigte sich solidarisch mit Arbeitern und Arbeitslosen, was ihr den Ruf der „roten Jungfrau“ einbrachte. Sie trat anarchistischen Zirkeln und revolutionär-syndikalistischen Gewerkschaften bei und las kommunistische Zeitungen, stritt sich mit Trotzki und de Beauvoir. „Die Erfahrung hat gezeigt, dass eine revolutionäre Partei sich wohl, nach einer Formel von Marx, des bürokratischen und militärischen Apparats bemächtigen kann, aber sie kann diesen nicht brechen. Damit die Macht wirklich an die Arbeiter übergeht, müssen diese sich vereinigen, nicht nur entlang illusionärer Verbindungen, die von einer Ansammlung gleicher Meinungen ausgehen, sondern entlang wirklicher Verbindungen einer Gemeinschaft, die auf derselben Funktion im Produktionsprozess basiert“, schreibt sie Anfang 1930er gegen die Bestrebungen des Komintern, Gewerkschaften anzuführen. (zit. nach Jacquier 2006, S. 86) Gleichzeitig aber zutiefst individualistisch: „Denken wir daran, dass wir dem Individuum, nicht dem Kollektiv den höchsten Wert beimessen. (…) Nur im Menschen als Individuum finden wir Voraussicht und Willenskraft, die einzigen Quellen einer effizienten Aktion. Aber die Individuen können ihre Anstrengungen vereinigen, ohne dabei ihre Unabhängigkeit zu verlieren“. (zit. nach Jacquier 2006, S. 104)

Etwa um 1933 wendet sie sich von der schwächelnden syndikalistischen Bewegung ab und wird – nicht zuletzt Hitlers Machtübernahme unter der Mitwirkung der SPD und der Komintern vor Augen – zunehmend skeptisch, was Politik überhaupt angeht.

Man findet bei Kommunisten, Sozialisten oder Syndikalisten dieser oder jener Tendenz keine klarere oder präzisere Kenntnis unserer Gesellschaft als bei den Bourgeois, Konservativen oder Faschisten. Selbst wenn die Arbeiterorganisationen eine überlegene Kenntnis besäßen (was jedoch nicht zutrifft), würden sie noch nicht über die erforderlichen Aktionsmittel verfügen. Praktisch ist die Wissenschaft nichts ohne die Ressourcen der Technik; sie gibt diese nicht, sie erlaubt nur, sich ihrer zu bedienen. Noch falscher wäre es zu behaupten, die Wissenschaft erlaubte, einen baldigen Sieg der Arbeitersache vorauszusehen. Das ist unwahr, und guten Gewissens muss man überhaupt daran zweifeln, wenn man nicht hartnäckig die Augen verschließt. Auch erlaubt nichts, den Arbeitern zu versichern, sie hätten eine Mission zu erfüllen, eine ‚historische Aufgabe‘, wie Marx sagte, die ihnen zufalle, um die Welt zu retten. Kein Grund berechtigt dazu, ihnen eine solche Mission eher zu übertragen als den Sklaven des Altertums oder den Leibeigenen des Mittelalters. Ähnlich wie die Sklaven, die Leibeigenen, sind sie unglücklich, ungerechtfertigt unglücklich. Es ist gut, dass sie sich verteidigen, es wäre schön, wenn sie sich befreiten; mehr lässt sich nicht sagen. Die Illusionen, die man verbreitet in einer Sprache, die kläglich die Gemeinplätze der Religion mit denen der Wissenschaft vermischt, sind ihnen unheilvoll. Denn sie erwecken den Glauben, die Dinge seien leicht zu vollbringen, ein moderner Gott namens Fortschritt treibe sie nach vorn, eine moderne Vorsehung namens Geschichte mache für sie die Hauptanstrengung. Schließlich erlaubt nichts, ihnen am Ende des Befreiungskampfes Genuss und Macht zu versprechen. Eine leichtfertige Ironie hat viel Schaden angerichtet durch die Abwertung des hohen Idealismus, des fast asketischen Geistes der sozialistischen Gruppen am Anfang des 19. Jahrhunderts; sie hat nichts anderes bewirkt, als die Arbeiterklasse zu erniedrigen… (Weil 1975, S. 271f)

Den Marxismus kritisiert sie als den höchsten geistigen Ausdruck der bürgerlichen Gesellschaft, der notwendig verkennen muss, dass die Änderung der Besitzverhältnisse aus der Misere nicht hinaus führen würde. Eine radikale Änderung der Arbeitsverhältnisse tut Not. Die arbeitenden Massen werden nicht nur zu bloßen Anhängseln ihrer Produktionsmittel degradiert, sie leiden nicht nur physisch – es geht nicht zuletzt um die Verkümmerung des Geistes, des (potentiell) widerständigen Denkens. Es geht darum, die Massen passiv und gleichzeitig auf Trab zu halten. 1934 schreibt sie in „Réflexions sur les causes de la liberté et de l’oppression sociale“:

„Von den Menschen ist nichts zu erhoffen, und wäre es anders, wären sie doch von vornherein durch die Macht der Dinge besiegt. Die bestehende Gesellschaft stellt keine anderen Mitteln zum Handeln bereit als Maschinen zur Zermalmung des Menschlichen; was immer die Absichten derer sind, die sie in die Hand nehmen, diese Maschinen werden alles zermalmen, solange es sie gibt. (…) Mit Kanonen, Flugzeugen oder Bomben kann man Tod und Schrecken oder Unterdrückung verbreiten, aber nicht das Leben oder die Freiheit. Mit Gasmasken, Luftschutzkellern oder Alarmsirenen kann man elende Herden verängstigter Wesen züchten, die sich den verrücktesten Despoten ergeben und dankbar die schändlichsten Tyranneien begrüßen, aber keine Bürger. Mit Rundfunk und Massenpresse kann man ein ganzes Volk zum Frühstück oder zum Abendessen mit vorgefertigten Meinungen füttern und diese dadurch ad absurdum führen, weil auch die vernünftigsten Ansichten verdreht und falsch werden, wenn sie der Kopf gedankenlos aufnimmt.(…) Und ohne Fabriken, Waffen und Presse lässt sich nichts gegen diejenigen ausrichten, die das alles besitzen“. (Weil 2012, S. 109)

Man hat das Gefühl, als hätte Weil in ihrer Zeitdiagnose fast an die Forschungsergebnisse der Kritischen Theorie herangereicht. So diagnostiziert sie eine objektive Anfälligkeit für allerlei Widersinniges, im schlechtesten Sinne Religiöses, Verschwörungstheorien, antisemitische Gerüchte etc.:

„Wie so oft lassen geistige Verwirrung und Passivität der Phantasie freien Lauf. Überall ist man besessen von einer Vorstellung des sozialen Lebens, die zwar in den unterschiedlichen Kreisen erheblich differiert, aber stets aus Mysterien, okkulten Qualitäten, Idolen oder Schreckbildern besteht; jeder glaubt, dass die Macht auf geheimnisvolle Weise in einem jener Kreise liegt, die ihm verschlossen sind, weil kaum jemand begreift, dass sie nirgendwo liegt, so dass das vorherrschende Gefühl überall jene abgründige Angst ist, die durch den Verlust des Bezugs zur Realität entsteht. Jedes soziale Milieu stellt sich von außen als Gegenstand eines Albtraums dar“. (Weil 2012, S. 107f)

So schmächtig und kränklich sie war, begibt sie sich Ende 1934 in die industrielle Hölle, um zu erfahren, wie sich die reelle Subsumtion unter das Kapital anfühlt. Aus dieser Zeit stammt der herzzerreißende Bericht über das Leben einer ordinären Fabrikarbeiterin, das nur aus Demütigung, körperlichen Leiden und angsterfüllten Überlegungen, was am Monatsende auf dem Lohnzettel stehen würde, besteht.

„Ich hätte daran zerbrechen können. Es kam beinahe so weit – mein Mut, meine Würde wurden erschüttert. Die Erinnerung könnte mich erniedrigen, hätte ich nicht sozusagen jede Erinnerung eingebüßt. In Angst erhob ich mich morgens, mit Furcht ging ich in die Fabrik. Ich arbeitete wie eine Sklavin; die Mittagspause war ein zerreißender Schmerz; nach Arbeitsschluss um 5.45 Uhr wieder zu Hause, war ich sofort damit beschäftigt, genügend zu schlafen (was ich nicht tat) und früh genug wach zu werden. Die Zeit war ein unerträgliches Gewicht. Die Furcht – die Angst – lastete auf den Samstagnachmittagen und Sonntagvormittagen. Gegenstand der Furcht waren die Befehle.

Das Gefühl persönlicher Würde, so wie es die Gesellschaft hervorgebracht hat, wurde gebrochen. (…) Endlich gibt man sich Rechenschaft über seine eigene Bedeutung. Die Klasse derjenigen, die nicht zählen – in keiner Situation – in den Augen anderer (…) und die nicht zählen werden, niemals, was auch geschehen mag, trotz des letzten Verses der ersten Strophe der Internationale“. (Weil 1978, S. 120)

Bis es 1936 zu einer Streik- und Betriebsbesetzungswelle in der Metallindustrie in Frankreich kommt (4), die – wenn nur für eine kurze Zeit – alles verändert. Weil war zwar nicht mehr dabei, ein halbes Jahr als Arbeiterin hat ihr offensichtlich vollkommen ausgereicht. Aber sie kam ihre ehemaligen KollegInnen besuchen:

„Ich besuchte Kumpels in einer Fabrik, in der ich vor einigen Monaten gearbeitet habe. Einige Stunden verbrachte ich mit ihnen. Freude, in die Fabrik hineinzugehen mit der lächelnden Erlaubnis eines das Tor bewachenden Arbeiters. Freude, soviel Lächeln zu beobachten, so viele Worte brüderlicher Begrüßung zu vernehmen. Wie sehr man unter Genossen fühlt in diesen Werkhallen, wo sich jeder, als ich dort arbeitete, allein fühlte an seiner Maschine! Freude, durch diese Werkhallen, an deren Maschinen man geschmiedet war, frei zu gehen, Gruppen zu bilden, zu reden, zu essen. Freude, anstelle des höllischen Maschinenlärms – eindringliches Symbol des Zwanges, dem man sich beugte – Musik, Gesang, Lachen zu hören. Man spaziert zwischen diesen Maschinen, denen man in vielen Stunden seine Lebenssubstanz opferte – und sie schweigen, verletzen nicht mehr, verursachen keine Schmerzen mehr. Freude, an den Chefs mit erhobenem Kopf vorüberzugehen. Endlich bedarf es nicht mehr eines ununterbrochenen Kampfes, um die eigene Würde zu wahren gegen eine fast unbezwingbare Neigung, sich mit Körper zu Seele zu unterwerfen. Freude zu sehen, wie die Chefs vertraulich zu sein versuchen, Hände schütteln, darauf verzichten, Anweisungen zu erteilen. Freude zu sehen, wie jetzt sie gehorsam warten, um den vom Streikkomitee ausgestellten Passierschein in Empfang zu nehmen. Freude zu sagen, was man auf dem Herzen hat, jedem, den Vorgesetzten und Genossen, an diesem Ort, an dem zwei Arbeiter, Seite an Seite, monatelang arbeiten konnten, ohne dass einer der beiden erfahren hätte, was der Nachbar dachte. Freude, unter stummen Maschinen zu leben, im Rhythmus des menschlichen Lebens – dieser Rhythmus folgt der Atmung, dem Herzschlag, den natürlichen Bewegungen des Organismus – und nicht im vom Zeitnehmer diktierten Rhythmus. Sicher wird das harte Leben in einigen Tagen wieder beginnen. Aber man denkt nicht daran, ähnlich wie Soldaten auf Urlaub während des Kriegs. Und was auch immer in der Folge geschehen mag, man hat immerhin dies erlebt. Zum ersten Mal und unauslöschlich werden um diese Maschinen andere Erinnerungen kreisen als die der Stummheit, Zwang, Unterordnung; Erinnerungen, die das Herz mit ein wenig Stolz erfüllen und ein wenig Wärme auf dem Metall zurücklassen werden. Vollkommene Entspannung. Man kennt hier nicht jene sprungbereite Energie, jene mit Angst gepaarte Entschlossenheit, die so häufig bei Streiks zu beobachten sind. Gewiss herrscht Entschlossenheit, aber sie ist frei von Furcht. Man ist glücklich. Man singt, aber nicht die ‚Internationale‘ oder ‚Die junge Garde‘; man singt ganz einfache Lieder, und das ist gut so. einige machen Späße, über die man lacht, aus Freude, sich und die anderen lachen zu hören. Es herrscht keine Bosheit. Natürlich ist man froh, die Vorgesetzten spüren zu lassen, dass sie nicht die Stärkeren sind. Jetzt sind sie an der Reihe. Das ist lehrreich für sie. Aber man ist nicht grausam. Man ist fröhlich“. (Weil 1978, S. 186f)

Ich durfte auch einmal beobachten, wie sich die bedrückende Atmosphäre einer Produktionshalle blitzschnell in eine Karnevalsstimmung verwandelte, nachdem das Fließband von einem Kurzschluss lahmgelegt worden ist. Kein Betriebsfest konnte jemals so eine Fröhlichkeit und Geselligkeit in der Halle herstellen.

Sie half den aus Deutschland fliehenden SozialistInnen, schmuggelte einen Koffer mit Dokumenten von Lew Sedow über die Grenze und war eng befreundet mit Boris Souvarine, der sehr früh Stalinismus und die französische KP kritisierte als das, was sie damals bereits waren: die „Negation des Kommunismus“. Weil sie alles selbst erfahren und immer dabei sein wollte, bereiste sie Deutschland und Italien, um Totalitarismus „aus der Nähe“ zu betrachten. Die Situation in Deutschland begriff sie als „revolutionär“, in der allerdings „alles passiv“ sei; die KPD und die NSDAP, die einzigen revolutionären Kräfte, gleichen sich in ihrem Nationalismus und Antisemitismus. Sie zog sogar als überzeugte Antimilitaristin in den spanischen Bürgerkrieg, auf der Seite der Internationalen Kolonne Durutti. Dieses Abenteuer endete aber aufgrund einer selbstverursachten Verletzung sehr schnell. Ungefähr hier wollen die meisten den „entscheidenden Bruch“ in ihrem Leben und Denken ausmachen: auch auf der Seite der Guten sah sie viel sinnlose Gewalt und Brutalität, die die Sache der sozialen Revolution in ihren Augen komplett entwertete. So schildert sie die Gräuel des Bürgerkriegs auf der republikanischen Seite in einem berühmt gewordenen Brief an den konservativen Schriftsteller Georges Bernanos, das ehemalige Mitglied der faschistischen Action Française, da sie das Gefühl hat, niemand auf der radikalen Linken würde sie verstehen:

„Ich war vor dem Bürgerkrieg durch Spanien gereist – ziemlich wenig eigentlich, aber dennoch genug, um für dieses Volk die Liebe zu empfinden, die man ihm einfach entgegenbringen muss; ich hatte in der anarchistischen Bewegung den natürlichen Ausdruck seiner Stärken und seiner Schwächen, seiner legitimsten und illegitimsten Bestrebungen gesehen. CNT und FAI waren eine erstaunliche Mischung; sie standen jedermann offen und so trafen sich dort Sittenlosigkeit, Zynismus, Fanatismus und Grausamkeit, zugleich aber auch Liebe, der Geist der Brüderlichkeit und insbesondere die Forderung nach Ehre, die bei gedemütigten Menschen so schön ist. Die von einem Ideal Geleiteten schienen mir zahlreicher zu sein als diejenigen, die von der Gier nach Gewalt und Chaos getrieben waren. (…) Ich fühlte keine innere Notwendigkeit mehr, bei diesem Krieg dabei zu sein, der nicht mehr, wie es mir früher schien, ein Krieg von ausgehungerten Bauern gegen die Grundbesitzer und die mit ihnen verbündete Geistlichkeit war, sondern ein Krieg zwischen Russland, Deutschland und Italien. (…) In einer solchen Atmosphäre verwischt sich rasch auch das Ziel des Kampfes selbst. Denn das Ziel kann man nur bestimmen, wenn man es auf das Allgemeinwohl, auf das Wohl der Menschen zurückführt – und die Menschen bedeuten nichts mehr. (…) Diese bedauernswerten, großartigen Bauern von Aragon, die sich trotz aller Erniedrigungen ihren Stolz bewahrt hatten, weckten bei den Milizsoldaten nicht einmal Neugierde. Es gab keine Unverschämtheiten, keine Beleidigungen, keine Brutalitäten – zumindest habe ich nichts dergleichen gesehen, und ich weiß, dass auf Diebstahl und Vergewaltigung in den anarchistischen Kolonnen die Todesstrafe stand – und dennoch lag ein Abgrund zwischen den Bewaffneten und der entwaffneten Bevölkerung, ein Abgrund, der durchaus dem zwischen arm und reich vergleichbar ist.“ (zit. nach Jaquier 2006, 123f)

In der Tat, wer kann es besser als ein (wenn auch ehemaliger Faschist) begreifen, dass im Krieg „die Macht in Despotismus und die Knechtschaft in Mord“ (zit. nach Abosch 2005, S. 93) sich verwandle? Zwar war es die offen proklamierte Maxime von Weil, das eigene Denken nie zugunsten irgendeiner (Gesinnungs-)Partei aufzugeben. Nie wollte sie sagen: „Ich als Sozialistin“ oder „Ich als Christin“, wissend, dass es nicht ihr komplettes Wesen bzw. Denken erschöpfen oder auch nur beschreiben würden. (Im Prinzip handelt ihr letztes Pamphlet „Anmerkungen zur generellen Abschaffung…“ genau davon; aus diesem Grunde verweigerte sie auch später die katholische Taufe). Diesen Brief an Bernanos hat man in der Tat auf der radikalen Linken zumindest verständnislos zur Kenntnis genommen. (5)

Danach folgt die viel zitierte Wende zur christlichen Spiritualität, ihre Reisen nach Italien, die Suche nach einer Wahrheit, die nur noch jenseits der hoffnungslosen Menschenwelt zu liegen scheint. Sie erlebt die Gottesliebe sehr persönlich und intensiv, was Abosch allerdings nicht zuletzt auf sublimierte Erotik zurückführt:

„Ich hatte bohrende Kopfschmerzen; jeder Ton tat mir weh wie ein Schlag; und da erlaubte mir eine äußerste Anstrengung der Aufmerksamkeit, aus diesem elenden Fleisch herauszutreten, es in seinen Winkel hingekauert allein zu lassen und in der unerhörten Schönheit der Gesänge und Worte eine reine und vollkommene Freude zu finden. Dank dieser Erfahrung versuchte ich, mit Hilfe eines Analogieschlusses, die Möglichkeit besser zu verstehen, die göttliche Liebe quer durch das Unglück zu lieben. Selbstverständlich ist während jener Gottesdienste die Passion Christi ein für allemal in mich eingedrungen“. (zit. nach Abosch 2005, S. 105)

Nach dem Ausbruch des 2. Weltkrieges flieht sie nach Südfrankreich, dann 1942 mit der Familie in die USA, geht aber kurz darauf nach Großbritannien. Sie kann es nicht ertragen, so fern vom europäischen Schlachtfeld zu bleiben, sie muss mitwirken. Sie muss „an den Gefahren und an den Leiden dieses großen Kampfes“ teilnehmen. So arbeitet sie in London für die Exilregierung de Gaulles, für France libre. Für die soll sie eine Art „Plan“ für die institutionelle Wiedererrichtung des französischen Staates ausarbeiten. De Gaulle ist mit dem sehr moralisierenden und weniger sachlichen Ergebnis unzufrieden. Ein möglichst gefährlicher geheimer Einsatz – so war Weils Wunsch – im besetzten Frankreich wird ihr verweigert. Ihre Idee, mit einer Krankenschwester-Truppe dem Kampfgeist der SS entgegenzutreten, wird ebenfalls als wohl nicht staatstragend genug verworfen. In London schreibt sie ihr einziges großes zusammenhängendes Werk, „Die Verwurzelung“, in dem die Widersprüche ihrer Praxis-Auffassung sichtbar werden. Sie fällt offensichtlich in eine Art proudhonistische Utopie zurück, wo der neue französische Staat die Arbeiterklasse mittels Kleineigentum und die Bauernschaft mittels Religiosität und Kunst wieder zu einer Bauern-Handwerker-Gesellschaft zusammenschmiedet. Der Staat werde heilig, da er einem „heiligen“ Zweck der „Verwurzelung“ diene, darf aber nicht „vergötzt“ werden. Er bleibt vielmehr das Mittel zur Errichtung neuer Gemeinschaft, das es noch zu verstehen gelte: „Die Sozialwissenschaft ist die Untersuchung des Großen Tiers und sie muss seine Anatomie, Physiologie, seine natürlichen und konditionierten Reflexe, die Möglichkeiten seiner Dressur beschreiben“. (Weil 2011, S. 272) Der Arbeiter bei aller Freude soll natürlich nicht vergessen, wie man sich fügt und zu toter Materie macht. Man wird das Gefühl nicht los, man lese Heidegger:

„Jasagen zur körperlichen Arbeit ist nach dem Jasagen zum Tod die vollkommenste Form der Tugend des Gehorsams. (…) Das ist von strahlender Evidenz, wenn man wie das Altertum die Passivität der trägen Materie als die Vollkommenheit des Gehorsams und die Schönheit der Welt als Glanz des vollkommenen Gehorsams betrachtet. (…) Die körperliche Arbeit ist ein täglicher Tod. Arbeiten heißt, sein eigenes Sein, Leib und Seele, in den Kreislauf der trägen Materie einzubringen, es zu einem Vermittler zwischen einem Zustand und einem anderen Zustand eines Fragmentes der Materie zu machen, zu einem Werkzeug zu machen. Der Arbeiter macht aus seinem Körper und seiner Seele eine Verlängerung des Werkzeugs, das er handhabt. Die Bewegungen des Körpers und die Aufmerksamkeit des Geistes funktionieren, wie es das Werkzeug verlangt, das seinerseits der Materie der Arbeit angepasst ist“. (Weil 2011, S. 273ff)

1943 erkrankt sie an Tuberkulose und stirbt schließlich am 24. August im Alter von 34 Jahren an den Folgen der Unterernährung, da sie sich weigerte, sich halbwegs vernünftig zu ernähren während Menschen in Frankreich nicht genug zu essen bekamen.

Worauf es Weil während ihrer syndikalistisch-revolutionären Jugend und selbst während ihrer näheren Bekanntschaft mit dem katholischen Gott ankam, war wohl die Aktion, die vor allem „rein“ sein sollte. Aus diesem Grund vertraute sie auf die Besonderheiten der anarchistischen, anti-bürokratischen Organisierung und Aktion der Werktätigen, die diese befähigen sollte, ihre Kräfte zu bündeln und trotzdem keine einzelne Stimme an die höhere Macht zu delegieren, kein Individuum hinter das Kollektiv zu stellen. Es ist das uralte Dilemma von Mitteln und Zielen politischer Aktion, welches unter Umständen den Organisationen (für Weil sind das Parteien) jegliche Ethik austreiben und sie zu Apparaten der Machterhaltung und -gewinnung machen. Es ist nicht so, dass diese anarchistische Organisationsskepsis ohne Grund in der Arbeiterbewegung entstanden ist. Die Frage ist immer noch nicht gelöst: effizient oder ethisch? Ist es überhaupt angebracht, an die eigene (anti-)politische Organisation moralische Erwartungen zu stellen? Oder nur an deren Mitglieder? Können CNT-Milizionäre während eines Bürgerkriegs die revolutionäre Gewalt unnötig machen? Das Verzweifeln an diesen und ähnlichen Fragen führte Weil zur Abwendung von allem, was halbwegs nach „unsauberen“, kompromittierten (6) politischen Geschäften roch, was die „reine“ Aktion verfälschte – außer einem defensiven Pazifismus. Das ist womöglich ohne einen starken Einfluss von Georges Sorel in ihrer Jugend nicht zu erklären. Sorel propagierte bekanntlich Opferbereitschaft im „sozialen Krieg“ und verglich militante Gewerkschaften mit Mönchsorden. „Die Freiheit darf man nicht in einsamen Aktionen suchen, sondern allein in Aktionen, die ein Mensch zusammen mit anderen Menschen und für andere Menschen unternimmt oder mit Gott oder für Gott: denn Gott ist der Mythos der Menschheit“. (zit. nach Abosch 2005, S. 36) Was ihr in letzter Konsequenz nur den Weg zum christlichen Gott der Erlösung eröffnen konnte, dem alleine es zustand, in den weltlichen Dingen herumzupfuschen, ohne sich schmutzig zu machen, und vielleicht eines Tages eine Bresche in diese geschlossene Welt zu schlagen. Sie war so oft bereit, für eine gerechte Sache zu leiden und zu sterben, doch ihr Denken kapitulierte vor der Gewalt der Gesellschaft. Daher auch trotz des erstaunlich scharfen Blicks für die gesellschaftlichen Veränderungen jenes groteske „Programm“ der „Verwurzelung“, welches auf das Niveau von Fourier und de Saint-Simon (der übrigens zu den Begründern der katholischen Soziallehre zählt) zurückfällt; aus der viel beschworenen Freiheit wird die Pflicht zum Gehorsam. Als ihr 1942 aufgrund antisemitischer Gesetze eine Wiedereinstellung an der Schule verweigert wurde, schrieb sie einen Brief an die Schulbehörde, in dem sie auseinandersetzte, dass sie sich „nie als Jüdin verstand“ und sehe daher keine Gründe, sie auszuschließen. Obwohl ihre, von tiefem Zweifel erfüllte, negative Theologie sie eher in die Nähe der mittelalterlichen Gnostik und des Judaismus (7) brachte, pflegte sie einen regelrechten, christlich argumentierenden Antijudaismus. Dieser wurde allerdings in die deutsche Ausgabe von „Schwerkraft und Gnade“ nicht übernommen und ist dem deutschsprachigen Publikum kaum bekannt. Dennoch hieß es 1934:

„Versuche, die Unterdrückung unter der Beibehaltung der Technik abzuschütteln, haben sofort solche Unordnung und Untätigkeit zur Folge, dass alle, die sich dem hingaben, fast sogleich wieder ihre Köpfe unter das Joch beugen mussten; diese Erfahrung wurde im Kleinen in den Produktionsgenossenschaften und im Großen während der russischen Revolution gemacht. Es scheint fast, als sei der Mensch als Knecht und zur Knechtschaft geboren. (…) Und doch kann nichts auf der Welt dem Menschen das Gefühl nehmen, dass er zur Freiheit geboren ist. Nie, was auch immer geschieht, kann er die Knechtschaft ertragen; denn er kann denken. Er hat nie aufgehört, von einer Freiheit ohne Grenzen zu träumen, ob in Form des vergangenen Glücks, das ihm zur Strafe genommen wurde, oder des zukünftigen Glücks, das ihm der Pakt mit einer geheimnisvollen Vorsehung verbürgen soll. Der von Marx vorgestellte Kommunismus ist die jüngste Form dieses Traums. Dieser Traum blieb immer vergeblich, wie alle Träume, oder wenn er ein Trost war, dann nur als ein Opium. Es ist an der Zeit, von der Freiheit nicht mehr zu träumen und den Entschluss zu fassen, die Freiheit zu denken“. (Weil 2012, S. 64f)

Der greise Bloch, der inzwischen in der monolithischen Langeweile der DDR „vor den Apparatschiks mit dem Schwanz zu wedeln“ keine Lust mehr hatte, sodass er plötzlich so gütig war, dem sogenannten utopischen Sozialismus seinen Wert anzuerkennen, fasste es sinngemäß so: um die Orthopädie des aufrechten Gangs zu entwickeln, muss man anfangen, aufrecht zu gehen und nicht warten, bis die Verhältnisse es einer/m erlauben. „Der Antritt dieses Erbes, als dem der nicht mehr bürgerlichen, der sozialistisch verwirklichten Emanzipation, wird künftig über das Freiheitsgesicht des Kommunismus entscheiden“. (8) Einen anderen Weg gibt es nicht.

Fußnoten:

1) Siehe z.B.: https://www.kath.ch/medienspiegel/simone-weil-linke-denkerin-ungetaufte-katholische-mystikerin-lebte-radikal-und-in-extremen-1/ „Zum Idol freilich, das man nachahmen könnte, taugt sie nicht. Niemandem möchte man das Leben von Simone Weil wünschen, und noch weniger möchte man es selber führen. Es ist wichtig, sich das einzugestehen. Sonst verstellt ihre Verehrung den Blick auf die eigene Mittelmäßigkeit, lenkt ab vom Wohlstand und der gesicherten Existenz, in der man selbst lebt“. So selbstironisch spricht man über die Revolutionäre und Verrückte, die man in sich persönlich und kollektiv als Klasse abgetötet hat.

2) So etwa Susan Sontag 1963: „„There are certain eras which are too complex, too deafened by contradictory historical and intellectual experiences, to hear the voice of sanity. Sanity becomes compromise, evasion, a lie. Ours is an age which consciously pursues health, and yet only believes in the reality of sickness. The truths we respect are those born of affliction. We measure truth in terms of the cost to the writer in suffering—rather than by the standard of an objective truth to which a writer’s words correspond. Each of our truths must have a martyr. (…) Some lives are exemplary, others not; and of exemplary lives, there are those which invite us to imitate them, and those which we regard from a distance with a mixture of revulsion, pity, and reverence. It is, roughly, the difference between the hero and the saint (if one may use the latter term in an aesthetic, rather than a religious sense). Such a life, absurd in its exaggerations and degree of self-mutilation—like Kleist’s, like Kierkegaard’s—was Simone Weil’s. I am thinking of the fanatical asceticism of Simone Weil’s life, her contempt for pleasure and for happiness, her noble and ridiculous political gestures, her elaborate self-denials, her tireless courting of affliction; and I do not exclude her homeliness, her physical clumsiness, her migraines, her tuberculosis. No one who loves life would wish to imitate her dedication to martyrdom nor would wish it for his children nor for anyone else whom he loves. Yet so far as we love seriousness, as well as life, we are moved by it, nourished by it. In the respect we pay to such lives, we acknowledge the presence of mystery in the world—and mystery is just what the secure possession of the truth, an objective truth, denies. In this sense, all truth is superficial; and some (but not all) distortions of the truth, some (but not all) insanity, some (but not all) unhealthiness, some (but not all) denials of life are truth-giving, sanity-producing, health-creating, and life-enhancing“. https://www.nybooks.com/articles/1963/02/01/simone-weil/

3) http://antjeschrupp.de/simone-weil

4) Für den politisch-ökonomischen Kontext dieser Streikwelle kann man bei Michael Seidman (2011) reinschauen, trotz aller berechtigten Kritik, die dem Buch in den Fachkreisen zukam.

5) Dass der belgische Anarchist Louis Mercier-Vega sich darüber ziemlich zurückhaltend äußert, liegt vermutlich daran, dass er bereits viele Jahre nach Weils Tod schreibt. Siehe „Simone Weil über die Aragon-Front“ in Jacquier (2006).

6) Kommt, übrigens, vom „Kompromiss“.

7) Es gab übrigens noch einen Anarchisten, der (zumindest am Anfang) sein Jüdisch-Sein leugnete und sich der christlichen Gnosis bediente, über den ich schon mal am Josef-Stangl-Platz einen Vortrag gehalten habe – Gustav Landauer: „…Wahrheit ist aber ein durchaus negatives Wort, die Negation an sich und darum in der Tat Thema und Ziel aller Wissenschaft, deren bleibende Erkenntnisse immer nur negativer Natur sind“. (2011, S. 83)

8) „Marx, aufrechter Gang, konkrete Utopie. Vortrag in Trier zum 150. Geburtstag von Karl Marx“, S. 454 in: Bloch (1985).

Literatur:

Bloch, Ernst (1985): Politische Messungen, Pestzeit, Vormärz. Frankfurt a.M.

Jacquier, Charles (Hrsg.) (2006): Lebenserfahrung und Geistesarbeit. Simone Weil und der Anarchismus. Nettersheim

Landauer, Gustav (2011): Skepsis und Mystik. Versuche im Anschluss an Mauthners Sprachkritik. Lich

Seidman, Michael (2011): Gegen die Arbeit. Über die Arbeiterkämpfe in Barcelona und Paris 1936-38. Heidelberg

Weil, Simone (1952): Schwerkraft und Gnade. München

Weil, Simone (1975): Unterdrückung und Freiheit. Politische Schriften. Berlin

Weil, Simone (1978): Fabriktagebuch und andere Schriften zum Industriesystem. Frankfurt a.M. Eine kurze Zusammenstellung der Zitate daraus findet sich unter: https://liberadio.noblogs.org/?p=1551

Weil, Simone (2009): Anmerkung zur generellen Abschaffung der politischen Parteien. Zürich-Berlin

Weil, Simone (2011): Die Verwurzelung. Vorspiel zu einer Erklärung der Pflichten dem Menschen gegenüber. Zürich-Berlin

Simone Weil (2012): Über die Ursachen von Freiheit und gesellschaftlicher Unterdrückung. Zürich-Berlin

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