(Anti)-Paternalismus

Der vorletzte Artikel in der jungle world, den ich gelesen habe, war von Felix Klopotek. Ich hab danach noch einen von Magnus Klaue gelesen, dann hab ich beschlossen, dass ichs jetzt bleiben lass. Felix Klopotek argumentiert da irgendwie über die Massnahmen der Corona-Vorbeugung und bemüht da allerhand Dinge, um irgendeine Folgerung zu stützen, und ich kanns nicht ändern, ich find, was er sagt, einfach verlogen.

Was ist, wenn die Menschen dort (sc. „in proletarischen Vierteln“) eine Infektion mit dem Virus eher in Kauf nehmen als in den Wohngegenden der zum Teil panisch verängstigen Mittelschicht? Wenn ihnen das großfamiliäre Leben wichtiger ist als der Schutz vor der Pandemie? Wenn sie Kontaktbeschränkungen und Isolationsgebote bewusst nicht so ernst nehmen und sich sagen: »Wir haben eh ein hartes Leben, wenn wir es jetzt noch in Quarantäne verbringen, werden wir vielleicht gesund bleiben, aber dabei noch ärmer werden.«

So heissts da zunächst. Ja, in der Tat, was ist dann? Ist das dann gut oder schlecht? Felix Klopotek sagt es uns nicht. Das heisst, er sagt es uns nicht gleich. Er will uns zu einem Schluss führen, ohne ihn auszusprechen. Er nimmt es erst als Einleitung, um danach festzustellen,

dass Arme und Proletarisierte in linken Diskussionen derzeit fast nur als Opfer der Pandemie auftauchen und kaum einer auf die Idee kommt, ihnen Eigensinn zuzugestehen – als wäre der Antipaternalismus, den einst der Arzt und Historiker Karl Heinz Roth, der Rechtsanwalt und Autor Detlef Hartmann, die Wildcat-­Redaktion oder auch die Gruppe Kanak Attack mühselig etabliert haben, in der radikalen Linken schon wieder passé.

Also gut, Antipaternalismus ist erfunden worden von einigen Angehörigen freier Berufe, ein Arzt, ein Rechtsanwalt, allerhand Leute, die es zu etwas gebracht haben, aber warum sagt uns Felix Klopotek so ausdrücklich? Ich jedenfalls wollte es gar nicht so genau wissen. Und was schliesst er daraus? Gerade hiess es, dass arme Leute sich so einen Lockdown schlecht leisten können. Jetzt hiess es, dass wohlhabende Leute ihnen keine Vorschriften machen sollten. Das ist alles gut und schön. Und jetzt:

Anzeichen dafür, dass vielen Proleten ein Leben, das von Angst vor Tod und Krankheit bestimmt ist, nicht so lebenswert erscheint wie ein Leben, das riskanter, aber eben auch angstfreier ist, gab es im vergangenen Jahr immer wieder: Umfragen in Frankreich, wonach der Anteil der Lockdown- und Isolationsbefürworter unter Menschen mit geringem Einkommen signifikant niedriger ist; Jugend- und Vorstadtrandale in Frankreich, Brüssel, Stuttgart und jüngst in Spanien.

Jetzt hat man den Sprung gemacht, dass arme Leute eben einfach risikofreudiger sind als die „panisch verängstigte Mittelschicht“. Woher weiss man sowas? Aus „Anzeichen“. Das kann ich dem Felix Klopotek jetzt glauben oder auch nicht. Aber wozu sollte ich? Ich bin schliesslich derzeit weder Antipaternalist noch Freiberufler, dass ich aus allerhand „Anzeichen“ herauslesen könnte, was man als Handarbeiter oder, wie die Antipaternalisten sagen, „Prolet“ so denkt.

Ganz ernsthaft, ich glaube, diesen Leuten ist nicht mehr zu helfen. Dass man sich nicht blöd vorkommt, dass man Leute ernsthaft „Proleten“ nennt. Sich ihr Leben und ihre Motive ausmalt. Sich öffentlich daran erregt, für wie risikofreudig und unverdorben man sie hält. Während man offensichtlich keinerlei Ahnung hat. Und dann stolz seinen Antipaternalismus präsentiert. Guter Gott. Und der Zeitung, in der man das schreibt, fällts auch nicht auf.

Ich wüsste ehrlich gesagt nicht, was ich verliere, wenn ich mich, was diese Leute betrifft, an das schöne Lied von Anatol Blasch halte:

Wir wünschen Ihnen alles Gute
für Ihre berufliche Zukunft usw.

 

Dieser Beitrag wurde unter Geschireben veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.