Es ist jetzt eine Weile her, dass uns die amerikanische Verfassungskrise beschäftigt hat, und erstaunlich schnell stellt sich ein Gefühl von Normalität ein. Es ist ja noch einmal alles gutgegangen, was. Es ist jetzt genügend Wasser die Pegnitz heruntergeflossen, dass man ein paar Dinge zusammenfassen und festhalten kann.
1. Man hat bis vor kurzem ohne weiteres so getan, als wäre die liberale parlamentarische Regierungsform gleichzeitig eine Natureigenschaft der kapitalistischen Produktionsweise, und eine Natureigenschaft einer bestimmten Weltregion, die man den „Westen“ nennt. Man beginnt zu begreifen, dass man auf diesen Gedanken überhaupt nur innerhalb einer bestimmten Epoche kommen konnte, und zwar ist diese Epoche nicht sehr lange gewesen. Sie beginnt vielleicht erst vor 100 Jahren mit dem Untergang der alten europäischen Ordnung, dem Eingreifen der USA in den ersten Weltkrieg auf Seiten Frankreichs, und den Revolutionen nach 1917. Und all die Zeit konnte man so tun, als bliebe das globale Zentrum dieser Regierungsform und Gesellschaftsordnung, die USA, von der Geschichte der Revolutionen und Konterrevolutionen unberührt. Das ist wohl jetzt vorbei.
Also wird man vielleicht, nach den Ereignissen der letzten 10 Jahre, nicht mehr so tun, als wären diese Vorstellungen von „Freiheit und Demokratie“ sozusagen der Normalzustand der Moderne, der ohne weiteres gegeben ist. Man wird aber auch aufhören müssen, so zu tun, als wären sieirgendwann von Woodrow Wilson erfunden worden, rein um irgendwelche imperialistischen Ziele zu verschleiern.
2. Grössere Teile unsrer Linken unterschätzen die Reichweite und Gehalt dieses „amerikanischen“ Begriffs von Freiheit und Demokratie. Man ist entweder sehr stolz darauf, dass mans „bürgerliche“ Freiheit und „bürgerliche“ Demokratie nennt, und vergisst nie, allerhand über den Kapitalismus dazuzusagen. Gleichzeitig gibt man sich aber verständnislos, wenn grössere Revolutionen der Gegenwart anscheinend bei diesen „bloss bürgerlichen“ Forderungen „stehenbleiben“. Wenn solche Revolutionen scheitern oder steckenbleiben, dann hört man die üblichen Weisheiten: wie wichtig es sei, dass sich derlei bürgerlich-demokratische „Illusionen“ auflösen; und dass „die Massen“ stattdessen besser dran täten, sich an die patentierten Methoden der jeweils eignen Sekte zu halten.
Das Ausmass, in dem solche oder ähnliche Weisheiten vorherrschen, ist genau das Ausmass, in dem diese Teile unsrer Linken niemandem etwas sagen werden, und von niemandem etwas lernen werden.
Wie kommts denn, dass „die Massen“ den „bloss bürgerlichen“ Begriffen von Freiheit und Demokratie viel hartnäckiger anzuhängen scheinen, als z.B. dem Leuchtenden Pfad oder auch dem Operaismus? Ich lese ja zur Zeit, ich gebs besser gleich selbst zu, aus reiner Langeweile den Castoriadis, und es wird wohl nicht ausbleiben, dass ich da noch etwas dazu schreiben muss. Castoriadis scheint mir zu denen zu gehören, die am Anfang der ganzen neueren (nach 68er und postmodernen) Ultra-Linken stehen. Und diese ganze Strömung scheint mir auf eine ganz ähnliche Frage zurückzugehen, mit der niemand recht zu Ende gekommen ist.
Die Arbeiter haben im Mai und Juni 1968 umfassend und unangemeldet gestreikt, aber sie haben danach im Grunde weiter Lohnarbeit, Gewerkschafterei und Parlamentswahl getrieben, obwohl wir doch wissen, dass sie stattdessen auch Fabrikbesetzung, Selbstverwaltung und klassenlose Gesellschaft hätten treiben können. Man findet dann allerhand Fragen auf diese Antwort. Aber man gibt sich keine Mühe, sie zu begreifen. Leute wie z.B. ägyptischen Arbeiter von 2011 ff. haben dann natürlich keinerlei Mitleid oder gar Solidarität mehr zu erwarten. Wenn man sich dann fragte, wer denn dann überhaupt, dann hat man das Problem schon völlig begriffen.
3. Wir werden uns also nicht viel klüger vorkommen, wenn man uns versichert, die Auseinandersetzung zwischen dem Biden-Lager und dem Trump-Lager habe uns im Prinzip nichts anzugehen, weil es eine Auseinandersetzung „innerhalb der herrschenden Klasse“ sei. Wir ahnen stattdessen, dass es womöglich innerhalb der „herrschenden Klasse“ mehrere Sorten gibt; die einen, deren Vorherrschaft der parlamentarischen Demokratie bedarf; und die andere, die nicht zur Vorherrschaft gelangen kann, ohne die parlamentarische Demokratie niederzureissen.
Wir haben ausserdem gefunden, dass diesen zwei Sorten womöglich verschiedne „Kapitalfraktionen“, wie man es altmodisch nennt, entsprechen, und dass die Wählerkoalitionen, die sie unterstützen, sich aus den Lohnarbeitern dieser Kapitalfraktionen zusammensetzen. Es können also beide Seiten von sich behaupten, von „den Arbeitern“ gewählt worden zu sein, und das tun sie auch ausgiebig. Die Klassenfrage hat eine nachgerade erstaunliche Wiederauferstehung erfahren.
Diese „Kapitalfraktionen“ stehen sich aber nicht einfach äusserlich und unveränderlich gegenüber, sondern sie stehen ja in ökonomischen Gefüge in dauerndem Austausch, d.h. im Kampf um Profitmargen; d.h. sie verdauen sich jeden Moment gegenseitig. Und es kann so aussehen, als ob für die USA diejenige Fraktion, an die sich die Demokratische Partei anlehnt, die entscheidende Oberhand gewonnen hat.
4. Man kann z.B. das Jacobin Mag lesen, das von Leuten gemacht wird, die sich für sog. radikale Linke halten müssen. Da liest man dann gleichzeitig folgende Dinge: erstens, Biden ist natürlich so eine Kapitalisten-Socke : „It didn’t take long for Joe Biden to betray the Labor Movement“, die alte Leier; wobei man sich bitte endlich einmal angewöhnen muss, sauber zu arbeiten, denn entweder ist jemand der Klassenfeind, oder jemand ist ein Teil der verräterischen versöhnlerischen Führung, aber nicht beides zusammen. Oder aber man liest über den PRO Act, es sei der ehrgeizigste Entwurf eines gewerkschaftsfreundlichen Gesetzes jemals, ohne eingebaute Kompromisse, eine „wish list„; aber aus dem Weissen Haus hört man, dass der Präsident dieses Gesetz beschlossen wünscht.
Und das gilt nicht nur für die Arbeitsgesetzgebung. Ganze Strömungen der radikalen Linken sind anscheinend in der Gefahr, ihre populärsten Forderungen zu verlieren. Die gekauften Schergen des Kapitals nehmen sie ihnen einfach weg und machen Gesetze draus. Es lässt sich noch nicht einmal sagen, dass sie mit allerhand üblen Tricks den sozialistischen Kandidaten Bernie Sanders von der Macht abhalten. Sie haben ihn zum Vorsitzenden des Haushaltsausschusses gemacht.
Präsident Biden ist nicht besonders radikal. Wer in der Lage ist, zwei Billionen Dollar in einen Nachtragshaushalt zu schieben, muss das auch nicht sein. Mit dieser Art Geld muss man nicht einzelne Personen des linken Parteiflügels kaufen. Sondern man kauft ihr Programm. Wer in der Lage ist, 100jährige Anleihen für praktisch 0% Zinsen am Markt zu plazieren, ist auch in der Lage, den gesamten Green New Deal in einem einzigen Gesetz zu erledigen.
Heisst das, dass alle diese Forderungen viel zu zahm, „reformistisch“ gewesen seien? Ich muss gestehen, dass ich nicht weiss, wer das sein soll, der reformistische von nicht-reformistischen Forderungen unterscheiden kann, und auch nicht, was eine nicht-reformistische Forderung sein soll. Mir scheint, dass z.B. revolutionäre Veränderungen nicht gefordert, sondern gemacht werden.
5. Ist das also die Art, wie die Auseinandersetzungen der letzten 10 oder 12 Jahre ausgehen: mit einer neuen sozialdemokratischen Ära? In keiner Weise. Es ist noch gar nichts vorbei, es hat noch nicht einmal begonnen. Genau in demselben Masse, in dem es Biden gelingt, die amerikanische Gesellschaft zu konsolidieren, verlagern sich dieselben Gegensätze auf die aussenpolitische Ebene. Und das selbe wird für eine etwa von den Grünen geführte deutsche Bundesregierung gelten.
Nehmen wir die Autoindustrie. Wir haben darüber schon viel geschrieben. Sie steckt in einer grösseren Sackgasse, ihr Kapitalstock ist veraltet, die internationale Konkurrenz frisst die Profite. Eine Politik nach Art des Green New Deal bedeutet nicht mehr und nicht weniger, als dass ungeheure Summen in die Umstellung auf Elektromobilität gesteckt werden, und zwar sowohl in der Fertigung, als auch im Strom- und Strassennetz; sowie eine gewisse staatliche Nachfrage nach Elektrofahrzeugen, die wie eine Abnahmegarantie wirkt.
Das ganze wirkt gegenüber dem Weltmarkt, insbesondere China, wie eine Aufholjagd in einem Handelskrieg; gegenüber den mächtigen Branchen der älteren Autokonjunkturen, wie der Erdölbranche, wie ein gewaltiger Machtkampf. Und wenn dieser Machtkampf im Inneren entschieden ist, sind die älteren abgestiegnen Branchen ihrerseits darauf verwiesen, sich zu fügen und einen Platz in der neuen Ordnung zu finden. Beweisstück B:
An utterly crushing day for Big Oil
1) Chevron investors demand emission cuts
2) Dutch court tells Shell to cut emissions by half
3) Exxon shareholders buck the company and elect directors demanding climate action.
Thanks to all who fight–you push long enough and dominoes tumble— Bill McKibben (@billmckibben) May 26, 2021
Können sie das? Ja, wenn die neue Ordnung der Dinge ihnen eine genügende Profitrate lässt. Aber genau das ist das Problem: die Sanierung der Profitrate ist nur zu haben über den Handelskrieg.
6. Die Gegensätze zwischen „dem Westen“ und China werden bis zu einem bisher unbekannten Punkt ansteigen. Und, was nicht ganz dasselbe ist, auch die zwischen „dem Westen“ und Russland bzw. denjenigen Regimen, für die Russland der Hauptanker ihres Bestehens ist.
Die Revolutionen von 2009 ff. sind auch keinesfalls erledigt, sondern sind mit gewaltiger Anstrengung stillgestellt. Sie können und werden weitergehen, sobald der Druck von ihnen genommen wird. Zwei Dinge halte ich aber auf absehbare Zeit für illusorisch.
Erstens: keine dieser Revolutionen wird schnell Frieden und Prosperität bringen. Sondern sie werden ohne Zweifel zu fürchterlichen Bürgerkriegen führen. Und jede innenpolitische Auseinandersetzung tendiert dazu, sich an den aussenpolitischen Gegensätzen festzumachen; so dass die kommenden Revolutionen auch in dieser Periode von Stellvertreterkriegen überlagert sein werden. Ohne die Aussicht auf Frieden und Prosperität werden aber grössere Teile der Bevölkerungen Revolutionen nicht unternehmen, ausser die Lage ist völlig verzweifelt. Es steht also zu erwarten, dass in vielen Gesellschaften die Lage in der Tat verzweifelt werden wird, während kleinere radikalierte Teile bereits in Bewegung geraten; ehe dann das Unvermeidliche dennoch losgeht und kein gutes Ende nimmt.
Zweitens: eine klare Perspektive für eine dauerhafte und gründliche Sanierung der kapitalistischen Produktionsweise gibt es nicht. Und ohne das gibt es überhaupt keine Antwort auf die Frage, ob „der Westen“ in seiner heutigen Form, oder die liberal parlamentarische Regierungsform, eine Zukunft haben. Aber eine solche Perspektive hat es niemals gegeben, sondern das ganze Geschäft hangelt sich mit notdürftigen Lösungen von Schwierigkeit zu Schwierigkeit. Einstweilen kann das Geschäft vielleicht aufrechterhalten werden, indem man China Anteile wegnimmt. Mittelfristig müsste man neue Bedürfnisse finden, die sich durch Waren befriedigen lassen; und die eine selbsttragende Konjunktur möglich machen würde, wie es z.B. Auto und Plastik in den 1950ern getan haben. Aber man kann nicht so tun, als würde sich das schon finden. Was passiert, wenn es sich nicht findet? Es geht so weiter wie bisher, nur härter.
Das heisst: weder die ungestörte Entwicklung der Dinge noch die Revolution lässt einen guten Ausgang erwarten. Aber beide werden dennoch unweigerlich eintreten.
7. Eine Revolution wie die jetzt versuchte in Weissrussland zB ist, sagen unsre Schlaumeier, ist gar keine grosse Sache, im Grunde gehts darum, ein verkommenes disfunktionales Regime zu ersetzen durch ein modernes, nagelneues Regime, aber eine grundlegend andere Gesellschaft wird daraus nicht. Und natürlich haben unsre Schlaumeier recht, denn das ist ihr Geschäft, d.h. das einzige, was sie können.
In denjenigen Teilen der Welt, in denen fürs parlamentarische Regieren die wirtschaftlichen Voraussetzungen nicht bestehen, sind solche Revolutionen die einzige Art und Weise, wie ein unfähig gewordnes Regime verschwindet. Und als solches ist da auch nichts dabei, so könnte man unsern Schlaumeiern zugeben, und das ist der normale Gang der Dinge, von dem niemand viel erwartet. Ein neues Regime wird installiert, es erkennt die geerbte Staatsschuld an, die bestehenden Verträge und das ausländische Kapital und tastet auch ansonsten die Ordnung der Dinge nicht weiter an; 30 Jahre später ist es selbst versteinert, und das nächste ist an der Reih.
Was aber passiert, wenn seit zehn Jahren jedes noch so kaputte Regime, eh es stürzt, von russischen Waffen aufrechterhalten wird? Wenn die russische Regierung die Schutzmacht aller konservativen Kräfte geworden ist? Eines Tages wird sie zusammenbrechen, und mit ihr alle ihre Klienten, auf einmal. Sind das dann auch noch nur lokale episodische Ereignisse?
8. Es gibt also keinerlei Ruhepunkt, und keinerlei stabile Ordnung einer Zwischenzeit. Es kann sich jederzeit alles wieder umkehren. Der friedliche Fortgang der Dinge im Westen hat die Verschärfung der internationalen Konflikte zu seiner Voraussetzung. Ob er will oder nicht, sein Schicksal hängt an der Wiederaufnahme der Revolutionen; aber diese werden auch auf ihn zurückschlagen.
Keine bestehende Tendenz repräsentiert heute anscheinend etwas anderes als ein Moment innerhalb dieses Vorgangs. Von keiner kann erwartet werden, über ihn hinauszuführen. Aber keine bestehende Tendenz ist mehr neutral in irgendeinem Sinne, die Vorgänge der letzten zehn Jahre haben sie alle sortiert und ihnen ihren jetzigen Platz zugewiesen, wenn dieser Platz auch ein sehr anderer war, als man es am Anfang erwarten konnte. Es bestehen heute ganz andere Allianzen. Aber was werden sie taugen? Die Karten werden schon morgen neu gemischt.