Buchbesprechung: Andrej Platonov, „Frühe Schriften zur Proletarisierung. 1919-1927“, Wien–Berlin, 2019

[aus dem Heft #15]

– von ndejra

Ich gebe zu, von dieser Seite, als Publizisten bzw. Journalisten, kannte ich ihn bisher nicht. Seit Langem schätze ich seine Romane, seine eigentümliche, unverwechselbare Sprache, seit vielen Jahren ist er mir ein „verborgener Mensch“ (so hieß sein Roman aus dem Jahre 1927), zu dem ich immer wieder zurückkehrte. Kaum jemand hatte die kolossale Anstrengung der gesellschaftlichen Kräfte während der russischen Revolution, des Bürgerkrieges und der anschließenden Modernisierung des Landes, den Lebenskampf seiner Leute so eindringlich und ehrlich geschildert. Genauso ehrlich beschrieb er wie diese Leute auf dem Weg in den Sozialismus von den ungeheuren Mächten zermalmt werden, die sie selbst geweckt hatten. Eben dafür ist Platonov seinerzeit als einer Hoffnungsträger der jungen proletarischen Literatur in Ungnade gefallen und wurde von Väterchen Stalin persönlich als „Abschaum“ tituliert. Die Wahrheit war er als einer der wenigen Proletarier in der Schriftstellerzunft der Revolution schuldig, das war sein Kunstverständnis. Die vorliegende Aufsatzsammlung liefert einen weiteren Beweis dafür, dass selbst seine finstersten Werke wie „Tschewengur“ oder „Die Baugrube“ nicht als antikommunistischen Dystopien konzipiert wurden. Ganz im Gegenteil: er war ein Kommunist, ein Utopist, ein Facharbeiter, jemand, der an der vorderster (Arbeits-)Front den Bauern während der Dürre die modernste Bewässerungstechnik erklärte und von der Erschließung der Naturkräfte und der Ausweitung des Sozialismus über das ganze Universum träumte. Stattdessen erlebte er den Einsatz der chemischen Waffen gegen ausgeraubte Bauern durch die rote Armee beim Tambower Aufstand mit. „Eine proletarische Zeitung muss alles drucken, was von Proletariern verfasst wird, denn jeder Proletarier ist ein potenzieller Kommunist. Seine Gedanken im Geist des Marxismus zu frisieren, den kaum jemand richtig versteht, das bedeutet, das Proletariat zu beleidigen und ihm unerhörte Dinge vorzuwerfen, nämlich Sympathien gegenüber dem Kapitalismus… Wir fordern die Freiheit des Ausdrucks für das Proletariat…Die beste Redaktion einer Zeitung ist die Werkhalle. Das Proletariat ist grundsätzlich ein Kommunist, und in kleinen Hinterzimmern seine Gedanken zu filtern, ist eine Widerlichkeit. Wir drohen!“ – schrieb er 1920. Wohl im selben Geist legt er sich mit provinziellen Parteifunktionären an und wird 1921 aus der Partei ausgeschlossen. Und so schrieb er offensichtlich seine Zeitungsartikel, über alles, was ihn gerade als Revolutionär beschäftigte. Aus diesem Buch erfahren wir nicht, welchen Einfluss die spätere Nähe zur „Lukács-Lifschitz-Strömung“ in Moskau auf ihn hatte, aber es stellt die wildesten Widersprüche nebeneinander, die Platonovs Denken in weniger als zehn Jahren durchgemacht hat. Nicht der Revolutionssentimentalität wegen ist dieses Buch interessant – die Revolution wird sich in dieser Form nicht mehr wiederholen –, sondern seines utopisch-praktischen Denkens im Kapitel „Die Umwelt des Proletariats“. Kaum etwas davon ist zwar heute noch brauchbar, einige Ideen ließen sich jedoch sehr schön an die Nase der heutigen menschenfeindlichen Klimaschutzbewegung binden. Er reicht nicht, etwas zu ändern, damit das Schlamassel noch eine Weile so weitergehen kann, es muss alles ganz anders werden: die Versöhnung mit der Natur setzt eine grundlegende Änderung des menschlichen Stoffwechsels mit ihr, sprich der Art und Weise, in der gearbeitet wird. „Der tragische Konflikt des Menschen, der mit Maschine und Herz und mit der Dialektik der Natur gewappnet ist, muss in unserem Land auf dem Weg des Sozialismus gelöst werden. Aber man muss verstehen, dass dies eine sehr ernste Aufgabe darstellt. Das alte Leben auf der ‚Oberfläche‘ der Natur konnte sich mit allem Nötigen aus den Ablagerungen der Naturgewalten versorgen. Wir aber dringen ins Innerste der Welt vor und sie drängt uns mit gleicher Kraft zurück“. Das schließt allerdings ein, dass die Natur dem Menschen feindlich gegenübersteht, die menschenwürdigen Bedingungen müssen ihr durch Arbeit und aktives Eingreifen in die Umwelt abgerungen werden. Die Vernünftigkeit der Klimaverbesserung mittels Reliefsveränderung durch „Sprengung plus Einsatz mechanischer Verfahren“, die Platonov Ende der der 20er Jahre vorschwebte, schlug etwa 40 Jahre später z.B. in den Irrsinn des Projekts „Tajga“ um, mit dem die Sowjetunion sibirische Flüsse mit atomaren Sprengsätzen nach Zentralasien umleiten wollte. Von dieser Unvernunft hätte der sowjetische Meliorator nicht einmal träumen können. Wir dagegen träumen nur Albträume. Vielleicht bringt uns ausgerechnet Andrej Platonov auf andere Gedanken. „Die Arbeit ähnelt dem Schlaf. Bislang schlief die Menschheit den Schlaf und konnte so überleben. Die Bourgeoisie ist der erste Seufzer der erwachenden, sich befreienden Menschheit. Der Kommunismus wird ihr endgültiges und vollständiges Erwachen sein. Die Elektrifizierung der Welt ist ein Schritt zu unserem Erwachen aus dem Schlaf der Arbeit. Sie ist der Anfang der Befreiung von der Arbeit, der Übergabe der Produktion an die Maschine, der Anfang einer neuen, völlig unvorhersehenen Lebensform.“ So was zum Beispiel. (Der ganze modische Poststrukturalismus im Nachwort – ja, ist vom Turia+Kant Verlag – braucht niemand zu interessieren).

Dieser Beitrag wurde unter Geschireben veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.