Buchbesprechung: Castoriadis

Cornelius Castoriadis:

Political and Social Writings, Tr. and ed. David Ames Curtis
– Volume 1, 1946-1955: From the Critique of Bureaucracy to the Positive Content of Socialism, University of Minnesota Press, Minneapolis 1988
– Volume 2, 1955-1960: From the Workers‘ Struggle Against Bureaucracy to Revo­ lution in the Age of Modern Capitalism, University of Minnesota Press, Minneapolis 1988
– Volume 3, 1961-1979: Recommencing the Revolution: From Socialism to the Autonomous Society, University of Minnesota Press, Minneapolis 1993

darin:
– On the Content of Socialism, I, in: Bd. I, S. 290 ff.
– On the Content of Socialism, II, in: Bd. II, S. 90 ff.
– On the Content of Socialism, III: The Workers‘ Struggle against the Organization of the Capitalist Enterprise, in: Bd. II, S. 155 ff.
– What Really Matters, Bd. II, S. 223 ff.
– Modern Capitalism and Revolution, Bd. II, S. 226 ff.

The Imaginary Institution of Society, Tr. Kathleen Blarney, Polity Press, 1987, Reprint 2005

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Die Schriften des Cornelius Castoridiadis, von denen wir hier einige besprechen, gehören zu einer merkwürdigen verleugneten Tradition, die auf untergründige Weise ungeheuer wirksam gewesen ist. Castoriadis (ab jetzt C.) und sein Kreis, längere Zeit um die Zeitschrift „Socialisme ou Barbarie“, haben in den 1950ern Dinge formuliert, die auf die eine Weise oder die andre seit 1968 überall anzutreffen sind; sei es auch in entstellter Weise, in unkenntlicher, von ihrer lebendigen Begründung losgetrennten Form.

Seine Schriften werden heute hauptsächlich in Kreisen gelesen, wo man sich der alten, untergegangenen Linie des Rätekommunismus verpflichtet fühlt, aber eher in einer unbestimmten Weise; sie werden anscheinend auch dort nicht voll verstanden, denn es stehen dort noch Gedanken darin, deren Folgen merkbar wären, wenn sie aufgenommen würden. Man hält dort auch nicht zu nah an dem Rätekommunismus; es gibt dort, gibt man uns zu verstehen, doch einiges, was veraltet sei. Und auch über die Arbeit von C. wird nur in Andeutungen gesprochen. Weitaus bekannter sind seine Schüler, Debord und die Situationisten; und auch diese und ihre Bewunderer verwenden die Einsichten C.’s in entstellter und nur andeutender Weise.

Oder aber C. wird, in eher akademischen Kreisen, geheimnisvoll als eine Art besserer Ersatz für Foucault, Deleuze und die ganze Schule der postmodernen Philosophie gehandelt; und mindestens seine „Imaginäre Einrichtung der Gesellschaft“ ist auch ganz in dem obskuren Stil der Lacan-Schule gehalten. Aber als ein Modephilosoph wie diese hat er sich ja nun nicht durchsetzen können trotz dieses Stils; warum das so sein könnte, auch darüber hört man nur Andeutungen.

Aber wie kann es denn sein, dass, wie C. selbst schreibt, ganze Schulen von Philosophen davon leben, „schamlos zu plündern, was wir wenigen 30 Jahre lang ausgearbeitet haben“, Bd. III, 276? „Sie stehlen hastig von dieser Arbeit ein paar Stücke, und verdrehen ihre Bedeutung“; und ich weiss ja, was er meint, aber wie in der Welt kann so etwas zugehen?

Es ist zunächst einmal nur eine Frage der philosophischen Polemik, wenn C. über Foucault spottet, der 1968 auf einmal die Unterdrückten und den Widerstand gegen die Macht entdeckt, aber zu verstehen gibt, dass die Unterdrückten, sobald ihr Widerstand gefestigte Strategie und Organisation annimmt, selbst zu einem Teil der Macht werden. Es mag für Philosophen amüsant sein, Foucault nachzuweisen, dass er die „Macht“ zu einem „geheimnisvollen Subjekt“ und in der Geschichte wirkenden Rationalität gemacht hat, ebd. S. 274 f., und dass er entgegen aller seiner Beteuerungen also eigentlich einen erneuerten Hegelianismus betreibt.

Aber die Revolutionen des 20. Jahrhunderts haben ja wirklich statt der Befreiung die totale Herrschaft von Organisationen hervorgebracht, die man, d.h. die Kommunisten, d.h. Leute wie C., als er jung war, einmal für die Organisationen der Befreiungsbewegung gehalten haben; und es hilft recht wenig, Foucault nachzuweisen, dass seine Antwort auf dieses Problem trügerisch falsch ist, wenn sich nicht eine bessere findet. Aber hat C. eine bessere? Wenn man sich unter seinen heutigen Freunden umsieht, sollte man das nicht meinen. Von dort hört und sieht man nichts. Und wenn das alles wäre, was zu sagen ist, könnte man es dabei belassen, aber es ist nicht alles.

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C. hatte 1944 als junger Mann in Griechenland zur kommunistischen Partei gehört, aber sich dann den Trotzkisten zugewandt. Die KP versuchte wie in den nördlichen Nachbarstaaten die Macht zu ergreifen, und ohne das Eingreifen der Briten in den griechischen Bürgerkrieg hätte sie das vermutlich geschafft. C. floh nach Frankreich und arbeitete in der dortigen Sektion der 4. Internationalen und gründete dort mit Lefort eine eigene kleine Tendenz, wie man das unter Trotzkisten so macht. Seine theoretischen Arbeiten beginnen mit einer guten Frage, die seine Tendenz stellte.

Wenn nämlich, wie Trotzki sagt, die Sowjetunion ein deformierter Arbeiterstaat ist; also das Staatseigentum an den Produktionsmittel keineswegs die Grundlage der Despotie, sondern das authentische Erbe einer Arbeiterrevolution ist, welche Arbeiterrevolution dann nur durch die regierende Schicht deformiert worden ist; wie kann dann dieselbe deformierte Partei in den osteuropäischen Staaten und in China selbst das Staatseigentum durchführen? Wie kann der Stalinismus revolutionär sein? Wie kann ein System, das der Sowjetunion ähnelt, eingerichtet werden ohne den Durchgang durch eine wirkliche Arbeiterrevolution, ohne eine Phase von wirklichem lebendigem Sozialismus, der dann erst durch äussere Zufälle deformiert wird? Der ganze Hauptpunkt des Trotzkismus muss falsch sein.

Wer so verständige Fragen stellt, kann natürlich nicht lange bei den Trotzkisten bleiben, und C. und Lefort machten sich denn selbständig und sammelten um sich eine Reihe anderer abgefallner Trotzkisten, oder Reste von Bordigas Strömung, und was sonst noch von der älteren Ultra-Linken des Marxismus übrig geblieben war; und begannen damit, die Fragen gründlicher zu stellen. Sehr bald stiessen sie auf die Arbeiten der rätekommunistischen Strömung, auf Pannekoek und auf die Hinterlassenschaft der niederländischen Gruppe Internationaler Kommunisten. Pannekoek war sehr alt, er hatte um 1900 noch Rosa Luxemburg gekannt, und der GIK ging es nicht anders als allen anderen Organisationen aus den 1930ern: wenn sie den Krieg überstanden hatten, verschwanden sie in der Nachkriegszeit.

C. und sein Kreis fanden eine schnell auseinanderfallende Tradition vor, die sie neu zusammenzusetzen versuchten. Und sie sind, soweit ich weiss, auch nahezu die einzigen gewesen, die dieses Erbe damals überhaupt angetreten haben. Sie stehen auf diese Weise einerseits am Endpunkt der älteren Ultra-Linken; und auf eine andere am Beginn der ganzen neueren Ultra-Linken, wie sie sich nach 1968 gebildet hat.

Aber die historische Linie, die durch „Socialisme ou Barbarie“ und die Schriften von C. verläuft, ist anscheinend nicht einfach eine Linie, die zwei Bündel von Sekten in zwei Jahrhunderthälften miteinander verbindet. Sondern da ist mehr, das nicht in zwei Sätzen beschrieben ist.

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Der ganze erste Band seiner Schriften ist von bloss historischem Interesse; überall findet sich hier, dass in den alten trotzkistischen Begriffen und Symbolen die Frage verhandelt wird: wie kann es geschehen, dass aus der Arbeiterbewegung selbst eine Ordnung von Ausbeutung und Herrschaft hervorgeht? Diese Frage ist die klassisch trotzkistische und daher unkenntliche Form der Frage, wie denn die Emanzipation der Arbeiterklasse wirklich vor sich gehen müsste. Und in dieser unkenntlichen Form wird sie in „Socialisme ou Barbarie“ auch behandelt etwa bis zu dem definierenden Ereignis dieser Zeit, der ungarischen Revolution von 1956. Selbst der erste Teil des „Inhalts des Sozialismus“ ist noch beherrscht von den alten müden Debatten.

Es ist erstaunlich, wie die Geschichtsschreibung unsrer Ultra-Linken bis heute auf das Ende der 1960er fixiert ist; für C. und Leute wie ihn, auch für die Situationisten, sind die prägenderen Jahre eher die Ende der 1950er gewesen. Gemessen an dem, was sich anzubahnen schien, muss der Mai 1968, der so viele bis heute beeindruckt, weit hinter seinen Erwartungen zurückgeblieben sein. Er zieht sich eine Weile danach aus der politischen Arbeit zurück und geht in die Philosophie und in die Psychoanalyse; offenbar erwartet er nicht mehr, dass dicht danach etwas grösseres passiert. Der bedeutendste Schluss, den er aus dem Mai 1968 zieht, ist, dass die Arbeiterklasse weitgehend passiv geblieben sei; und was diese Passivität zu bedeuten habe, Bd. III S. 140.

Die ungarische Revolution von 1956 dagegen hatte in seinen Kreisen eine ungeheure Aktivität katalysiert. Socialisme ou Barbarie war bisher wirklich eine Anhäufung von Trümmern untergegangener Tendenzen; jetzt dagegen beginnt erst die schöpferische Tätigkeit, die aus diesen etwas neues bildete. Man sollte nicht glauben, was für eine anregende Wirkung so eine Revolution auf den Verstand haben kann; vor allem eine solche, wo unerwartet Arbeiterräte auftauchen, die Macht ergreifen, eine regierende kommunistische Partei zur Auflösung zwingen, und wenn das erst wieder aufhört nach der Intervention der grössten Landstreitmacht der Welt.

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„Die Erfahrung des bürokratischen Kapitalismus erlaubt uns, klar zu erkennen, was Sozialismus nicht ist und nicht sein kann. Ein genauer Blick auf vergangne proletarische Aufstände und auf das alltägliche Leben und den alltäglichen Kampf des Proletariats bringt uns in die Lage, zu sagen, was Sozialismus sein kann und sein soll. Auf der Grundlage der Erfahrung eines Jahrhunderts können und müssen wir heute den positiven Inhalt des Sozialismus in viel vollerer und genauerer Weise bestimmten, als das früheren Revolutionären möglich war. … Das sind nicht Hoffnungen auf eine neblige und ferne Zukunft, sondern der Inhalt von Bestrebungen, die sich heute und hier zeigen, sowohl in revolutionären Kämpfen als im alltäglichen Leben“, Inhalt des Sozialismus II, Bd. II, 91 f.

Die Organisationen der früheren Arbeiterbewegung hatten von dem Inhalt des Begriffs Sozialismus nur eine unklare Vorstellung, wenn sie sich überhaupt dafür interessiert hatten; daran hatte sich auch nichts geändert, als sie in den 1880ern zum grössten Teil den sogenannten Marxismus als Parteidoktrin angenommen hatten. Unter der Hülle dieser Doktrin bestanden selbstverständlich die verschiedensten Tendenzen fort, die sich nach dem Beginn des Weltkriegs selbstverständlich als Todfeinde gegenüberstanden. Gemeinsam war diesen nur eines, dass sie nämlich nicht aus dem wirklichen Leben und Kampf der Klasse genommen waren, sondern aus den politischen Ideen, die die Intellektuellen in die Organisationen gebracht hatten. Die ungesprochene Voraussetzung aller sozialistischen Programme war, dass sie ausgedacht werden im Namen einer Klasse, die schweigt.

„Die Einrichtung des Sozialismus beinhaltet die sofortige Abschaffung der grundlegenden Teilung der Gesellschaft in eine Klasse von Anleitern und eine Klasse von Ausführenden“, S. 95. Diese grundlegende Teilung zwischen Leitung und Ausführung hatte C. im Gründungsmanifest von Socialisme ou Barbarie 1949, Bd. I S. 76 ff., 79. als den Grundwiderspruch in der Ordnung der Herrschaft bestimmt; er zieht sich durch alle seine seitherigen Schriften. Nach 1969 wird die Lehre von der sog. Communization sich auf diesen Begriff berufen; wir haben davon woanders schon gesprochen.

„Das System funktioniert nur in dem Masse, indem die offiziellen Organisierung der Produktion und Gesellschaft fortwährend Widerstand entgegengebracht wird, sie durchkreuzt wird, verbessert wird und vervollständigt wird durch Selbstorganisation der Menschen“, ebd. S. 94; diese erstaunliche und sogar schwer zu akzeptierende Einsicht, die aber durch alle Erfahrung bestätigt wird, finde ich hier zum ersten Male ausgesprochen. Man schreibt sie gewöhnlich den Operaisten des Jahrzehnts danach zu, aber auch diese haben, wie man weiss, „Socialisme ou Barbarie“ gelesen. Gut möglich, das C. der früheste war, der willens gewesen ist, ihn auszusprechen.

Es ist eine banal alltägliche betriebliche Erfahrungstatsache, die allen Betriebstätigen mehr oder weniger bekannt ist, und die gewöhnlich gerade deswegen nicht ernst genommen wird. Sie wirft nämlich, wenn man sie ernst nimmt, ein merkwürdiges Licht auf die sogenannten Leitungsfunktionen. Diese werden durchaus ernst genommen, aber anscheinend jeder weiss, dass sie keineswegs den Arbeitsprozess leiten, sondern meistens eher störend eingreifen; dass sie streng genommen überflüssig sind und es ohne sie besser ginge. Die Aufgabe der Arbeitenden besteht zu einem nicht geringen Teil darin, um die erhaltenen Anweisungen herum zu arbeiten; das heisst, dass sie sich bereits, um unter betrieblicher Herrschaft überhaupt arbeiten zu können, schon insgeheim die wirkliche Leitung der Produktion koordiniert haben müssen; also etwas tun müssen, was sie nach der offiziellen Begründung für die Unmöglichkeit des Sozialismus gar nicht können.

„Führung der Betriebe durch die Arbeiter wird nur möglich sein, wenn die Einstellung der Leute zur gesellschaftlichen Organisation sich radikal ändert. Das wiederum wird nur der Fall sein, wenn die Institutionen der Gesellschaft für ihr alltägliches Leben eine Bedeutung haben. Genau wie die Arbeit eine Bedeutung erst haben wird, wenn sie von den Leuten begriffen und beherrscht wird, so werden die Institutionen der sozialistischen Gesellschaft begreifbar und beherrschbar werden müssen“, S. 97.

Die sozialistische Gesellschaft ist nicht denkbar als abstrakte Unmittelbarkeit zur Gesellschaft, wie dies unter den Ultra-Linken nach 1968, auch unter seinen eigenen Schülern, heute bevorzugt wird. C. ist sehr klar über die notwendigen Institutionen der sozialistischen Gesellschaft: Die „selbsttätige massenhafte Aktion kann nicht formlos, fragmentiert und zerstreut bleiben. Sie wird Ausdruck finden in Handlungsformen und Organisationsformen, in Verfahrensweisen und Einrichtungen, die ihren Zweck angemessen verkörpern und ausdrücken“, S. 96

„Alle wirtschaftlichen, politischen und anderen Strukturen der Gesellschaft sollen auf örtlichen Gruppen beruhen, die konkrete Kollektivitären sind, organische gesellschaftliche Einheiten“, S. 98; „das moderne Gesellschaftsleben hat diese Kollektivitäten schon geschaffen und schafft sie weiterhin. Sie beruhen auf den mittelgrossen und grossen Betrieben“, S. 99; „diese elementaren Einheiten“ müssen „in das gesellschaftliche Gewebe im Ganzen eingefügt“ sein, so dass sie „den notwendigen Grad an Zentralisierung erreichen“, ebd.

Unter dieser Zentralisierung denkt er sich ebd. nicht Konzentration von Macht an einer Stelle, sondern diejenige Art und Weise, wo die Tätigkeit der örtlichen Gruppen zusammengeführt ist. Eine Gesellschaft, darüber ist man sich heute in unsern Kreisen nicht immer klar, bedarf eines Moments, worin sie ihre Einheit findet. Das „Problem der Zentralisation“, S. 107, stellt sich objektiv. Auch „eine Vollversammlung von Streikenden, ein gewähltes Streikkomittee, die Kommune, der Arbeiterrat – das ist Zentralisierung.“

„Wenn man irgendeine Einrichtung, die einem wichtigen Zweck dient, zerstückelt, erschafft man nur ein zehnmal grösseres Bedürfnisfür irgendeine andere Einrichtung, die die Stücke zusammenführt“, S. 100, und zwar sagt er dies anhand der Massenbewegung der polnischen Arbeiterschaft 1956, die daran scheiterte, dass sie sich mit der betrieblichen Autonomie der Arbeiter zufrieden geben wollte und gerade dadurch dem Staat und der kommunistischen Partei die Rolle zurückgab, die Einheit der Gesellschaft darzustellen.

Die Organe der arbeitenden Klasse müssen diese gesellschaftliche Einheit selbst darstellen, ausdrücken, ausüben; sie können überhaupt keine Macht neben sich dulden, keine von ihnen getrennte Tätigkeit einer besondern Klasse von Verwaltern, Spezialisten oder Bürokraten. Kann eine bloss teilweise Autonomie der arbeitenden Klassen bestand haben? Wenn die Organe der Arbeiterklasse nur begrenzte Befugnisse haben, wenn ihre Tätigkeit die Entscheidungen einer neben ihr bestehenden Kaste einzuhalten, und im Ergebnis umzusetzen, wenn sie nicht der Ausdruck aller Bedürfnisse und Fähigkeiten der arbeitenden Gesellschaft wären: dann würden sie schnell aufhören, eine Rolle zu spielen, und müssten an dem Desinteresse der arbeitenden Klasse selbst zu Grunde gehen.

„Die politische Entfremdung in der kapitalistischen Gesellschaft kommt nicht einfach daher, dass die. bestehenden Einrichtungen durch ihre eigene Strukur es unmöglich machen, dass der Wille des Volks ausgedrückt oder ausgeübt würde. Die gegenwärtige politische Entfremdung rührt daher, dass dieser Wille an seiner Wurzel zerstört, sein Wachstum gehemmt, und zuletzt jedes Interesse an den öffentlicher Angelegenheiten gehemmt wird“, S. 142. Eine „unüberbrückbare Kluft“ besteht zwischen der heutigen ‚Politik‘ und dem wirklichen Leben der Menschen“, ebd.

„Die Menschen werden sehen, dass ihre Anliegen reale Wirkungen haben, und feststellbare Ergebnisse sollten bald allen offensichtlich sein. Die Ausdrucksweise der neuen Politik wird darauf ausgelegt sein, wirkliche Probleme allen zuänglich zu machen. Die Kluft, die „politische Angelegenheiten“ vom alltäglichen Leben der Menschen trennt, wird vollständig aufgehoben“, S. 142.

„Autonomie ist deshalb bedeutungslos, ausser sie beinhaltet Leitung durch die Arbeiter, das heisst, dass die organisierte Arbeiterschaft über den Produktionsprozess entscheidet auf der Ebene der Abteilung, des Betriebs, ganzer Branchen, und der Gesamtwirtschaft. Aber Leitung durch die Arbeiter ist nicht nur eine Verwaltungstechnik… es bedeutet, dass ein neues Verhältnis der Arbeiter zu ihrer Arbeit eingerichtet wird. Der Inhalt der Arbeit wird sich unmittelbar verändern müssen“, S. 102. „Das Problem ist nicht, den einzelnen immer mehr „freie“ Zeit zu lassen…, so dass sie sie wie sie wollen mit ‚Poesie‘ oder Holzschnitzen füllen können. Das Problem ist, aus aller Zeit Zeit von Freiheit zu machen, und konkrete Freiheit sich in schöpferischer Tätigkeit verkörpern zu lassen. Das Problem ist, die Poesie in die Arbeit zu bringen (Poesie heisst streng genommen schöpferische Tätigkeit). Produktion ist nicht etwas negatives, das so sehr wie möglich eingeschränkt gehört, damit die Menschheit ihre Erfüllung in der Freizeit findet. Die Errichtung der Autonomie bedeutet auch und zuerst die Errichtung der Autonomie der Arbeit“, S. 107.

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Was hier, im „Inhalt des Sozialismus II“, umrissen wird, wird bei den Situationisten wenige Jahre später die „Aufhebung des Regimes der Trennungen“ heissen, ohne dass die Situationisten noch viel daran hätten machen müssen. Der Unterbau aber, die notwendigen Einrichtungen der sozialistischen Gesellschaft, das findet C. bei den niederländischen Rätekommunisten fertig vor, so dass er es S. 108-142 nur noch nacherzählen muss; es ist das komplette Konzept der „Grundprinzipien kommunistischer Produktion und Verteilung“, wenn auch in der Form, in die Anton Pannekoek es in seinem Buch über „Arbeiterräte“, Melbourne 1950, gebracht hat.

Ich selbst sehe nur zwei bedeutendere Abweichungen zu der GIK, nämlich einerseits die Rolle für die Leontieff-Matrizen bzw. Güterbilanzen, die C. S. 119 ff. für die Koordination der Räteökonomie empfiehlt, und die Gedanken zu den Räteparteien, S. 145 f., der mir aus dem Memoiren Trotzkis zu stammen scheint. Sind das Weiterentwicklungen oder Entstellungen? Das wird nicht gut zu entscheiden sein, ehe man es ausprobiert hat. C. stellt dagegen nie die innere Ökonomie der Arbeitszeit in Frage, die die GIK vorgeschlagen hatten; er weiss zuviel, um das innere Band zu durchtrennen, das seine Ideen mit dem Bedürfnis der Gesellschaften, und der Tradition der Arbeiterbewegung verbindet.

Wo C. über den bisherigen Rätekommunismus dagegen weit hinaus geht, ist im dritten Teil des „Inhalt des Sozialismus“. Der Rätekommunismus sieht wie eine schön ausgedachte Utopie aus oder wie eine lang vergessne Idee aus einer lang vergangnen Welt. Ob er wirklich tiefe historische und gesellschaftliche Gründe hat, wie die GIK meinten, oder nur eine Rationalisierung der Arbeiteraufstände nach 1917 gewesen ist, die in Wirklichkeit keine Spuren hinterlassen haben, das ist an diesem Punkt noch nicht entscheidbar. Und auch der Anspruch, den C. erhebt, dass der Inhalt des Sozialismus aus der Praxis des Proletariats und nicht aus dem Denken des Theoretikers zu stammen hat, ist noch nicht eingelöst.

„In dem einen Betrieb tun sich die Arbeiter zusammen, um jeder den maximalen Bonus zu erreichen und um weniger als die Norm zu produzieren. In Budapest führen sie Strassenkämpfe gegen russische Panzer, organisieren sich in Räten und beanspruchen die Leitung der Fabriken. In den USA bestehen sie darauf, eine Fertigungslinie zweimal am Tag anzuhalten, damit sie eine Tasse Kaffee trinken können. Im Bréguet-Werk in Paris gingen sie letzten Frühling in Streik und verlangten die Abschaffung fast aller Lohnstufen, in die das Management sie einstuft. Für mehr als ein Jahrhundert sind sie mit dem Ruf „Arbeitend leben, oder kämpfend sterben“ gestorben. In den ’sozialistischen‘ Fabriken Russlands erzwingen sie, dass die Löhne angeglichen werden, trotz der bittren Klagen, die Chruschtschows und seine Clique in ihren Reden führen. In verschiednen Graden der Entfaltung und Klarheit drücken alle diese Bekundungen und, metaphorisch gesprochen, die Hälfte aller alltäglichen Handlungen von hunderten Millionen Arbeitern einen Kampf um die Errichtung neuer Verhältnisse zwischen den Menschen und der Arbeit aus. Und diese Bekundungen und Handlungen sind nur in Begriffen einer sozialistischen Perspektive verstehbar“, Inhalt des Sozialismus III, S. 156.

C. versucht eine „Revolutionierung unserer Methoden des Denkens“, S. 157: Zuerst nimmt er sich, nach dem Muster der oben mitgeteilten paradoxen Einsicht, dasjenige vor, was im kapitalistischen Betrieb und der Gesellschaft als „Rationalität“ gilt. „Die Situation und der Zustand des Menschen als Produzent unter dem Kapitalismus sind widersprüchlich und schliesslich absurd. Die kapitalistische Rationalität der Produktionsverhältnisse ist nur scheinbar Rationalität“, S. 159. Das kann C. schon an dem Ursprung des Arbeitsverhältnisses zeigen, der Arbeitsstunde. „Wieviel Arbeit ist in einer Stunde? … Es ist unmöglich zu sagen. Und es ist auf diesem Sand, dass die kapitalistische Produktionsweise gebaut ist. // In der Vergangenheit waren Art und Tempo der Arbeit auf fast unabänderliche Weise festgelegt, durch Naturgegebenheit und überlieferte Techniken… Heute sind Naturgegebenheiten und Techniken in ständiger Umwälzung, um die Produktion zu beschleunigen. Der Arbeiter hat aber kein Interesse daran, zu arbeiten, ausser insoweit er dabei Geld verdient. Unvermeidlich wird er also dem Versuch, sein Arbeitstempo zu erhöhen, Widerstand entgegensetzen. Der Inhalt einer Stunde Arbeit wird also Gegenstand eines permanenten Konflikts. // Nun besteht aber im kapitalistischen Universum kein rationales Kriterium, das es erlauben würde, diesen Konflikt aufzulösen. … Das Kräfteverhältnis zwischen Arbeit und Kapital allein entscheidet die Geschwindigkeit der Arbeit“, S. 160.

„Der Taylorismus und alle die Methoden der „wissenschaftlichen Betriebsführung“, die von ihm herkommen, beanspruchen, entweder direkt oder indirekt, eine solche objektive Grundlage zu liefern“; jede Operation wird in Teilschritte zerlegt, eine „Serie von Bewegungen, von denen die Dauer gemessen wird, und unter diesen die „zeitökonomischste“ ausgewählt“, um daraus „das Kriterium zu gewinnen, wieviel Leistung jeder Arbeiter liefern soll“, S. 161

„Mit der konkreten Realität der Produktion hat das nichts zu tun“, S. 161, die „theoretische Kritik des Taylorismus … dass dieser Gesichtspunkt absurd, dass der Mensch keine Maschine ist… ist nur eine Halbwahrheit. Die ganze Wahrheit ist, dass die Realität der modernen Produktion…genau diese Absurdität selbst ist“, S. 162. „Das erstaunliche ist, dass in der Sphäre der Produktion der Kapitalismus es beinahe geschafft hat, dem Menschen in ein Anhängsel der Maschine zu verwandeln“, S. 163

Das Wort „beinahe“ tut hier eine Menge Arbeit. Es kommt an andern Stellen in derselben Weise vor. Die kapitalistische Produktionsweise funktioniert, sagt C. anscheinend, hauptsächlich durch dieses „beinahe“: „Aber wie bereits wohlbekannt ist, und aus Gründen, die ich später aufklären werde, kann diese Tendenz sich niemals vollständig durchsetzen. Und wenn sie es je täte, würde der Kapitalismus sofort zusammenbrechen“, S. 248. Dieser überraschende Gedanke wird noch mehrmals auftauchen, aber die Gründe, die er meint, werden nie in einem einzigen Satz zusammengefasst werden; man muss die ganze Argumentation dazu im Gedächtnis behalten.

Die so, durch die „wissenschaftliche Betriebsführung“, gschaffne oder eher simulierte „Rationalität“ hat wenig mit dem wirklichen Geschehen zu tun. „Der einzelne Arbeiter ist in der modernen Produktion eine Abstraktion. Zu einem Grad, der früheren Formen der Produktion unbekannt war, ist die kapitalistischen Produktion eine kollektive Form“, S. 166. „Individuelle Arbeitsrhythmen und Bewegungen sind nur Materialisierungen eines Gesamtrhythmus, der ihnen vorangeht, sie beherrscht und ihnen ihre Bedeutung gibt. Das wirkliche Subjekt der modernen Produktion ist nicht der einzelne; es ist… die Kollektivität der Arbeiter“, S. 166; die Arbeiter werden dadurch „neu sozialisiert“; sie sind genötigt, sich „in dem vom Kapitalismus auferlegten neuen Rahmen“ zusammenzufinden; daraus entstehen „die elementaren gesellschaftlichen Gruppen des Betriebs“, S. 167.

„Es ist dies gleichzeitig eine Neugruppierung für Zwecke der Arbeit und Neugruppierung für Zwecke des Kampfes. Es ist, weil sie untereinander die Schwierigkeiten ihrer Arbeit, die miteinander zusammenhängt, zu lösen haben, dass die Arbeiter notwendigerweise elementare Kollektivitäten bilden, die auf dem Organisationsdiagramm keines Unternehmens erwähnt sind“; „die theoretischen Vorstellungen des Managements bestimmen nicht die Beziehungen zwischen dem Management und den Arbeitern des kapitalistischen Betriebs“, S. 169.

„Wir lernen, dass das Unternehmen eine doppelte Struktur hat und sozusagen ein doppeltes Leben führt. Auf der einen Seite gibt es die formelle Organisation, die auf den Organisationsdiagrammen dargestellt ist… Dieser formalen Organisation gegenüber besteht in Wirklichkeit eine informelle Organisation“, S. 170. „Die erste schliesst ein, was im Unternehmen geschehen sollte, gemäss den Plänen, Diagrammen, Regeln usw., die vom Management eingerichtet werden; die zweite ist die, die tatsächlich ausgeführt wird. Sie hat oft wenig Beziehung zu der ersten“, S. 170. „Die formale Organisation der Fabrik fällt in der Realität mit dem Organisationssystem des managerialen Apparats zusammen“, ebd.

„Diese beiden Organisationen aber sind beide unvollständig. Die formelle Organisation ist an der Basis durchlöchert, sie umfasst niemand wirklich die ungeheure Masse der Ausführenden. Die informelle Organisation ist durchkreuzt von den oberen Stellen“, S. 171. „Die Absurdität dieses Schemas ist nicht theoretisch, sie ist die Realität des Kapitalismus. Was erstaunlich ist, ist nicht die theoretische Absurdität, sondern die Tatsache, dass der Kapitalismus beinahe Erfolg hat darin, die Menschen zu Punkten eines Organisationsdiagramms zu machen. Er scheitert nur insofern, als sie sich dagegen wehren“, S. 172.

Es ist wieder daselbe Wort „beinahe“, aber es wird jetzt deutlicher: der Betrieb ist durchschossen von zwei Arten der Organisation, die beide unvollständig sind; die eine davon aber verfügt über die Leitung, damit über eine gewisse Kontinuität, die andere ist diskontinuierlich, aber an der Basis dichter. Sie stehen, wenn ich das nebenbei erwähnen darf, in ähnlichem Verhältnis zueinander wie die Ordungen der rationen und der irrationalen Zahlen, die ich in „Staat oder Revolution“ S. 129 ff. einmal zum Vergleich herangezogen hatte. Das verrückte ist aber, dass die formelle Organisation niemals funktionieren würde ohne die informelle; und dass sie gleichwohl versuchen muss, diese zurückzudrängen, nach Möglichkeit vollkommen aufzulösen. Die Tatsache, dass die informelle Organisation besteht und sich immer wieder zwangsweise neu bilden muss, S. 183, ist das Zeichen dafür, dass die formelle Organisation unzureichend, unvollständig ist.

Die informelle Organisation ist nicht auf dieselbe Weise unvollständig; ihr fehlt nur die Möglichkeit, die Leitung selbst auszuüben. Sie ist nicht auf geheimnisvolle Weise daran gehindert, das zu tun. Die informelle Organisation parasitiert nicht in derselben Weise etwa an den Leitungsfunktionen ihrer Gegenspielerin, dass sie ohne diese nicht bestehen könnte. Was ihr an Reife und Solidität etwa abgeht, ist einfach die Folge davon, dass sie künstlich von der Leitung ferngehalten wird.

Diese Asymmetrie hat ihren letzten Grund in der Natur des Guts, das hier verwaltet und gebraucht wird, der Arbeitskraft; „als menschliche Tätigkeit – als Tätigkeit, die nicht auf Maschinen übertragen werden kann – umfasst Ausführung immer das Element der Selbst-Leitung“, S. 173; „diese Kluft kann nicht überbrückt werden. Vollständige, abgetrennte Leitung ist nur vorstellbar als das Organ, das den vollkommenen Plan umsetzt. … Solch ein Plan setzt eine Leitung voraus, die vollständige Voraussicht besitzt“, S. 174, aber die letzte Quelle aller Informationen sind die Ausführenden selbst, S. 176. „Das Management versucht, über die tatsächliche Realität der Produktion nachzudenken. Die Produzenten sind diese tatsächliche Realität selbst“, S. 181.

Diese Analyse war historisch völlig neu, und C. zog unmittelbar zwei hauptsächliche Schlüsse aus ihr. „Das Proletariat ist nicht sozialistisch – es wird erst so, oder genauer, es macht sich selbst sozialistisch“, S. 184; seine Geschichte ist auch nicht diejenige der „historischen Momente“ oder seiner „Organisationen“; denn „diese Aktionen und Organisationen können nur verstanden werden als Momente eines permanenten Prozesses von Aktion und Organisation, der seinen Ursprung hat in den Tiefen des alltäglichen Lebens am Arbeitsplatz“, S. 182, ja noch mehr: „es gibt kein Gedächtnis des Proletariats, weil es kein ‚Bewusstsein des Proletariats‘ gibt, ausser als metaphorischer Ausdruck“, S. 300. (Die Gruppe Theorie Communiste z.B. hat Zeit ihres Bestehens nichts anderes gesagt als: das Proletariat hat kein Gedächtnis, aber aus einem anderen Grund. Sie lassen den zweiten Teil des Satzes fallen, und lassen „das Proletariat“ und „das Kapital“ sich wie zwei Abstraktionen aus dem Schattenreich der „Phänomenologie des Geistes“ immer neu gegenseitig „konstituieren“. Sie geniessen hohes Ansehen dafür.)

Und ein zweiter: weder die, die heute diese Gesellschaft leiten, können einen angemessenen theoretischen Begriff von ihr haben, noch ihre Ideologen, S. 177; „weder die tatsächlich Arbeit, die in einer Stunde Arbeitszeit geleistet wird, noch der Lohn, der für diese Arbeit empfangen wird, können durch irgend eine Art von objektivem Gesetz, Norm oder Berechnung bestimmt werden. Wenn sie könnten, wäre der Kapitalismus ein rationales System oder zumindest rationalisierbar, und alle Erörterungen über den Sozialismus wären vergebens“, S. 248. (Jochen Bruhn fasst den Gedanken so, dass das Kapital nicht theoretisierbar ist, nur ideologisierbar. Von seinen Kritiker, die von der Herkunft dieses Gedankens nichts ahnen, ist ihm dafür „Mystizismus“ vorgeworfen worden.)

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Eigentlich ist seit dieser Analyse in der neueren Ultra-Linken nicht mehr viel geschehen; aus diesen Schlüssen lässt sich schon alles ableiten, was in dieser Tendenz seither geschrieben worden ist. Damit ist nicht gesagt, dass alles gleichermassen zutrifft; auch wenn wir zugeben, dass die Analyse und die unmittelbaren Schlüsse selbst vollkommen zutreffen.

Die zugespitzteren Schlüsse stammen aus der Schrift „Moderner Kapitalismus und Revolution“, Bd. II, S. 226 ff. von 1960, über dem „Socialisme ou Barbarie“ schliesslich auseinanderfiel. Das hat seinen Grund; die Aussagen, die C. in diesem Text wagt, gehen weit über das hinaus, was unter ultra-Linken üblich war. Wenn man Feststellungen wie die folgende ernst nimmt: „In deutlichem Gegensatz zu den weniger entwickelten Ländern scheint die langanhaltende politische Apathie der Arbeiterklasse charakteristisch für die modernen kapitalistischen Länder zu sein“, S. 226, dann ist man für gewöhnlich nicht in einem revolutionären Verein tätig. Umgekehrt sind diejenigen, die in revolutionären Vereinen tätig sind, gewöhnlich so gestrickt, dass sie eine solche Tatsache gar nicht zur Kenntnis nehmen können.

Was soll man denn daraus machen, dass zwar die Auseinandersetzungen innerhalb der Fabrik in den 1950ern militanter werden, aber die Arbeiterklasse sich davon abgesehen, auf gesamtgesellschaftlicher Ebene, gar nicht mehr als eine politische Grösse verhält? Die militanten Auseinandersetzungen haben gar keine Repräsentanz innerhalb der Politik, und das Proletariat versucht auch nicht, ihr eine zu verschaffen. Stattdessen akzeptiert es die Programme der bestehenden Parteien, die auf einen nur noch graduell verschiedenen Reformismus hinauslaufen; es benimmt sich nicht anders als jede andere Interessengruppe auch, S. 293.

„Das Verschwinden der politischen Aktivität unter Arbeitern ist sowohl Ergebnis als auch Voraussetzung für die Entwicklung des Kapitalismus, wie wir ihn hier beschrieben haben. Indem sie den Kapitalismus verändert hat, wurde wiederum die Arbeiterbewegung von ihm verändert. Arbeiterorganisationen sind ins System der bestehenden Einrichtungen integriert worden. Gleichzeitig ist ihre Substanz assimiliert worden. Ihre Ziele, ihre Methoden, ihre Organisationsformen, und ihre Beziehungen zu den Arbeitern sind in steigendem Masse kapitalistischen Vorbildern nachgebildet“, S. 295.

Die ältere Arbeiterbewegung hatte furchtbare Kämpfe zu führen, in Frankreich zuletzt um 1936, um ein gewisses Minimum zu erreichen: Anerkennung ihrer Organisationen, die rechtliche Absicherung ihrer Existenz durch Arbeitsrecht uns Sozialversicherung, nachhaltige Lohnsteigerungen; alles das ging im faschistischen Zeitalter unter. Aber wenige Jahre nach dem Krieg zeigt sich, dass der neu eingerichtete Kapitalismus durchaus in der Lage ist, diese Forderungen zu erfüllen; ja, sie sind sogar die Grundlage seiner neueren Entfaltung. Die Arbeiterbewegung aber, als selbsttätiger politischer Faktor, verschwindet, auch aus denjenigen Parteien, die sie in ihrem Namen tragen; die Arbeiterschaft, selbst wo sie im Arbeitskampf militant auftritt, zieht sich vollständig aus ihnen zurück, S. 292 ff.

Woher hat der Kapitalismus die Mittel, diese Forderungen zu erfüllen? Früher waren sie anscheinend ein Gegenstand des Kampfs zwischen den Klassen auf Leben und Tod, ein menschenwürdiges Leben unvereinbar mit der Fortexistenz dieser Produktionsweise und Gesellschaft. Anscheinend ist es möglich gewesen, die soziale Frage zu einem gewissen Teil innerhalb des Kapitalismus zu lösen. Die Antwort, die C. gibt, ist zwar falsch, aber es wird bis heute fast überall eine ähnliche vertreten.

Er greift S. 251 auf den Band II des Kapital zurück und dort auf die bekannten Schemata vom Schluss des Bands, die angeblich zeigen sollen, wie denn störungsfreie Akkumulation überhaupt von statten geht: nämlich „unter der Voraussetzung, dass bestimmte Proportionen zwischen den ökonomischen Grössen eingehalten werden“, was, wie Luxemburg nachgewiesen hat, nicht geht; „Die kapitalistische Ökonomie hat nun an sich, unter dem freien Spiel der Marktkräfte, keinerlei Mechanismus, um solch proportionales Wachstum zu garantieren…, oder genauer gesagt, dieser ‚Anpassungsmechanismus‘ ist die Krise selbst“, S. 251. „Aber Kapitalkonzentration und steigende Staatsintervention bedeuten genau das, dass die kapitalistische Ökonomie nicht mehr vollständig von den Marktkräften abhängig ist“; durch antizyklische Konjunkturpolitik „wird der Staat zum Regulator der Gesamtnachfrage“; „eine Krise von der Grössenordnung von 1929 ist seitdem undenkbar, ausgenommen etwa durch einem plötzlichen Anfall von Wahnsinn in der kapitalistischen Klasse“, S. 252. Aber der Grund, warum Luxemburg Recht hatte, war, dass niemand die „richtige“ Proportion wissen kann; und C. drückt sich um diese Einsicht genau so, wie die Marxisten es taten.

C. ist tatsächlich der Meinung, dass auf diese Weise ein Kapitalismus ohne Krisen möglich geworden ist. Man war dieser Ansicht um 1960 allgemein. Aber warum eigentlich? Die Rezession von 1960 ist in der Tat so gering ausgefallen, dass sie in manchen Traditionen gar nicht gezählt wird. Die zyklischen Krisen wurden aber natürlich seitdem wieder fühlbarer, ab Mitte der 1970er wieder zu globalen Rezessionen, bis dann 2008 die undenkbare Krise in der Grössenordnung von 1929 eintrat. Es tut sehr wenig, das sozialdemokratische wie leninistische Marxisten C.’s Illusion über krisenfreie Akkumulation, S. 251 ff., geteilt hatten; ja noch mehr, es scheint, als wäre die Politik, die solche Krisen verhindern sollte, gerade in den Zeiten aufgegeben, als eine solche Krise in Sichtweite zu rücken begann.

S. 252 ff. nimmt sich C. einige andere Postulate des Marxismus vor; das Steigen der sogenannten Ausbeutungsrate, das Steigen die organische Zusammensetzung des Kapitals, und das Sinken der Profitrate; und in der Tat hat er, was die Ausbeutungsrate betrifft, vermutlich völlig Recht, 253. Das hindert nicht, das er bei der organischen Zusammensetzung und der Profitrate völlig falsch liegt, ebd. ff. Die Zahlenbeispiele, die er gibt, mögen alle gut und richtig sein, sie gehen völlig am Problem vorbei; Marx hat nie behauptet, dass diese Tendenzen immer und gleichförmig eintreten, und es tut gar nichts zur Sache, ökonomische Daten aus den USA von 1960 mit denen von 1860 zu vergleichen. Sondern die kapitalistische Konjunktur hat langanhaltende Phasen von sinkender Profitrate, die mit Krisen in der Grössenordnung von 1929 zu enden pflegen, neben kurzen und vergleichsweise heftigen Phasen, in denen sie hohe Profitraten, schnell steigende Löhne, nahezu volle Beschäftigung möglich macht, und die Zeit, in der C. schreibt, ist gerade eine von den letzteren.

C. dagegen rechnet uns S. 255 vor, dass die Effekte der Automation in Schach gehalten werden können, wenn gleichzeitig die Gesamtnachfrage durch Lohnerhöhungen steigt: „Es gibt keinen automatischen, ins System eingebauten Mechanismus, der garantiert, dass die Nachfrage in der Tat schneller steigt. Aber es gibt auch keinen Mechanismus, der sie daran hindert“; und das ist gleichzeitig noch einmal das Akkumulationsschema aus Bd. II und das, was der DGB dazu auch immer gesagt hat; aber, wie Andrew Kliman gezeigt hat, ist am Ende die Profitrate damit doch dauerhaft gesunken, und sind die Konjunkturen instabiler geworden, kulminierend 2008.

Die C. folgende Ultra-Linke ist von dem Crash von 2008 so sehr überrascht worden wie die bürgerlichen Ökonomen. Das ist kein gutes Zeichen. Und C. ist daran nicht unschuldig. „Die wirklich wichtigen Tendenzen in der langfristigen Entwicklung des Kapitalismus sollten nicht im Reich der Ökonomie selbst gesucht werden, und zwar aus einem einfachen Grund. Diese Entwicklung bringt eine Modifikation in den ökonomischen Strukturen des Kapitalismus mit sich, und damit eine mehr oder minder tiefgehende Veränderung in seinen ökonomischen Gesetzen“, S. 256.

Die Ultra-Linke hat von ihm viel von ihrer souveränen Verachtung der objektiven ökonomischen Formen gelernt. Nichts daran ist berechtigt. Die von C. vermutete Modifikation gibt es nicht. Noch jedesmal, wenn einmal 10 Jahre keine Krise war, ist irgendein Rindvieh mit so einer Modifikation dahergekommen; oder ein Ökonom der OECD.

Das wird nicht besser von der anspruchsvollen Begründung, die C. gibt: „Marx‘ Lohntheorie und ihr Gegenstück, die Lehre von der steigenden Ausbeutungsrate, beginnen beide mit demselben Postulat: dass der Arbeiter wirklich vom Kapital vollständig auf den Status eines Objekts reduziert ist (zu einer Ware). Die Krisentheorie beginnt ebenfalls mit einem Postulat, das im Grunde diesem analog ist: dass Menschen und Klassen nichts gegen die Funktion der Ökonomie tun können. Diese Postulate sind falsch, aber sie haben auch eine tiefere Bedeutung. Sie sind beide nötig, damit die Ökonomie eine Wissenschaft wie die Naturwissenschaften werden kann“, S. 256.

Was die Wissenschaftlichkeit der Ökonomie betrifft, können wir C. beruhigen; das wird nicht möglich sein, ehe diese Wissenschaft eine klare Idee von ihrer Grundtatsache, dem gesellschaftlichen Reichtum, bekommt. Und wenn sie diese Idee bekommt, dann verliert sie ihre Selbständigkeit gegenüber einer allgemeineren Wissenschaft der Gesellschaft. Der Reichtum dieser Gesellschaften besteht in der Herrschaft über gesellschaftliche Arbeit, er ist selbst keine rein ökonomische Sache. Was aber sein eigenes Argument betrifft, so verstösst es offensichtlich gegen eine Erkenntnis, die er selbst formuliert hat: dass der Kapitalismus nämlich erstaunlicherweise „beinahe“ schafft, den Arbeiter zu einem Objekt zu machen usw. Wo ist jetzt dieses „beinahe“ geblieben? Es hat sich aufgelöst, oder genauer gesagt C. hat es aufgegeben, sonst müsste er sagen: die ökonomischen Gesetze sind beinahe Gesetze usw., wo ihm jedenfalls wir nicht widersprechen wollten; und die Arbeitskraft ist beinahe eine Ware. Und das reicht auch. Es ist übrigens für „Marx‘ Lohntheorie“ nirgendwo erheischt, dass die Höhe des Lohns objektiv bestimmt sei, wie C. aus irgendwelchen Gründen aber annimmt.

Und wohin löst er es auf? In allgemeine Redensarten: dass ökonomische Dinge eben doch nicht unabänderlich seien, dass dies und jenes keine ökonomischen, sondern soziale und politische Dinge seien, S. 256; also ins unbestimmt-allgemeine. Er ist, was das betrifft, sehr weitgehend dem Geist seines Zeitalters erlegen. Nachdem ihm so die Krisentheorie abhanden kommt, entdeckt er S. 257 ff. eine neue: auf ihn geht die Lehre zurück, dass der Klassenkampf die letzte Ursache der Krisen sei. Er kann es aber nirgendwo zeigen, noch versucht er es auch nur ernsthaft. Er redet auch überhaupt von einer völlig anderen Art der Krise als die Ökonomen, nämlich von einer politischen Krise der Gesellschaft, S. 288.

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Ebenso unter der Hand sind ihm die bei den Marxisten so genannten Widersprüche der Ökonomie abhanden gekommen; darunter auch der sogenannte Grundwiderspruch. Das letztere ist nicht unbedingt ein Schaden, weil niemand klar zu sagen wusste, was dieser sein soll. Er ersetzt auch diesen durch einen nichtökonomischen Grundwiderspruch, S. 259, nämlich dem zwischen Leitungs- und Ausführungsfunktion. Auf der einen Seite ist das offenbar ein Versuch, ein Merkmal zu beschreiben, das auf den westlichen Kapitalismus und den sowjetischen Sozialismus gleich zutrifft; er hat diesen Widerspruch auch das erste Mal Auf der anderen Seite hatte er aber doch inzwischen die Skrupel abgelegt, die sowjetrussische Ökonomie als kapitalistisch zu beschreiben.

Im Grunde zieht er sich von der konkreten Bestimmung des Gegenstands zurück. Dass Leitung und Ausführung getrennt sind, ist für den Kapitalismus an sich nicht spezifisch. Was C. S. 259 ff. als spezifisch nachweist, ist in der Tat nur die für den Kapitalismus spezifische Weise dieser Trennung: diejenige nämlich, die eintritt, wenn die Arbeitenden den Anweisenden staatsrechtlich gleichstehen. Im Grunde bewegt sich C. in einer Tautologie.

Am Ursprung dieses Gedankens steht bei C. ein anderer, der in meinen Augen aber in unaufhebbaren Gegensatz zu ihm steht. „Apologeten des Systems und ein paar traditionelle Marxisten halten diese Erscheinungen, die Bürokratisierung der Gesellschaft, und besonders die Errichtung der Kontrolle über die Ökonomie, für einen Beweis, dass der Kapitalismus ’seine Gegensätze überwunden hat‘. Traditionelle Marxisten sehen nicht, dass der Kapitalismus nur das aus seiner sozialen Umgebung entfernt hat, was an ihr nicht kapitalistisch war. Was wir gewöhnlich als ‚Widersprüche‘ ansehen, sind nicht die Widersprüche des Kapitalismus, sondern die Inkohärenz einer Gesellschaft, die noch nicht vollständig von Kapitalismus umgebildet und assimiliert worden ist“, S. 282

Der Kapitalismus in seiner vollendeten Durchsetzung emanzipiert sich, so muss man C. verstehen, von den Formgesetzen, die ihn in seiner früheren Durchsetzungsgeschichte bestimmt hatten. Auf das so entstehende Gebilde trifft nichts mehr zu, ihm ist durch nichts mehr beizukommen, und er kennt auch keine Krise mehr als durch den Konflikt, den er in seinem Innern immer neu erzeugt bei dem „beinahe“ gelingenden Versuch, aus Menschen Maschinen zu machen.

Dieser Versuch gelingt „beinahe“, was nicht genug ist, die Formgesetze in Kraft zu halten, aber ausreichend, um sie ausser Kraft zu setzen. Es ist ein merkwürdiges Gebilde am Rande der Beschreibbarkeit. Es ist gleichzeitig die vollendete Durchsetzung des Kapitalismus, und seine Aufhebung auf seiner eigenen Grundlage. Diese Idee ist seither hierzulande unter dem Begriff der post-faschistischen Gesellschaft verhandelt worden; für denjenigen Gesellschaften, in denen ein Faschismus sich nicht oder nicht restlos durchgesetzt hatte, ist ein solcher Zusammenhang schwerer herzustellen. C. hat ihn zweifellos nicht versucht, auch nicht seine ersten Nachfolger. Und die es versucht haben, habens nicht fertig gebracht. Bis heute ist es nicht klar.

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Aber es gibt über seine Bedingungen noch ein bisschen zu erfahren. Gehen wir noch einmal zur Passivität der Arbeiterklasse zurück. Sie geht offensichtlich einher mit ihrer vollen Hereinnahme in die Gesellschaft, jedenfalls in ihrer Freizeit. Eigentlich stellt sich damit die bürgerliche Gesellschaft erst nach ihrem vollen Begriff her. Es ist also, oberflächlich betrachtet, gar nicht verwunderlich, dass die Arbeiterklasse als politische Grösse verschwindet. Ausser, dass das natürlich nicht stimmt. Ausserhalb ihrer Freizeit ist es mit der bürgerlichen Freiheit vorbei. Man ist einen Teil des Tags Mitglied des höchsten Gremiums, des Staatsvolks; den andern Teil ist man so etwas wie eine Maschine. Der alte Abbe Sieyes hätte es sich nicht schöner denken können.

Es dringt gewissermassen nicht zu Bewusstsein. Die Trennung dieser beiden Sphären wird aufrechterhalten durch „die Überzeugung, dass die ‚grossen‘ Probleme der Gesellschaft keinen Bezug auf die Erfahrung der Arbeiterklasse haben, dass sie ins Gebiet der Spezialisten und Leiter gehören“; Proletariat und Organisation I, Bd. II, 216. Diese erst noch sehr immaterielle Überzeugung, „erzeugt durch die bürgerliche Gesellschaft und unterstützt durch die ‚Arbeiter‘-Organisationen“, ebd., ist nun aber anscheinend nichts, was der Arbeiterklasse von aussen aufgezwungen wird.

Einer der Arbeiten C.’s, die ihresgleichen nicht haben, ist „What really matters“, Bd. II, S. 223 ff., ein ganz kurzer Artikel, der jedem unsrer Agitatoren gut täte zu lesen. Es passiert fast nie, dass jemand einmal Schlüsse, und dann auch noch sinnvolle, aus der Erfahrungen der sozialistischen Agitation unter Arbeitern zieht. Erstens kommt niemand zu den Vorträgen, und die, die kommen, erwarten eine Art sozialistische VHS, wo ihnen jemand erzählt, wie es wirklich läuft. Ob man ihm glaubt, ist wieder eine andere Sache. Wenn man auf die Idee verfällt, die Leute zum Diskutieren bringen zu wollen, damit sie von ihren Erfahrungen anfangen zu erzählen, tritt dann völliger Stillstand ein.

Die eignen Erfahrungen in der „Arbeitswelt“ werden nicht für wichtig gehalten. Sogar die Theorien, die einem irgendein Gescheiter erzählt, hält man noch für etwas wichtiger. Vor allen Dingen besteht keinerlei Zusammenhang zwischen den beiden Dingen, denn auch wenn die Gesellschaft so geändert würde, wie der Sektierer da vorne es vorschlägt, „hat das überhaupt keine Auswirkungen darauf, was in den Fabriken stattfindet, weil das ’nicht wichtig ist'“, S. 225

Diese Art zu denken hat die Festigkeit eines konditionierten Reflexes, und es ist unmöglich, zu tun, als ob das einfach der Klassenfeind den Leuten einredet. Umgekehrt würde diese Art der Gesellschaft aber keinen Tag bestehen können, wenn die Leute nicht so dächten. C. hat nun keine fertige Lösung darauf. Das macht übrigens den Grund aus, warum wir heute über ihn noch reden. Sondern C. nimmt diese Tatsache ernst, und zieht eine ganze Reihe Parallelen und Folgerungen.

Eine Verbindung zwischen unmittelbar eignen Erfahrungen in dieser Gesellschaft, und irgendeiner Art politischer Repräsentanz dieser Erfahrungen, besteht nicht. Die Gesellschaft dieses modernen Kapitalismus, C. setzt ihn in Frankreich etwa auf 1958, B. III, S. 273, hat überall diesen ausgesprochenen Simulationscharakter, den wir alle sehr gut kennen, und den C. anscheinend als erster beschrieben hat, in „Modern Capitalism and Revolution“, S. 278 ff.

„Die überlieferten Bedürfnisse, oder die traditionellen Methoden, diese Bedürfnisse zu befriedigen, sind wegen der konstant steigenden Einkommen am Sättigungspunkt. Konsum kann deshalb einen Anschein von Bedeutung nur noch haben, wenn neue Bedürfnisse oder neue Methoden ihrer Befriedigung immerfort neu erschaffen werden – was auf der anderen Seite unerlässlich ist, um die Wirtschaft in einem ständigen expansiven Zustand zu halten“, S. 277. Die Ökonomen nennen seine Zeit gewöhnlich die der Automobil-, Petro- und Plastikkonjunktur, und sie war tatsächlich in weit grösserem Ausmass als früher davon abhängig, dass ihre Produkte Bedürfnisse befriedigte, die früher noch gar nicht bestanden. Der Verkauf von Waschmaschinen oder Kraftfahrzeugen geht einher mit Veränderungen des Städtebaus und des Geschlechterverhältnisses. Der Prozess hat seither nicht aufgehört.

„Bedürfnisse sind nicht – oder zumindest in einem immer geringeren Grad – Ausdruck einer organischen Verhältnisses eines Einzelnen mit seiner natürlichen und gesellschaftlichen Umgebung. Sie sind Objekt der verdeckten oder offnen Manipulation… Wir können denselben Prozess in der Politik sehen. Die gegenwärtigen politischen Organisationen gleich welcher Richtung … vertreten nicht mehr die politische Einstellung oder den Willen einer grössen Schicht der Gesellschaft. Keine Bevölkerungsgruppe verleiht ihnen irgendeine Substanz. Niemand nimmt an ihnen wirklich teil, denn keine dieser Organisationen ist fähig, als Instrument einer gemeinsamen politischen Schöpfung zu dienen“, S. 277 f. “

Er sagt wirklich „derselbe Prozess“. Aber wie sollen diese Dinge „dasselbe“ sein? Die Scheinaktivtät der seitherigen Politik auf der einen Seite, und das Entstehen neuer Bedürfnisse? Aber, beteuert er, „der Prozess ist derselbe: der Inhalt der Politik ist tot. Aber weil die Gesellschaft ein Minimum an politischem Verhalten benötigt, entsteht eine politische Bürokratie, die die Staatsbürger manipuliert, um das sicherzustellen“, S. 278. Es tut fast weh, wie dünn diese Erklärung ist. Welche Bürokratie ist es, deren Aufgabe das ist? Wer setzt sie ein, woher hat sie die Fähigkeit zu solcher Manipulation? Es kann offenbar nicht so sein.

Diese Bürokratie ist, sagt C. jetzt, jede einzelne bisherige Organisation; es besteht keine Organisation mehr, die „irgendeinen Gedanken, irgendeine Perspektiv jenseits der Infamie des Kapitalismus“ hat, S. 296. Diese „finden sich bald dem Dilemma gegenüber: wie man Teilnahme der Leute erreicht, während man sie gleichzeitig ausschliesst.“ Der Gedanke hat immer noch ein Loch. Die Situationisten haben kurz darauf begonnen, diesen Vorgang und sein metaphysisches Subjekt „das Spektakel“ zu nennen, und Debord hat es, Ges.d.Spekt. These 34 f., in einem kühnen Zug aus dem Begriff der Ware ableiten wollen. Aber auch dieser Move ist nie überzeugend gewesen.

Alle bisherigen Organisationen, damit meint man im engeren Sinn die klassischen Arbeiterorganisationen, sind in der Tat auf die bürgerliche Emanzipation der Arbeiter beschränkt. Wenn die anscheinend erreicht ist, hört in der Tat das Interesse an ihnen auf, und sie wachsen in die neue Gesellschaft hinein. Vom revolutionären Standpunkt aus führen sie in der Tat dann nur noch ein Scheinleben. Aber was für ein wirkliches Bedürfnis verraten sie denn? Und warum, wenn es ein solches gibt, verraten sie es alle? Man sollte fast glauben, dass eine Organisation, die dieses wirkliche Bedrüfnis verträte, ungeheure Erfolge haben müsste.

Es kann nicht die Schuld C.’s sein, dass wir 60 Jahre später auf eine solche Organisation noch vergeblich warten. Er schreibt S. 304 ff. ausführlich und auch sehr richtige Dinge über eine solche. „Die revolutionäre Bewegung sollte als das erscheinen, was sie wirklich ist: eine umfassende Bewegung, die sich mit allem befasst, was Menschen in der Gesellschaft tun und erleiden, und vor allem mit ihrem täglichen Leben“, S. 306.

Einige Folgerungen und Parallelen, die C. nicht zieht, jedenfalls nicht ausdrücklich oder in Texten, die ich kenne, könnten einem noch einfallen. Erstens, ganz offenbar sind es die Arbeiter selbst, die die Verdrängung der Arbeitswelt aus dem öffentlichen Bewusstsein leisten. Und sie tun das offenbar gerade darum, weil das der Preis für die bürgerlichen Freiheiten ist. Folgt daraus etwas? Es könnte z.B. Umstände geben, unter denen diese Verdrängung zusammenbricht.

Warum eine solche Organisation, die vor allem auch „eine neue und echte Sprache“ für die verratnen Bedürfnisse finden soll, S. 307, nicht entstanden ist, sieht man vielleicht an C.’s Schülern, den Situationisten. Es ist natürlich vollkommen richtig, das anzugreifen, was sie das „Regime der Trennungen“ nennen. Der Instinkt, dass diese Trennungen sich gegenseitig stützen, ist vermutlich richtig. Aber selbst wenn eine solche Trennung zeitweise zusammenbricht, wie soll diese Bresche aufrechterhalten werden, wenn niemand da ist, über die Dinge zu reden, über die stattdessen geschwiegen wird? Die Situationisten zeigen, dass jede aufs blosse Einreissen der Trennungen, auf den Aufstand spezialisierte Organisation schon am Tag nach dem ersten Beben handlungsunfähig wird, weil sie nicht mehr weiss, wo vorne und hinten ist.

Eine andre Parallele, die ich fast noch erstaunlicher finde, ist die Lage der Frauen. Ich wüsste nicht, trotzdem es sein Übersetzer bei jeder Gelegenheit behauptet, z.B. Bd. I, S. xxi oder anderswo, dass C. das jemals wirklich behandelt hätte. Dass die Lage der Frauen das öffentliche Bewusstsein nichts angeht, dass sie nicht „wirklich wichtig ist“, das ist nicht etwas, das der moderne Kapitalismus erzeugt hat oder die bürgerliche Gesellschaft, sondern ist deren Voraussetzung. Katie Sarachild und Shulamith Firestone haben das sehr gut zeigen können. In der Gesellschaft der Männer ist immer so getan worden, als ob die Grundtatsachen dieser Gesellschaft nicht „wirklich wichtig sind“. Nur in einer solchen Gesellschaft ist, was C. beschreibt, möglich. Das gesellschaftliche Bewusstsein hat Simulationscharakter, seit es die Herrschaft der Männer gibt.

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Viel weiter ist C. in der unmittelbaren Arbeit nicht gekommen, und viel weiter konnte man wohl auch nicht kommen. Die Ereignisse von 1968 haben dabei nichts neues gebracht; für C. waren sie garnicht die Enthüllung, die sie für die konservativeren Denker wie Foucault waren, Bd. III S. 140. Es ist genau an diesem Punkt, an dem eine Reihe neue Fragen aufgeworfen sind, wo die Reihe der Antworten beginnen, mehr oder weniger revolutionäre. Aber selbst die weniger revolutionären haben immer noch den Vorteil gegenüber aller älteren Theorie, dass sie immerhin sich mit diesen Fragen befasst. Sie legitimieren, in den Augen des Publikums, selbst die trügerischen Antworten.

C. selber beginnt um diese Zeit die Arbeit an seinem philosophischen Hauptarbeit, „The Imaginary Institution of Society“. Der Titel ist schon ein Beispiel für den undurchdringlichen Stil, in dem es gehalten ist, nämlich dem der Lacan-Schule der Psychoanalyse. Über Lacan habe ich viel schlechtes gehört und habe das meiste bestätigt gefunden. Ich habe aber mittlerweile auch lang genug über Freud gearbeitet, um selbst zwei oder drei Dinge über so etwas zu wissen. Ohne Zweifel würden einige unter den ersten Lesern dieser Worte meinen wollen, dass die Herkunft aus der Lacan-Schule C.’s Arbeit unbrauchbar macht. Ich dagegen würde bezweifeln, dass selbst Lacan im Stande war, an der Lehre, die der Urheber der Todestrieblehre hinterlassen hat, viel zu verderben. Ich halte persönlich Lacan für einen Scharlatan, der ausser mit seinen eignen auch noch mit den unbekannteren Absurditäten von Freuds Lehre so zu glänzen wusste, dass sie am Ende als seine eignen gelten. Es ist mir aber im Grunde egal.

C. gebraucht Lacans Lehre überall auf dieselbe Weise, wie ein vernünftiger Mensch die Lehre Freud gebrauchen würde: nämlich mit grosser Vorsicht. Er entleiht ihr die Worte für seine Gedanken. Ich halte das für eine sehr dumme Idee, aber sehe seine Gedanken, wenn ich sie mühsam aus der dichten Hülle dieser Worte herausschäle, nachvollziehbar aus einander hervorgehen. Ob sie wahr sind, entscheidet sich auf andre Weise als dadurch, welche Autoritäten er zitiert.

Beim Jargon der Lacan-Schule stellt sich natürlich so gut wie bei jedem Jargon das Problem, sich bei den Worten auch etwas zu denken. Und da Lacan es für gut hielt, die Begriffe Freuds in die Begriffe Hegels zu übersetzen, und zwar eines französisch übersetzen Hegels, ist das nicht immer einfach. Entweder man nimmt ohne weitres an, dass sich dabei das denken lässt, was der Autor sagt, dass sich denken lässt, das heisst man gibt das Spiel gleich zu Anfang verloren. Das ist die einfache Lösung. Oder man versucht mit dem, was man für gesichert halten kann, analoge Begriffe zu bilden und bei jedem Schritt zu prüfen, ob die sich besser schlagen als die des Textes, den man liest, oder schlechter. Das lässt sich aber nur dann machen, wenn man auf die Fragen, die der Autor verhandelt, Antworten schon weiss.

Ohne weiteres folgt daraus, dass man Arbeiten wie diese erst verstehen kann, wenn sie überholt sind; und dass deshalb, solange das nicht so ist, unter mehreren Arbeiten im gleichen Jargon die anspruchslosere überall beliebter sein wird.

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Wäre der Titel des Buchs auch so geheimnisvoll, wenn es „Das Über-Ich der Gesellschaft“ heissen würde? Die Gesellschaft ist natürlich kein Einzelmensch, dass sie ein Über-Ich hätte. Und Lacan meint mit dem „Imaginären“ auch etwas anderes als das Über-Ich. Und das Über-Ich, von dem dann hier die Rede wäre, wäre auch nicht ganz präzise das, was die Freudianer meistens verstehen.

Vorhin, bei den Bedürfnissen, hätte man auch die Frage stellen können: woher genau kommen die und wer macht die? Denn es war kaum zu akzeptieren, dass die im modernen Kapitalismus entstandenen Bedürfnisse bloss gemachte Bedürfnisse sind, während die schon vorher bestehenden echt sein sollen und von niemandem gemacht. C. akzeptiert diesen Gedanken auch nicht. Die Bedürfnisse sind nicht objektiv, sondern gesellschaftlich bedingt; „diese Tatsache, die, wie wir schon festgestellt hatten, jede funktionalistische Interpretation der Geschichte widerlegt“; „wir kennen keine Gesellschaft, in dem Nahrung, Kleidung und Wohnung ausschliesslich Überlegungen der ‚Nützlichkeit‘ oder ‚Rationalität‘ folgt“, S. 149 f.

Warum isst man Weizen, aber nicht die Knolle der Grossen Klette? Diese Festlegung folgt nicht aus der Tatsache, dass man Kohlenhydrate braucht, hervor. Sondern umgekehrt, erst nach dieser Festlegung bedeutet der Bedarf an Kohlenhydraten Bedarf an x Tonnen Weizen. Die Festlegung scheint aus gar nichts zu folgen, aber sie hat gesellschaftliche Festigkeit; und die vielen untereinander scheinbar unverbundenen Dinge, die man gewöhnlich die Kultur nennt, bestehen aus lauter solchen Dingen. Die Marxisten waren gewöhnt, sie als ökonomisch abgeleitet zu betrachten; aber offenbar sind sie das nicht.

Das gleiche gilt für alle Einrichtungen der Gesellschaft. Worauf beruht ihre Akzeptanz? „Kein materieller Zwang war jemals andauernd, das heisst gesellschaftlich, wirkungsvoll ohne dieses rechtfertigende Gegenstück; keine psychische Verdrängung hat jemals eine gesellschaftliche Rolle gespielt ohne diese Fortsetzung im hellen Tageslicht. Ein ausschliesslich unbewusstes Über-Ich ist undenkbar“, S. 97.

C. beginnt jetzt, dafür Begriffe Lacans zu gebrauchen, und wir wollen einmal zusehen, wie es ihm damit ergeht. „Es ist unmöglich, zu verstehen, was die menschliche Geschichte war oder was sie jetzt ist, ohne die Kategorie des Imaginären. Keine andere Kategorie erlaubt uns, über diese Fragen nachzudenken: was setzt die Zwecke, ohne die die Funktionalität der gesellschaftlichen Einrichtungen und Prozesse unbestimmt bliebe?… Wir können eine Gesellschaft nicht verstehen ohne einen vereinigenden Faktor, der einen bedeuteten Inhalt bezeichnet und ihn in die symbolischen Strukturen einwebt“, S. 160. „Wenn das rational-symbolische die Realität abbildet, oder das, ohne das sie nicht gedacht werden kann, ist es dann nicht offensichtlich, dass in allen Gesellschaften auch imaginären Bedeutungsträger diese Rolle spielen? Enthält nicht das ‚reale‘ in jeder Gesellschaft auch eine imaginäre Komponente?“, S. 161.

Denken wir uns ruhig einmal die Gesellschaft als ein System von Dingen, die andere Dinge bedeuten, wie es die Strukturalisten tun. Dann hat C. die Frage gestellt: was bedeuten sie zuletzt? Das heisst, was hält dieses System zusammen? Und das heisst, was verleiht jedem Ding seine Bedeutung? Das, sagt er vorderhand, will er „das Imaginäre“ nennen, und das Worthätte er von Lacan. Und eh man sich aufregt, dass er hier einen völlig unbestimmten Begriff einführt, wollen wir doch erst hinsehen, ob der nicht doch Bestimmung annimmt, und wie er dann aussieht. Wir können nebenbei feststellen, dass er auch die Frage gestellt hat: worin hat die Gesellschaft, und worin hat das Denken seine Einheit, und zwar in ein und derselben Frage. Wird das gutgehen?

„Was ist am Ende davon? Etwas, das nicht dazu da ist, um etwas anderes zu bedeuten; etwas, das stattdessen die Bedingung ist für jede spätere Bedeutung;… das organisierend-organisierte Schema, das sein eigenes Bild gibt, und das nicht als Symbol existiert, sondern in imaginärer Vergegenwärtigung…“, S. 142. In Lacans System ist das letzten Endes die Mutterbrust, S. 294 ff. Aber so etwas kann man über Individuen sagen, nicht über Gesellschaften, S. 143; „Gesellschaft und Psyche sind untrennbar und irreduzibel aufeinander“, S. 320, 315. Der „unsichtbare Zement“, der die Bedeutungen der Gesellschaft zusammenhält, S. 143, lässt sich daraus nicht gewinnen.

Nehmen wir die Religion. „Damit diese Überschneidung zwischen den Tendenzen des Unbewussten bei vielen Einzelnen eintreten kann, damit die Lehren eines Propheten nicht persönliche Halluzinationen bleiben oder eine vorübergehende Sekte, müssen erst geeignete gesellschaftliche Bedingungen gebildet sein… Alle Religionen, deren Ursprung wir kennen, sind Veränderungen früherer Religionen“, S. 144; Religion entsteht nicht aus irgendwelchen Faktoren, die ihre Ursache sein sollen, sondern aus anderer Religion. Die Geschichte dieser Veränderungen ist „unmöglich und unvorstellbar ohne die produktive oder kreative Imagination, ohne das, was wir das radikal Imaginäre“ nennen, S. 146.

Das ist natürlich keine Antwort, sondern nur ein Wort. „Warum muss eine Gesellschaft versuchen, das für ihre Ordnung notwendige mit dem Imaginären zu ergänzen?“, S. 129. Ihre eigenen unverzichtbaren Einrichtungen ergeben sich ebensowenig wie die Religion direkt aus der Funktion, aus der man sie erklären will. „Die alte Ansicht von dem ‚göttlichen Ursprung‘ der Institutionen war, unter der mythischen Hülle, viel wahrer“, S. 131.

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„Auch im Fall der Gesellschaft ist der Gedanke, dass ihre imaginären Formen sich ‚ein unabhängiges Reich in den Wolken‘ deswegen errichten, weil die fragliche Gesellschaft nicht in der Lage ist, ‚in der Realität‘ ihre Probleme zu lösen, … nicht wahr. Denn er hat eine Bedeutung nur, wenn man sagen kann, was genau das Problem der Gesellschaft ist, das sie vorübergehend nicht zu lösen im Stande ist. Dieses Problem ist unmöglich zu lösen, nicht weil unsere Untersuchungen nicht weit genug vorgeschritten sind, oder weil unser Wissen nur relativ ist; es ist unmöglich, weil die Frage sinnlos ist. Es gibt nichts, was das Problem der Gesellschaft ist. Es gibt kein ‚Ding‘, das die Menschen tief wollen und das sie bis jetzt nicht bekommen haben“, S. 134. „Was ist das Bedürfnis, dass diese Bevölkerungen nicht erfüllen können?… Dieses Bedürfnis enthält nicht in sich eine Definition eines Gegenstandes, der es erfüllen würde“, S. 135.

Es gibt in der Tat kein eines „Ding“, das das Problem der Gesellschaft lösen würde. Was entspricht dem beim einzelnen Menschen? „Die Psyche ist ihr eigenes verlorenes Objekt“, S. 296f; nämlich die verlorene Einheit mit der Mutterbrust, als das Einheit aller Bedürfnisse und aller Erfüllung. So etwas kann eine Gesellschaft natürlich nicht haben.

Aber müsste man nicht sagen, dass analog die Gesellschaft ihr eigener verlorener Gegenstand ist, und damit ihr eigenes Problem? S. 176 ff. schreibt C. erstaunliches über die logische Schwierigkeit, die die Gesellschaft bietet; „was das gesellschaftliche ist, und die Weise, wie es ist, hat keine Analogie irgendwo anders“, S. 182; sie ist mit der überlieferten Logik gar nicht zu fassen, S. 181; dennoch kann sie, und er zeigt es u.a. durch eine ausführliche Spekulation über das Wesen von Raum und Zeit, eigentlich nur als historisches, das heisst als sich selbst veränderndes Ding begriffen werden, S. 215 ff; „Gesellschaft besteht nur, insofern sie sich selbst errichtet und so wie sie sich selbst errichtet“, S. 360; „Als sich errichtend ebenso wie als errichtet, ist die Gesellschaft wesentlich Geschichte, nämlich Selbstveränderung… Aber diese Selbst-Errichtung wird nicht als solche gewusst“, S. 371, sondern ist der Gesellschaft selbst verhüllt; das erzeugt die „Vorstellung eines ausser-gesellschaftlichen Ursprungs der Gesellschaft“, von z.B. der Gottheit, S. 372.

Das ist nicht nur eine Vorstellung, die getrennt ist von der wirklichen Einrichtung der Gesellschaft und zu dieser aussen dazutritt; sondern ist „verkörpert, stark und schwerwiegend materialisiert in den konkreten Einrichtungen der Gesellschaft“, S. 372. „Eine Geschichte herbeizuführen, in der die Gesellschaft sich nicht nur selbst weiss, sondern selbst macht als ausdrückliuch selbst-errichtend, das beinhaltet eine radikale Zerstörung der bekannten Einrichtung der Gesellschaft, bis in ihre unscheinbarsten Winkel“, S. 373.

„Das Subjekt wird von einem Imaginären regiert, ja gelebt, als von einem, das realer als das Reale ist, das aber dennoch als das nicht gewusst wird; und zwar genau aus dem Grund, dass es nicht gewusst wird. Was das wesentliche an der Heteronomie … auf der Ebene des Einzelnen ist, ist die Herrschaft eines verselbständigten Imaginären, das für das Subjekt sowohl das Reale als auch sein Bedürfnis definiert. Nicht die ‚Triebunterdrückung‘ als solche, der Konflikt zwischen ‚Realitätsprinzip‘ und ‚Lustprinzip‘ begründen individuelle Entfremdung… Der wichtige Konflikt in dieser Hinsicht ist nicht der zwischen Trieben und Realität… Der wichtige Konflikt ist zwischen Trieben und Realität auf der einen Seite, und der imaginären Entwicklung innerhalb des Subjekts auf der anderen“, S. 103.

Das alles liess sich gut zusammenfassen, ohne dass man allzuviel von dem Jargon, in dem er schreibt, verwenden musste. Ganz offensichtlich braucht man ihn nicht. Ich habe z.B. nicht ein Mal „Magma“ gesagt, und ich werde auch nicht erklären, was das ist, weil ich es a) nicht weiss und b) für überflüssig halte. Es gibt ganze Passagen, die einfach ärgerlich und unverständlich sind. Aber was bleibt von dem ganzen aufgedunsnen Begriffsapparat übrig? Immerhin, um die Signifikate und Signifikanten z.B. ist man nicht ganz herumgekommen, auch nicht um die „Entfremdung“, oder „das Sozial-Historische“, aber irgendwie ist ja auch „das Imaginäre“ ein Opfer der Philosophensucht, aus Merkmalen einen Begriff machen zu wollen.

Aber was bleibt denn davon übrig? Ausser der wenig aufregenden Einsicht, dass das menschliche Denken auf so etwas wie Bildern beruht und nicht auf reiner Logik? Das Wort „das Imaginäre“ ist selbst eher ein Bild, und kein der Begriff für das Moment, woran das Denken und woran die Gesellschaft ihre Einheit haben; und das Voraussetzung jeder Realerkenntnis ist. „Das Transzentalsubjekt“ wäre ein solcher Begriff. „Das Imaginäre“ meint so etwas, aber sagt es nicht. (Immerhin ist C. S. 202 ff. kurz davor, auszusprechen: die apriorische Auffassung der Zeit ist das Ergebnis, wenn der Raum als abstrakt und identisch, als von den Dingen darin getrennt aufgefasst werden muss; eine gesellschaftliche Tatsache.) Was „das Imaginäre“ bei Lacan noch alles war, hat am End damit gar nichts zu tun. Es kürzt sich heraus, und zwar in genau dem Moment, wo der ganze Zustand als heteronom bestimmt wird und C. einen Begriff von gesellschaftlicher Autonomie einführt, S. 101 ff., nämlich in dem Moment, wo die Gesellschaft als Selbstveränderung dasteht. Lacan, und übrigens auch der Strukturalismus, sind in diesem Moment „umgangen“, wie Debord es nennen würde.

Ab dem Moment lässt sich das ganze nämlich wieder formulieren auch ohne die Spezialideen, die Lacan in die französische Psychoanalyse gebracht hat; nicht dass die original-freudischen alle besser wären. Man hat dann in der Tat den Versuch in der Hand, zu bestimmen, was dem Über-Ich in der Gesellschaft entspricht; und zwar nicht dem Über-Ich, das die Philosophen für den Sitz der Vernunft halten, sondern in einem präziseren Sinne dem Über-Ich als repressive, heteronome Instanz, als die Quelle der Neurosen, des irrationalen Hasses, der unkontrollierbaren Zwänge und Ängste; in der Tat alles dessen, was die bestehende Zivilisation ausmacht, aber was für eine Zivilisation ist das halt.

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Es reicht hierfür nicht aus, wie C. gezeigt hat, so zu tun, als ob entweder die einzelnen Über-Iche auf geheimnisvolle Weise untereinander die Einheit der Gesellschaft zustandebrächten; sie können es nicht, und sie tun es nicht. Auf sich gestellt, brächten sie höchstens den Krieg aller gegen alle zusammen. Es reicht aber auch nicht aus, das, was die Theorie fordert, einfach mit einem Namen zu bezeichnen und dann so zu tun, als hätte man die Sache schon. „Das Imaginäre“ wäre erst einmal ein Name. Sondern es muss natürlich gezeigt werden, und C. tut das nur in Ansätzen, dass dieses gesellschaftlich gemeinsame Denken eigene Substanz hat, sich über den Generationenzusammenhang hin mitteilt, auf die Bildung der einzelnen Charaktere einwirkt und von diesen wieder ausgeht. Und es muss gezeigt werden, worin diese Substanz besteht.

„Auf welche Weise und warum gibt es mehrere Gesellschaften und nicht nur eine? Und auf welche Weise und warum gibt es Unterscheidungen zwischen den Gesellschaften?“, S. 170. Diese Unterschiede sind nun natürlich „imaginär“, indem sie aus der Imagination herkommen. Aber worin bestehen sie? Man liest öfter, C. hätte sich sehr dafür interessiert, was für Urideen, sozusagen, die einzelnen Gesellschaften beherrschten, als wäre er sowas wie ein neuer Oswald Spengler. Vielleicht sind die Hand voll Zeilen, die er auf so etwas verschwendet, in der Tat schon zu viel. Aber in der Tat müsste er, um seiner eignen Kritik am Strukuralismus gerecht zu werden, zeigen, wie die einzelnen Gesellschaften untereinander wieder auf ein gemeinsames bezogen sind; er müsste nicht nur ihre Verschiedenheit, sondern die Verändernung zeigen, und wie sie zugeht.

An den Stellen, wo es darauf ankommt, sagt er stattdessen Dinge wie: man könne nicht sagen, was „das Problem“ dieser oder jener Gesellschaft sei, was ja stimmt; aber er vermischt es mit der Frage, ob man vielleicht sagen kann, was das Problem der Gesellschaft überhaupt ist. Und das kann man sehr gut tun; er selbst tut es, an einer anderen Stelle, ausführlich. Die Gesellschaft ist sich selbst intransparent, ihre Institutionen gehen nicht, wie man gemeinhin denkt, mehr oder weniger glatt aus ihrer wirklichen Bewegung hervor; sie gehen stattdessen aus den Institutionen ihrer Vorgängergesellschaften hervor. Es findet hier aber kein unendlicher Regress statt. Sondern die Gesellschaften haben einen historischen Anfang, und auch die staatliche Organisation der Gesellschaft hat einen historischen Anfang. In den „den ersten sumerischen Städten… bestanden die grundlegenden Elemente jeder wohlorganisierten Gesellschaft bestanden alle zusammen und in praktisch vollständiger Weise“, S. 154, aber, sagt er, „wir wissen nicht wie oder warum das geschah“, und er glaubt auch nicht, dass die Archäologie das ändern wird.

Ich persönlich meine, man weiss das gut genug, sobald man die richtigen Teile dessen, was man weiss, zusammenrechnet. Es lässt sich viel mehr aussagen, als C. es für möglich hält. Dasjenige, was er „das Imaginäre der Gesellschaft“ nennt, lässt sich auf eine viel weniger nebelhafte Weise beschreiben. Es ist ein irreführender Name für die wesentlicheren Aspekte der Gesellschaftlichkeit; er bezeichnet keinen gut von ihr abtrennbaren Gegenstand; wenn mans genauer fasst, wird er überflüssig und unhaltbar. C. lag bei nichts wirklich daneben; aber er bleibt in einer unbequemen Lage hängen, für die kritische Theorie sind seine Sachen anstrengend ungenau, und für die Postmoderne doch wieder zu präzise. Man wird ihm nachsagen müssen, dass er mit der Postmoderne in der Tat schon 1973 fertig geworden ist; dass es aber niemand erfahren hat als die Postmodernen selbst, weil niemand anderes als diese den barbarischen Dialekt spricht, in dem sein Buch verfasst ist.

Der Drehpunkt seiner Argumentation ist die gesellschaftliche Autonomie geblieben, und die ganzen ersten Abschnitte seines Buchs lesen sich wie eine Fortsetzung und Zusammenfassung seiner älteren Arbeiten. Er zeigt damit etwas sehr bedeutsames. Die Idee der gesellschaftlichen Selbstorganisation ist nicht einfach nur eine denkbare Lösung der Arbeitskonflikte seiner Zeit. Sie ist auch der Schlüssel zu den Problemen der Wissenschaften von der Gesellschaft. In diesen Problemen hatten sich allerhand Theoriesekten schön eingerichtet, wie Nachteulen in einer Ruine; sie sind stolz darauf, dass ihre Theorien so undurchdringlich sind, wie die Bestimmungen der Gesellschaft selbst. Aber diese Bestimmungen sind nur solange undurchdringlich, als die Heteronomie, die gesellschaftliche Herrschaft besteht, aber nicht benannt wird. Und benannt wird sie dadurch, dass man einen entwickelten Begriff der gesellschaftlichen Autonomie aufrichtet

C.’s Arbeit hat im Guten wie im Bösen den Boden bestimmt, auf dem die Ultra-Linke seither steht. Ihre verschiednen, auch untereinander gegensätzlichen Tendenzen sehen ein bisschen aus wie selbständig gewordne Fragmente seiner Lehre. Sie hat ihnen auch ihre Unvollkommenheiten und einige Einbildungen ihres Zeitalters mitgeteilt. Die Kraft dazu, so beherrschenden Einfluss zu üben, hat sie von der richtigen Auffassung einiger Fragen. Einwände, die sich nur auf ihre Begrenzungen und Unvollkommenheiten stützen, können dagegen nichts ausrichten. Wem seine Sachen nicht reichen, muss weiter gehen und eine bessere Auffassung dieser Fragen finden. Dazu sind die Mittel heute vorhanden.

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