Die afghanischen Ereignisse

1. Vor 20 Jahren, von einem Tag auf den anderen, waren die Zeitungen auf einmal voll von ganz frischen Afghanistan-Experten. Da las man dann erstaunt, wie viele unsrer Journalisten eigentlich genau Bescheid wussten über die britischen und die russischen Eroberungen in Asien im 19. Jahrhundert. Das sogenannte „Great Game“, man wird sich erinnern, habe vor allem Afghanistan zum Gegenstand gehabt. Worin es bestand, hat man meistens nicht dazugeschrieben.

Afghanistan war von Britisch-Indien aus gesehen das letzte indische Fürstentum, von Russisch-Turkestan aus das letzte zentralasiatische. Aber beide Mächte haben, nachdem sie sich ein Bild von der Lage gemacht hatten, versucht, Afghanistan nicht erobern zu müssen; und waren zufrieden, sobald man sich miteinander verständigt hatte, dass der andere es auch nicht erobert.

Afghanistan war früher so gut wie nur irgendein anderer Teil der alten Welt ein ziemlich begehrtes Land, in der Geschichte der Grossreiche genauso oft erobert, und genausooft Ausgangspunkt eines Grossreichs wie jeder andre Teil der alten Welt; es ging eine sehr profitable Überland-Handelsroute da durch, und es gab Agrikultur, von der man Abgaben eintreiben konnte. Man soll weniger drüber sinnieren, ob „schon Alexander der Grosse vergeblich versucht hat, Afghanistan zu erobern“; seine Nachfolger haben da jedenfalls noch lange geherrscht, wie der griechisch-buddhistische König Menander.

Die moderne Seefahrt hat aber später die Überlandroute überflüssig gemacht, und die moderne Industrie profitiert nicht nur auf Kosten der Bauern, sondern auch ihrer königlichen oder gutsherrlichen Schinder. Die moderne kapitalistische Wirtschaft hat die Reichtümer des Schah von Kabul ausser Kurs gesetzt. Afghanistan sieht so aus, wie es aussieht, weil es zum Erobern so teuer ist wie ein richtiges Land, aber es ist nichts da zu holen. Die wenigen, die es aus Versehen einmal versucht haben, haben es schnell wieder bleiben lassen. Das ist die Pointe an dem „Great Game“, die unsren Journalisten anscheinend entgangen ist.

Afghanistan ist nicht ein Land, das alle immer erobern wollten, aber nie erobert bekommen haben, etwa wegen der mannhaften Wehrhaftigkeit der paschtunischen Krieger, oder des engen Zusammenhalts einer traditionellen Stammesgesellschaft, oder wegen „dem Islam“; Afganistan ist nicht das „graveyard of Empires“. Das sind müde alte Cliches, totgeritten von hunderten Zeitungsschreibern. Afghanistan ist das, was alle modernen Mächte von Asien übriggelassen haben, weil sie es nicht brauchen konnten.

2. Afghanistan ist aber heute doch nicht mehr dasselbe Land wie das, das man vor 20 Jahren den Taliban abgenommen hat. Es ist nicht mehr mit den überlieferten Herrschafttechniken eines Agrarlands zu regieren. Ein Viertel der Bevölkerung lebt in den Städten; in 20 Jahren werden es mehr als die Hälfte sein. Die Hälfte der Bevölkerung ist nach 2001 geboren; Mobiltelefone, Internet, Fernsehen werden sich nicht ohne weiteres austreiben lassen. Man darf es den Taliban ruhig glauben, dass sie diese Veränderung begreifen. Sie werden vermeiden müssen, sich die neuen städtischen Klassen schon am Anfang zu Feinden zu machen.

Die Taliban haben in den letzten 10 Jahren in der Tat einige Veränderungen unternommen; sie sind keine rein auf den paschtunischen Süden begrenzte Organisation mehr, sondern haben uzbekische und tajikische Gesichter gefunden. Sie haben ausserdem begonnen, sich mit den alten äusseren Feinden gutzustellen, Russland einschliesslich seiner Satellitenstaaten, und China. Was ihre eignen alten Verbündeten, die uzbekischen, kaukasischen, uyghurischen Jihadisten davon halten, mag man sich denken.

Es ist aber auch eine Spaltung bereits eingetreten: Man hört von Konflikten zwischen dem pashtunischen, dem nördlichen und dem wazirischen Teil, gerade von den neuen tajikischen und usbekischen Anführern haben sich einige dem sog. Islamischen Staat angeschlossen. Das wird kein leicht zu lösendes Problem sein. Die Taliban haben jetzt selbst einen bewaffneten jihadistischen Aufstand am Hals, der vor allem versucht, ihnen die effektive Beherrschung des Lands und die Anerkennung durch die auswärtigen Mächte zu verweigern; das ist die Ursache der paradoxen Situation, dass die Taliban jetzt auf bestimmte Weise zum Vertragspartner des Auslands geworden sind.

Sie sind in gewisser Weise in der Klemme; deswegen verhandeln sie mit Leuten wie Karzai, oder mit Abdullah, der vielleicht in der Lage wäre, ein Mandat für die Bildung einer verfassungsmässigen Übergangsregierung aus dem Ärmel zu zaubern. Es müsste einen gar nicht wundern, wenn sie sich darauf einliessen. Der Zugriff auf das Guthaben der afghanischen Zentralbank hängt daran, und wer weiss vielleicht eines Tages Lieferungen für Ersatzteile für die amerikanischen Waffen, die ihnen in die Hände gefallen sind.

3. Es kann auch völlig anders ausgehen, und die Taliban können sich entschliessen, es wieder zu machen wie früher. Aber sie werden dann mit der afghanischen Gesellschaft noch grausamer umspringen müssen als damals. Man soll nicht glauben, die afghanische Gesellschaft wäre nicht in der Lage, einer Regierung entschiedne Opposition zu machen.

Es ist hierzulande vielleicht nicht so bekannt, aber es gab 2009 und seither immer wieder eine massenhafte Protestbewegung gegen die gefälschte Wiederwahl Karzais, und später gegen den ebenso gefälschten Sieg des jüngst davongerannten Ghani; es gab sogar eine Solidaritätsbewegung mit den ähnlichen iranischen Protesten von 2018. Die afghanische Öffentlicheit ist sensibel und mobilisierungsfähig.

Das ist vermutlich ihr Unglück, denn darum war sie unfähig, sich mit einem Regime wie dem jetzt untergegangnen auf Dauer zu arrangieren. Die afghanischen Regierungen der letzten 20 Jahre haben sich dadurch hervorgetan, jede noch so kleine Entscheidung in Kabul zu zentralisieren; sie sind zentralistischer als die britische Bürokratie, was eine Kunst ist; und die Zentrale wurde natürlich von Leuten regiert, die ein gutes Geschäft aus der Regierung zu machen verstanden. Schon deswegen durften Wahlen kaum ungefälscht bleiben.

Weil diese Sorte von Leuten also von den auswärtigen Mächten mehr abhängig war als von der Bevölkerung, genau deswegen geschah das, was geschah: sobald klar wurde, dass die Amerikaner abziehen, machte jeder Kommandeur heimlich seine Sachen mit den Taliban klar; weil jeder genau wusste, dass jeder andre es auch tat; und was an diesem Staat als einziges eine Substanz hatte, der militärische Apparat, zerbröselte innerhalb von zehn Tagen.

Und zwar ehe noch die Amerikaner abgezogen waren; und das überraschte angeblich die Beobachter dermassen. Aber genau das ist doch der Punkt: wenn so ein regionaler Kommandeur seinen Deal mit den Taliban macht, dann macht er ihn so früh wie möglich, wenn man noch etwas dafür bekommt. Die Dynamik ist dieselbe wie bei einer Börsenpanik.

Und das hätte mit dieser afghanischen Regierung nicht anders abgehen können. Wenn der politische Konflikt anders ausgegangen wäre, vielleicht; wenn die Gesellschaft ihre Präsenz auf der Strasse so fühlbar hätte machen können wie im Irak oder im Libanon, wer weiss? Aber von dieser Gesellschaft war die Regierung gerade völlig isoliert, gerade durch die grosszügige ausländische Unterstützung.

Der Westen, hört man, ist bei dem Versuch gescheitert, die Demokratie zu exportieren. Er hat in der Tat nicht die Demokratie nach Afghanistan exportiert, sondern bloss die parlamentarische Form der Klassenherrschaft. Nur in denjenigen Gesellschaften, in denen sich eine durchschnittliche Profitrate bildet, kann man sich einbilden, das sei dasselbe.

Die Demokratie dagegen bildet sich in den anderen Gesellschaften in der erbitterten Opposition zum Staat. Und sie bleibt in dieser Opposition. Sie macht sich gelegenlich fühlbar, sie greift gelegentlich nach der Macht, oder schickt sich an, den Staat zu zertrümmern; aber sie kann nie selbst der Staat werden. Im Irak hat man 2010-2020 eine ganze Reihe Lektionen darüber bekommen können. Die irakische Demokratie ist übrigens alles, was den mittleren Osten seither gerettet hat davor, in den neunten Kreis der Hölle gezogen zu werden. Ist nicht Afghanistan eigentlich in einer ähnlichen Lage wie der Irak 2014? Man wird es sehen.

4. Oder wäre die afghanische Armee nicht kollabiert, wenn man z.B. eine begrenzte Präsenz von ein paar tausend Leuten im Land gelassen hätte, z.B. Bagram Air Base weiter betrieben hätte? Vielleicht. Aber das war ja der Punkt: es ging bei dem Abzug nicht darum, 3.500 statt 180.000 Soldaten im Land zu lassen, sondern genau 0 statt 3.500.

Das ganze afghanische Engagement machte die USA anfällig für Druck. Jede beliebige Regionalmacht, Russland, China, Pakistan, Iran konnten je nach Laune in Afghanistan Schwierigkeiten machen, den Überflug, die Versorgung behindern etc., und mit jedem dieser Mächte hat man aber auf anderen Feldern allerhand anderes zu klären. Die amerikanische Präsenz in Afghanistan garantierte, dass in keiner anderen Frage irgendetwas rasches geschah, während die USA beschäftigt waren, dem Iran die Taliban, China die uyghurische Islamisten, Russland die kaukasischen vom Hals zu halten.

Noch verrückter: sie waren völlig abhängig von Pakistan, das nach Kräften alles tat, um ihre Feinde zu unterstützen; und das blockierte auch noch die Wiederannäherung an Indien, das nach Bündnis mit den USA gegen China streben musste. Dieses Bündnis. von Obama als „pivot to East Asia“ angekündigt, besteht jetzt. Es hat sich mit einem Schlag der Umriss einer neuen Konstellation der Bündnisse und der neuen Konflikte enthüllt, von der Trumps ungeschickter Handelskrieg nur das erste dumpfe Grollen gewesen ist.

Aber hört man nicht, dass Joe Biden durch die anscheinende Inkompetenz des Abzugs, oder durch die eiskalte Art, wie er die afghanischen Verbündeten fallen lässt, Vertrauen in der Welt verloren hat? Sind das nicht Bilder wie beim Fall von Saigon? Ich fürchte, solche Einwendungen kommen aus dem Zeitalter vor Trump. Ein Prinzip des Trumpismus, und das wird Trump lange überdauern, ist dieses: The cruelty is the point.

Er hatte versprochen, abzuziehen, egal was es kostet. Und er ist abgezogen, egal was es gekostet hat. Joe Biden führt der Welt eine amerikanische Regierung vor, die entschieden und völlig ohne Bedenken handelt, und die nicht zögert, zu rechnen, was ihr mehr kostet als es nützt; die sich nicht darum schert, was die Welt denkt; und die keine Schande kennt und das gerne zeigt. Das hat Trump gelehrt.

Man kann sich die falschen Tränen über den Untergang des Westens sparen. Der Westen ist stattdessen auf Angriffsposition gegangen. Die Umkehrung der Allianzen, die wir seit 10 Jahren sehen, ist jetzt vollständig, die internationale Ordnung ist neu konfiguriert: der Eskalation steht nichts mehr im Wege.

Man verwechselt, was den Westen betrifft, vielleicht manchmal seine Sache mit der derjenigen Revolution, die wir seit 2009 überall ihre Schritte tun sehen, ehe sie mit aller Gewalt zurückgeschlagen wird. Das, und den sentimentalen Appell an das Welt-Gewissen, kann man sich vielleicht in Zukunft auch sparen. Solange die Taliban nicht ein neues Kambodscha veranstalten, wird man sie überall als billigeren Ersatz zur letzten Regierung willkommen heissen.

Aber vorbei ist die Geschichte in Afghanistan und überall sonst noch lange nicht. Die Taliban haben Afghanistan noch nicht gewonnen. Sie haben nur den Kampf gegen die Regierung Ghanis gewonnen, die bewiesen hatte, dass sie Afghanistan nicht regieren konnte. Und sie haben jetzt schon bewiesen, dass auch sie es nicht können werden.

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