[Ein weiterer Gastbeitrag. – GT]
Der aktuell wohl am häufigsten mit Hitler verglichene Mensch auf Erden, der russische Präsident Wladimir Putin hat am 9. Mai eine Rede zum Sieg im „Großen Vaterländischen Krieg“ gehalten. Zwar blieb die erwartete Verkündung einer Generalmobilmachung oder Ausweitung des Kampfes aus, doch den westlichen Beobachter*innen entging es natürlich nicht, dass der „Kremlchef“ „Tatsachen verdreht“ (Welt) und wenn er auf eine „Eskalation verzichtet“, dann natürlich nur „vorerst“ (Süddeutsche).
Dass die Rede eines aktiven Politikers eine alles andere als neutral-unparteische Sicht auf die Geschichte und Gegenwart formuliert, dürfte wenig überraschen. Doch vielsagend ist, wie der Staatschef den Bürger*innen die Gründe für seine Entscheidungen nennt, für die einige von ihnen mit dem Leben und die meisten mit ihrer Lebensqualität bezahlen werden.
Putins erstes Argument ist weder originell, noch den Bürger*innen westlicher Demokratien unbekannt, wenn auch in Deutschland aus der Mode. „Es war schon immer so.“ Im O-Ton: „Die Verteidigung des Vaterlandes, als über sein Schicksal entschieden wurde, war immer heilig.“ Das könnte so ohne weiteres, nur ein paar Namen und Jahresdaten austauschend Putins Kontrahent in Kiew sagen. In dieser Sicht ist der Kampf gegen deutschen Faschismus und seine Verbündete nur eine besonderes wichtige Episode im Kampf von Vorgängerstaaten der heutigen Russischen Föderation gegen allerlei Feinde. Den gegenwärtigen Staat habe es quasi immer gegeben und immer hatte er Feinde, die am Ende dennoch besiegt waren, wie vor 200 Jahren, so heute.
Der nächster Punkt ist schon spannender: „Und so kämpfen sie jetzt, in diesen Tagen für unser Volk im Donbass. Für die Sicherheit unseres Heimatlandes, Russland“. Dies sind nämlich zwei unterschiedliche Kriegsgründe. Einmal lebt im Donbass „unser“ Volk, auch wenn Russland dieses eigene Volk ein viertel Jahrhundert lang als Bürger*innen eines anderen Staates, nämlich der Ukraine, betrachtet hat. Wer sich jenseits der bisherigen Staatsgrenzen mit Russland identifiziert, für den besteht die Aussicht Teil „unseres Volkes“ zu werden. Sogar mit dem Territorium, auf dem man wohnt. Die Gebiete werden dann später in der Rede zu „unseren historischen“.
Für die Sicherheit der Heimat zu kämpfen ist ein Argument, dem sich Staatsbürger:innen egal welchen Staates nur schwer entziehen können – sie sind auch meist überzeugt, dass der Staat sie schützt, gerade in dem Moment, wenn er von ihnen verlangt ihr Leben zu riskieren. Tatsächlich haben sie von den fremden Souveränen, die sie als Manövriermasse der feindlichen Regierung betrachten, selten Gutes zu erwarten und neigen daher, die Kritik an die eigene Führung in der „Stunde der Not“ zu vergessen. In der Ukraine klappt das gerade auch ganz gut.
Viele der Begründungen, warum Russland diesen Krieg führt, die am Anfang in den russischen Medien an exponierter Stelle genannt wurden, tauchen in Putins Rede nicht auf: „Genozid der russischen/russischsprachigen Bevölkerung“, „faschistisches Regime in Kiew“, „Labore für chemische Waffen“ usw. Dafür geht er auf die Differenzen mit dem Westen ein, um das Argument „Russland hat zuerst angegriffen“ auszuhebeln und den präventiven Charakter des Krieges zu begründen.
Der Streit darüber „wer angefangen hat“ leugnet nicht, dass es sich ausschließende Interessen und gegenseitige Schädigung mit nicht-kriegerischen Mitteln gab. Entscheidend erscheint aber, wer den Übergang zur militärischen Schädigung zuerst ging und damit der Gewalt des Gegenübers den Status von „Selbstverteidigung“ verlieh.
„Die NATO-Staaten wollten uns nicht hören“,sagt der Präsident. Natürlich haben die NATO-Staaten gehört, was Russland in der Weltpolitik möchte, sahen aber keinen Grund ihre eigene Interessen hinsichtlich den Ansprüchen eines wirtschaftschwachen, wenn auch militärisch starken Reststaates der Sowjetunion zurückzustellen.
Es folgen lange Ausführung darüber, dass Russland den Krieg nicht wollte. Wären russische Interessen berücksichtigt worden, wäre der Krieg nicht nötig gewesen. Ja, Krieg ist auch kein Selbstzweck, sondern ein recht kostspieliges Mittel der staatlichen Politik. Die NATO hätte auch niemanden bombardiert, wenn diverse „Schurkenstaaten“ sich von selbst auf Kurs gebracht hätten. Und was die NATO kann, so Putins Lamento schon seit Ewigkeiten, muss Russland auch können, sonst ende man wie eines der „demokratisierten“ Regime. In Putins Worten: „Russland hat präventiv auf die Agression reagiert. Es war eine erzwungene, rechtzeitige und die einzig richtige Entscheidung. Die Entscheidung eines souveränen, starken und unabhängigen Staates.“ Dass Putin extra betonen muss, dass Russland souverän, stark und unabhängig sei, deutet darauf hin, dass er alle diese Punkte akut in Frage gestellt sieht. Die Ansagen führender westlichen Politiker:innen, Russland sei eine „Regionalmacht“ fielen bei Putin offenbar auf fruchtbaren Resonanzboden. Die Ukraine ist da schon deswegen Siegerin der westlichen Herzen, weil sie sich mit ihrem untergeordneten Status abfindet und auf Bedeutungszuwachs durch Beitritt zur Wirtschafts- und Militärbündnis spekuliert.
Putins Verweise darauf, dass Russland doch für alles Gute, von religiösen Toleranz über „traditionelle Werte“ bis hin zu Antifaschismus stehe, dürften bei vielen westlichen Medienkonsument:innen nur ein müdes Lächeln und Kopfschütteln ernten. Exkurse über ostslawische Fürsten des Mittelalters, deren Anwesenheit auf dem Gebiet des heutigen Donbass irgendwas legitimieren sollen versteht sowieso keiner, der nicht von diesen in den (post)sowjetischen Schulbüchern las. Auf Anhieb wurde den westlichen Medienkonsument:innen im Februar 2022 jedoch klar, dass die Ukraine schon immer berechtigten Anspruch auf Unabhängigkeit in den heutigen Grenzen hatte und die selben mittelalterlichen Herrscher, die Putin für seine Zwecke zitiert, die ukrainische Identität legitimieren. Nationale Mythen ähneln sich, erscheinen aber bei verfeindeten Nationen auf einmal so lächerlich.
Da sprach er also, der Oberstörenfried des Weltordnung und hat zehn Minuten lang begründet, warum der Krieg gegen konkurrierende Mächte auf dem Gebiet deren Verbündeter einerseits eine souveräne Entscheidung, andererseits aus Sachzwängen resultiert und alternativlos war.