Das klassische Feld der heutigen Pseudo-Linken aber ist ein anderes gewesen. Seit 2014 gab es einen Zyklus grosser Proteste gegen Polizeimorde an Schwarzen in den USA. Die Bewegung gewann Bekanntheit unter dem Namen „Black Lives Matter“, unter diesem Namen bildete sich eine bundesweite Dachorganisation und von ihr anerkannte Lokalorganisationen.
Von unsrer Seite muss nichts über die tiefe Berechtigung dieser Proteste gesagt werden. Um so mehr allerdings darüber, was aus ihnen wurde, oder besser was aus ihnen gemacht wurde. Eine mittlerweile fast zehnjährige Bewegung von einer ungeheuren Grösse und Tiefe, und internationaler Ausstrahlung; aber sie hat praktisch keine konkreten Ergebnisse gebracht.
Ab einem bestimmten Zeitpunkt kann man ein derartiges Scheitern nicht mehr einfach auf die Macht des Feinds zurückführen. Um so mehr, als die Demokratische Partei sehr früh sich hinter die Bewegung gestellt hat; vor allem ihr sogenannte linker Flügel hat nicht nur die Rhetorik der Bewegung übernommen; mindestens in den grossen Städten hat er damit politische Macht gewonnen. Wie das augegangen ist, werden wir uns am Ende auch noch ansehen müssen.
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Ich rede hier natürlich nicht von denen, die demonstriert haben. Ich rede von denen, die diese Proteste ausbeuten; die auf ihrem Rücken ihre eigenen speziellen Ideen in die Welt tragen. Man muss diese beiden Sorten von Leuten ganz genau unterscheiden. Sie sind nämlich auch in der Realität getrennt, und zwar im Ernstfall durch eine Kette von Streikposten. Die schwarze Arbeiterklasse sucht ihre Zuflucht anscheinend woanders, und hat aus der Niederlage interessante Schlüsse gezogen: nämlich gewerkschaftliche Organisierung. Es ist witzig, gerade die Unternehmen, die sich am lautesten mit BLM solidarisieren, weil es kostenlos ist und der liberalen Kundschaft gefällt, sind die unter den ersten Gegnern. Und gerade die „fortschrittlichsten“ Unternehmen haben eine aggressive Politik gegen gewerkschaftliche Organisierung: die Heuchelei zeigt sich nirgends so deutlich wie hier.
Aber wie konnte es geschehen, dass die Bewegung ansonsten, auf ihrem bürgerlichen Kampfplatz, so wirkungslos geblieben ist? Sie ist mit dem Anspruch angetreten, ein gesteigertes Bewusstsein fürs Unrecht zu schaffen. Aber das Wort, mit dem sie dieses gesteigerte Bewusstsein am Anfang bezeichnet hat, „woke“, ist zu einer Spottbezeichnung geworden, die in den eigenen Kreisen nicht mehr geduldet und nur noch vom Gegner verwendet wird. Wie kann so etwas eigentlich überhaupt passieren, ausser es ist irgendetwas völlig schiefgegangen?
Es gibt noch keine besonders grosse Literatur zu dem Problem auf der linken Seite, und was von rechts kommt, ist kaum der Mühe wert zu lesen. Die Rechte hat ein grosses Interesse daran, dass die Linke mit ihrem pseudo-linken Zerrbild möglichst identisch ist; denn, wie man sich denken kann, dieses Zerrbild ist geeignet, Leute abzuschrecken. Unter den Linken wiederum sind diese Leute zur Zeit noch überall obenauf; und sie werden jede Kritik zu unterbinden und zu bestrafen wissen. Das heisst, wir werden erst dann mit einer zusammenhängenden linken Kritik dieses Treibens rechnen können, wenn ihr Sturz wirklich unmittelbar bevorsteht; d.h. wenn die meiste Arbeit schon getan ist. Eine interessante Sackgasse, aus der man auch erst einmal herausfinden muss!
Man hat natürlich über die Jahre allerhand Dinge aus diesen Kreisen gehört und wie es da zugeht. Nach aussen wurde immer so getan, als ob das alles erstens nicht stimmt, sondern böswillig vom Feind erfunden; zweitens, dass alles sehr wohl stimmt, aber völlig berechtigt ist und kein Problem für irgendjemanden, drittens aber natürlich ein Problem, aber man darf es nicht aussprechen, weil es den Rechten in die Hände spielt. So reden natürlich Leute, wenn es wirklich kein Problem gibt.
Erst neuerdings hört man genaueres auch von der Linken im weitesten Sinne. Aber alles ist immer noch etwas vage. Sehen wir uns kurz zwei neuere Arbeiten über das Problem an.
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Nehmen wir Dan Kovalik, Cancel this Book, Penguin 2021. Kovalik ist ein hartköpfiger alter Parteikommunist von der Sorte, gegen die ich mein halbes Leben gekämpft habe; ratet mal, was er über die Ukraine sagt. Manchmal sieht man ihn auf PressTV anscheinend. Über solche Leute sagt man höchstens: auch eine kaputte Uhr geht zweimal am Tag richtig. Aber zweimal am Tag geht sie halt dann richtig, und er hat genug Beispiele zusammengetragen und auch ein paar eigene gelungene Analysen darunter. Lesenswert ist in dem Zusammenhang vor allem das zweite Kapitel „Cancellation of a Peace Activist“. Kovalik hat für alle Geschichten auch Quellen parat.
Es sind mehrere Hämmer darunter, ich nehme mir nicht das raus, was ich für besonders empörend halte, sondern was aufschlussreich ist. Folgende Geschichte haut dabei vor allem den Vogel runter. Molly Rush, eine Veteranin der sozialen Bewegung, teilte 2020 ein Meme auf Facebook. „The meme contained a photo of Martin Luther King, Jr. and stated: ‚Looted nothing, Burned nothing, Attacked no one, Changed the World.'“
Dieses Posting kam so vielen namenlosen Leuten auf Facebook rassistisch vor, dass Molly Rush sich gezwungen sah, sich zu entschuldigen. Vergeben wurde ihr nicht, sie wurde unter den örtlichen linken Organisationen politisch kaltgestellt. Aber warum? Angeblich bedient das Posting, weil es Gewaltfreiheit lobt, das rassistische Stereotyp des gewalttätigen Schwarzen. Nun ja. Schwerer wiegt vielleicht die Begründung, dass eine Weisse nicht den Schwarzen die Wahl ihrer Kampfmittel vorzuschreiben habe. Ja gut, das liesse sich ja hören.
Aber der Witz an der Sache ist der: die Gewalt auf den Demonstrationen ging vorwiegend von Weissen aus. Schön vermummte junge weisse Leute aus bürgerlichen Familien, die irgendwann im Leben vor dem Rechner begonnen haben, sich als linksradikal zu identifizieren. Wir alle kennen solche Leute. Eine interessante Rolle spielen dabei die, die sich heute „insurrektionäre Anarchisten“ nennen. In der älteren Literatur dieser Richtung haben sie gelesen, dass die, die den Aufstand machen, niemandem Rechenschaft schuldig sind; dass sie allein über die Mittel bestimmen; und dass ihnen die Führung zusteht, weil sie mutiger und entschlossener sind als die feigen Normalmenschen, die vor der Zerstörung zurückschrecken.
Es ist vollkommen klar, welche Sorte von Leuten so ein Evangelium anziehen muss. Ich weiss nicht, wo der grosse Unterschied zu den Boogaloo Boys gewesen ist, die sich auch bei den BLM-Demos herumgetrieben haben, und die auch glaubten, hier könne man durch Gewalt die ersehnte Revolution herbeiführen. Beide Sorten sind weisse Kinder, die zu lange im Internet gesessen haben; die Boogaloo Boys haben ihre Vorstellung von der Revolution aber von Charles Manson.
Hier waren also wirklich Weisse, die den Schwarzen die Mittel des Kampfes vorschreiben wollten; ja direkt aufzwingen. Nun hab ich wirklich keine Ahnung, was Molly Rush sonst für Sachen sagt, und habs auch nicht eilig herauszufinden. Aber das weiss ich, hier hatte sie einfach Recht. Das Problem beginnt aber hier erst. „This reality really came home to me when I saw scenes in Chicago with the mostly African American residents of Englewood organizing to keep the mostly white BLM protesters out of their neighborhood“…
„Incredibly, a number of white protesters in other cities had the audacity to tell longtime Black activists how they thought things should be done… white protesters dared to assault Black leaders whom they deemed too conciliatory… The truth is that it is largely white “woke” activists who are determining which Black voices we are to listen to and follow. Indeed, there is a huge irony in all this as we see certain Black voices drowned out and ignored—and in fact cancelled—when they fail to express the “acceptable” narrative“.
Was ist hier passiert? Eine soziale Bewegung ist die Beute von mehreren Sorten von Aktivisten geworden, die ihr am Ende jede Autonomie genommen haben. Mit vereinten Kräften, aber auch in bitterer Konkurrenz gegeneinander. Aber alle schützen sich gegenseitig, damit der Betrug nicht auffliegt, den sie gemeinschaftlich begehen; den sie begehen an denen, zu deren Gunsten sie vorgeben zu arbeiten. Soll man hier von etwas anderem als von Pseudo-Linken sprechen? Wie nennt man solche Leute denn sonst?
Sehr schlechtes Zeichen für die Zukunft; alle diese Leute zusammen sind im Stande, eine soziale Bewegung zu zerstören. Die Bewegungen, die dieses Hindernis überwinden wollen, werden machtvoller sein müssen als die vergangenen. Aber wer sind diese Aktivisten, für was arbeiten sie, wo kommen sie so plötzlich her?
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John McWhorter, Woke Racism, Penguin 2021 versucht zu rekonstruieren, wie diese Leute denken. McWhorter ist auch jemand, den man nicht ohne Kritik zitieren kann, er ist ein „Liberal“, ein Linksliberaler; also jemand, der im Grunde an die jetzige Gesellschaft und ihre Einrichtungen glaubt.
McWhorter besteht darauf, dass man es bei diesen bürgerlichen Radikalen mit einer neuen Religion zu tun hat; er meint das nicht als Vergleich und nicht als Metapher. Er trifft damit auch etwas. Es wird in der Tat vieles klarer. Der merkwürdig fruchtlose Aktivismus, der sich so sehr mit der Ausschnüffelung und Anprangerung abweichender Meinungen befasst; die regelrechte Liturgie, der Fokus auf der Arbeit am eignen inneren Rassismus; auch Kovalik hatte ja geschrieben: „I am not alone in the view that the BLM protests, at least the ones I witnessed, were indeed more religious in nature than they were political. They seemed more about white protesters going to somehow purify themselves than about achieving any particular political ends, and that’s quite possibly why they didn’t really achieve any such ends.“
Es trifft auch die merkwürdige Irrealität dieser Vorstellungswelt; ihre Gleichgültigkeit, ja Verachtung für wirkliche praktische Erfordernisse; am meisten aber ihre Bereitschaft, Dinge zu glauben, die nicht nur weltfremd sind, sondern einander direkt entgegengesetzt. S. 18 f. hat er eine regelrechte Tabelle aus den Glaubenssätzen dieser neuen Schule, angeordnet dahach, mit welchen anderen Glaubenssätzen sie in direktem Widerspruch stehen. „8. If you’re white and date only white people, you’re a racist. – If you’re white and date a black person, you are, if only deep down, exotifying an “other.”“ Aus der schuldhaften Verstrickung ist kein Entkommen; das gesellschaftliche Verhältnis wird auf indivduelle Schuld reduziert; und dazu ist es nötig, widersprüchliches zu glauben.
McWhorter hat Recht, hier eine Parallele zur calvinistischen Religiosität zu sehen, die in den USA vorherrscht. Aber es ist S. 76 f., wo er versehentlich fast zu einer noch besseren Einsicht kommt. In denselben Jahren, in denen der neuere pseudo-linke Aktivismus entstanden ist, sind zum ersten Mal die Nichtreligiösen zur grössten gesellschaftlichen Gruppe in den USA geworden. Das kirchliche Milieu zerfällt in den USA, wie früher auch schon in Europa.
In den 1990ern hatten wir bei uns in der Linken ähnliches, aber in kleinerem Masstab. In der Anti-Globalisierungsbewegung konnte man ähnliche Inbrunst finden, und ähnliche Leute. Die Anziehung der Linken auf solche Leute ist immer gross gewesen. Aber sie betreiben die Sache der Linken dann eben auch so, wie man eine Religion betreibt.
Was ihm nicht oder nicht besonders auffällt, ist die soziale Zusammensetzung. Ich erinnere daran, was der Soziologe Nils Kumkar über die Occupy-Bewegung herausgefunden hatte. Sie war hauptsächlich getragen von Angehörigen spezifischer Teile der Mittelschichten; nämlich solcher, die in einem der angeblich aufsteigenden neuen Sektoren arbeiten (z.B. „Tech“) oder in sozialtechnischen Apparat des öffentlichen Dienstes, der auch eine grosse Ausdehnung genommen hat (hierhin gehören auch die Universitäten, namentlich die Geistes- und Gesellschaftswissenschaften).
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Die Occupy-Bewegung war vielleicht der Ursprung dieser ganzen Richtung der neueren Pseudo-Linken. Sie ist eine direkte Reaktion auf die Krise von 2008 gewesen. Und in dieser Bewegung drücken sich, schwer unterscheidbar, zwei völlig gegensätzliche Impulse aus: einerseits die Einsicht, dass Veränderung nötig ist; andererseits das Interesse an der eigenen gesellschaftlichen Stellung, die durch Veränderung aber selbst bedroht ist. Diese Aktivisten waren faktisch gezwungen, sich selbst für die Sprecher der Unterdrückten zu halten, und notfalls die Unterdrückten zu übertönen.
Glaubt man mir nicht? Eine grosse Mode, die von der Occupy-Bewegung ausging, waren diese Handzeichen-Sachen bei Versammlungen. Dass man das Klatschen abschafft, finde ich gar nicht schlecht; aber es mussten sich dann so ein Dutzend Handzeichen ausgedacht werden, die man beherrschen musste, um an so einer Versammlung mitreden zu können, sogar um zu verstehen, was vor sich geht. Sie hielten das für super basisdemokratisch, und einige tun das noch. Es ist ihnen nie aufgefallen, dass sie damit alle diejenigen ausschliessen, die mit den Sitten dieser Leute, mit ihrer Art zu denken, mit dem gebildeten Milieu insgesamt nicht vertraut sind und auch nicht werden können. Die Massnahme war nur eine Geste, aber sie zeigt genau den Geist, der da herrscht.
Wir haben es bei der neueren Pseudo-Linken mit so etwas zu tun. Ein Teil der bürgerlichen Welt hat sich radikalisiert; es ist nach der Krise von 2008 nicht anders zu erwarten gewesen, und diese Krise hat nie richtig aufgehört. Soweit ist es nichts neues; die „Linke“ hat sich immer aus solchen Leuten rekrutiert, man solls von mir aus bei Lenin nachlesen. Gut war das auch früher nicht. Aber es gibt auf der Linken seit den 1990er Jahren schon keine stabilen Strukturen mehr, die diesen Zustrom aufnehmen und assimilieren könnten. Und in dieser Lage kann es gar nicht anders kommen, als dass diese neue bürgerliche Linke ihre eigenen Ideen mitbringt, beibehält, und sich selbst für die einzige und wahre Linke hält; und es ist einstweilen niemand da, der widerspricht. Wer denn, etwa die Intellektuellen? Aber das sind doch die Intellektuellen!
Wir kennen alle z.B. die Kinder von BMW-Ingenieuren aus Dingolfing, die vegan essen, sich die Haare queer schneiden, in ostdeutschen Grossstädten irgendetwas angesagtes studieren und critical whiteness treiben. Und wir wissen auch, dass sie das tun, um gleichzeitig ihren berechtigten Selbsthass zu bewältigen, und dennoch die Familientradition des sozialen Aufstiegs zu bewahren. Für diese Leute sind z.B. die Grünen da, die einen gewandelten und besseren Kapitalismus versprechen; aber neuerdings auch die Linkspartei, die sich von den Grünen nur noch durch das schlechtere Wahlergebnis unterscheidet.
Die wohlhabenden Gesellschaften des Westens haben einen grossen Vorrat an solchen Leuten, und diese Leute haben Zeit und sind es gewohnt, lauter zu sprechen als andere. Es ist ja gerade ihr Motiv, das Wort nicht abgeben zu müssen. Diese Leute dominieren im Moment die Einrichtungen der Linken, weil keine andere Kraft mehr da ist. In den USA beginnt man neuerdings einzusehen, dass die Gewohnheiten, die sie mitbringen, die Einrichtungen der Linken an den Rand der Handlungsunfähigkeit bringen; aber wie immer gibt es in dieser Frage zwei Meinungen. Es ist wieder einmal ein Problem zwischen Leuten, die meinen, es gibt ein Problem; und denen, die meinen, es gibt kein Problem. Gewöhnlich sind diese letzteren das Problem.
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McWhorter glaubt an die Bildung und auch an die Gebildeten; daher ist ihm die kuriose Erklärung mit der Religion naheliegender. Aber er stellt selbst das interessante Faktum heraus, dass diese vermeintlich so streng moralische und unnachgiebige Strömung des Pseudo-Antirassismus in Wirklichkeit eigentlich der einfachere Weg ist. Sie verlangt ihren Anhängern weniger ab, intellektuell wie praktisch.
Man muss dann nicht mehr verstehen, wie sich in der Gesellschaft Ungleichheit und Ausbeutung am Leben erhalten. Man muss z.B. die Realität der amerikanischen Schwarzen gar nicht mehr in einem gesellschaftlichen Zusammenhang sehen. Man benennt „den Rassismus“ als die Ursache, also letzten Endes eine Denkweise; man redet zwar viel davon, „strukturelle Machtverhaltnisse abzubauen“, aber es geht eigentlich dabei um „Mikroaggressionen“.
Es geht um kleine Dinge, es geht um etwas Inneres; wirkliche Veränderung der äusseren Umstände kann nichts ausrichten, wenn das Denken verdorben ist. Man nennt so etwas sogar „solutionism“, der aussichtlose Versuch einer praktischen Lösung, wo in Wahrheit ein ungreifbar-unauflösbarer Abgrund klafft. Nichts kann je gut genug sein. Nur die beständige geistige und moralische Arbeit daran kann helfen; wozu aber, das erfährt man nicht.
Deswegen verlangen diese seltsamen Radikalen auch so wenig praktisches. Wo sie etwas fordert, das irgendwie real aussieht, nehmen wir z.B. Reparationen für die Sklaverei, da bleibt sie unklar. Wer soll die Reparationen leisten und an wen? Whorter untersucht das S. 37 f., 48 f. Es gibt nicht nur keine klare Vorstellung, das wäre ja vollkommen verständlich. Es gibt nicht einmal die Absicht, zu einer klaren Vorstellung zu kommen. Es gibt keine Debatte darum, was man konkret fordert. Randall Robinson, der das in „The Debt“ 2001 einmal formuliert hatte, ist bei diesen Leuten vergessen; so genau brauchen sie es nicht. Die Forderung ist dafür da, nebelhaft herumzustehen und nie durchgesetzt zu werden.
Selten entkommt aus diesen Kreisen eine Forderung, weil sie aus Versehen präzise genug ist. „Defund the Police“ war so ein Fall. Darunter konnte man sich etwas vorstellen, also hat sich der linke Flügel der Demokraten darauf gestürzt. Es stellt sich nur leider heraus, dass das zwar sehr populär war bei einem kleinen Kreis von Aktivisten, die selbst in besseren Vierteln leben; aber regelrecht verhasst bei genau denen, in deren Namen man das fordert. Es stellt sich heraus, dass die Unterdrückten nicht in Städten leben wollen, die nach solchen Grundsätzen verwaltet werden wie neuerdings San Francisco.
Vielleicht ist das am Ende der Grund, warum eine solche Bewegung ohne alle reale Folgen bleiben konnte: die Sorte Leute, die es geschafft hat, sich zu ihren Sprechern aufzuschwingen, will keine realen Veränderungen. Die Forderungen der Bewegung, so wie sie sie interpretieren, sind illusorisch, undurchführbar oder ohnehin nicht ernst gemeint. Man muss der Tatsache ins Auge sehen, dass die bürgerlichen Intellktuellen Gift für jede soziale Bewegung sein werden. Sie kümmern sich um ihre eignen Belange. Und ihre Belange sind meistens fürchterlich neurotisch.
Was sie der Gesellschaft abverlangen, sind komplizierte neue Wörter, die man lernen muss; umständliche Rituale, denen man sich unterziehen muss; aberwitzige Doktrinen, zu denen man sich bekennen muss. Die schiere Lästigkeit dieser Sachen erzeugt den Eindruck der Radikalität; wer so vehement eine neue Sprache durchsetzt, lässt sich doch nicht gemässigt nennen! Aber alle diesen neuen Formeln und Doktrinen haben nur die eine Funktion und auch nur den einen Zweck: die Brücke zu zerstören zwischen der eigenen unmittelbaren Erfahrung, und zwischen den älteren und klareren Begriffen, in denen man sie beschreiben kann. Und das heisst: wirkliche Veränderung unmöglich zu machen.
Man kann die Radikalität und Kraft einer jeden Bewegung heute genau daran ablesen, wie energisch sie diesen ganzen scheinheiligen Plunder beiseitewirft. Sie wirft damit die Deutungshoheit der bürgerlichen Radikalen ab. Sie verliert damit selbstverständlich jeden Anspruch auf Sympathie von diesen Leuten. Aber sie erobert sich dadurch die eigne Autonomie, und das wird für jede künftige Bewegung, die machtvoll werden will, die erste Notwendigkeit sein.