Situationist in sieben Tagen

[Erschienen im Heft #1 etwa 2011 oder 2012, wer weiß das schon, und an dieser Stelle der Ordnung und der Richtigkeit halber veröffentlicht. Und weil der Rinderwahnsinn, der i.d.R. junge, angehende Intellektuelle befällt, nach wie vor grassiert. – euer GT]

Gefunden in der New Yorker Internetzeitschrift „Shoe Polish Week“ unter http://library.nothingness.org/articles/all/en/dis-play/274. Der anonyme Autor bezeichnet sich als „the most profiled author/artist/revolutionary the world has ever seen“, was zweifellos stimmt, liest man seinen Besinnungsaufsatz „Drifting with the Situationist International“ (ebd.).

von N.N.


1. Lerne unbedingt Französisch. Kein Situationist, der etwas auf sich hält, würde auch nur im Traum daran denken, das nicht zu können.

2. Drücke dich stets so geheimnisvoll wie irgend möglich aus. Nimm’ ein Lexikon, such’ dir jede Menge hochtrabende wissenschaftliche Begriffe heraus und benutze sie reichlich. Zum Beispiel ist es schlecht zu sagen : „Die Verhältnisse sind mies.“ So geht’s viel besser : „Der konstitutive Mechanismus der Kultur hat sich zur Verdinglichung aller menschlicher Handlungen gesteigert und zur Versteinerung des Lebens, wodurch die Weitergabe der Erfahrung von Generation zu Generation nach dem Muster des Warentausches verformt wird, d. h. eine Verdinglichung ist eingetreten, die danach strebt, die Herrschaft der Vergangenheit über die Zukunft unaufhebbar zu machen.“

3. Insbesondere die Begriffe „Langeweile“ (etwa so : „Es gibt absolut nichts, was sie nicht tun würden, um die Langeweile zu vergrößern“), „Elend“ (z. B. das Elend der Studenten, der Universität und der Künste), dazu „Leidenschaft“ und „der Gebrauch der Lüste“ sind unverzichtbare Geräte im Werkzeugkasten des angehenden Situationisten; ihr freizügiger Gebrauch wird dein Image in der situationistischen Gemeinde nachhaltig stärken.

4. Beziehe dich im Gespräch ständig auf den Dadaismus und auf die Surrealisten. Obwohl das fast schon ein Jahrhundert her ist, sprich das Thema so oft wie möglich an, auch wenn es noch so unpassend sein mag.

5. Greife „die Universität“ und „den Kunstbetrieb“ so oft wie möglich energisch an (Ausdrücke wie „der Abfallhaufen“ oder „der Gully der Kunst“ kommen besonders gut). Schließ dich der renommiertesten Clique an und achte darauf, dass dein Freundeskreis zu mindestens neun Zehnteln aus Künstlern besteht.

6. Kultiviere deine Einbildung und deine Selbstgefälligkeit bis an die Grenze des Größenwahns. Rechne Dir die spontanen Aufstände in den entlegensten Weltwinkeln als deinen Verdienst zu und verhöhne alle, die dir widersprechen oder nicht mit dir übereinstimmen.

7. Leute zu denunzieren und auszuschließen ist immer gut. Achte darauf, daß deine Clique so exklusiv und klein wie möglich bleibt, aber betrachte es als Selbstverständlichkeit, dass alle Welt mit deiner Arbeit bestens vertraut ist, selbst wenn es in Wahrheit nicht mehr als eine Handvoll Leute sind.

8. Entwendung/Détournement : Nimm eine Schere, schneide dir einen Comic aus der Zeitung („Bigbeatland” aus der Jungle World ist bestens, zur Not geht auch „Strizz“ aus der FAZ oder „Touché“ aus der taz) und schreibe was anderes in die Sprechblasen. Spare dabei nicht mit situationistischem Vokabular. Was ein Spaß!

9. Übe dich in der marxistischen Umkehrtechnik. Das ist eine bombensichere Methode, die Leute mit der Nase darauf zu stoßen, daß du ein Situationist bist oder begierig darauf, einer zu werden. Sag’: „Die Irrationalität des Spektakels spektakularisiert die Ratio“, oder, noch besser, sag’ : „Die getrennte Produktion ist die Produktion der Trennung.“

10. Beschwöre so oft wie möglich „die Klasse“ und die Fabrik. Schrecke vor keiner Arbeitertümlerei zurück, aber tu’ dich unter keinen Umständen wirklich mit Proleten zusammen (einige für Situationisten akzeptable Jobs sind Student, Lehrer, Professor, Künstler).

11. Vermeide um jeden Preis solch ätzend proletarische Accesoires wie die allerneueste Baseballkappe à la Michael Moore, Che Guevara-Shirts, Garfield- oder Snoopyposter oder Underdog-Zigaretten wie HB, Reval oder Rothhändle.

Nachbemerkung des Übersetzers: Wenn Du nach sieben Tagen noch immer nicht als Situationist auftrumpfen kannst, dann lese die Zeitschrift „Kosmoprolet“ der „Freunde der klassenlosen Gesellschaft“ aus Berlin oder lieber gleich das Buch „Situationistische Revolutionstheorie“ von Biene Baumeister Zwi Negator (Schmetterling–Verlag : Stuttgart 2006), um Dir erklären zu lassen, warum es sich beim dröhnenden Schweigen der Debord & Co. zur Shoa um „Ignoranz“, „Ausblendung“ und „Verdrängung“ gehandelt haben soll, also um „eine sonst so genaue Wahrnehmung, die an dieser Stelle ausfällt“ (Bd. 1, S. 219), und keinesfalls um genaue Absicht. Dann wirst Du auf jeder Party der Held sein. Denn die Linken mögen „Defizite“ über alles auf der Welt, da machen die Situationisten keine Ausnahme. Das löst die Zunge. Urteile dagegen öden sie an.
Joachim Bruhn

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