Teil IV der Artikelreihe: Materialien II. Die ersten drei Teile finden sich hier I II III
Materialistische Kritik ist bisher betrachtet worden als etwas, über das geschrieben wird; das beschrieben, untersucht, eingefordert, propagiert, in polemischer Weise der Theorie gegenübergestellt worden ist. Materialistische Kritik, kurz gesagt, erscheint hier bloss als Theorie materialistischer Kritik.
Entweder stellt man sich vor, dass von solcher Art literarischer Tätigkeit irgendwann, Tätigkeiten anderer Art, aber von derselben Qualität ausgelöst werden; man stellt sich dann die Kritik als historischen Prozess vor, bei dem man aber immer erst am Anfang steht, ohne dass dieser jemals von der Stelle zu kommen scheint; oder aber man müsste gleich an der Aussicht verzweifeln, auf solche Art jemals der Krise näher zu kommen. Es kommt auf eins hinaus.
Diese Lage ist nicht ohne Gefahr. Die Kritik arbeitet mit theoretischen Mitteln; sie richtet sich an Menschen mit Erfahrung in theoretischen Debatten; wenn sie auf dem Niveau ihres Gegenstands bleiben will, werden ihre Äusserungen selbst schwer verständlich. Sie tritt als eine Schule in Konkurrenz zu den verschiedenen Schulen der Theorie. Sie legt sich einen Vorrat an Voraussetzungen zu, der umständlich erklärt und verteidigt werden will; sie wird zuletzt eine Geheimwissenschaft einiger Eingeweihter.
Sie verliert damit einen Teil ihrer Wirkung. Sie wird zwar nach wie vor unter den Schulen die sein, die am meisten von einem gewissen gewittrigen Nimbus umgeben ist; aber ihre Donner sind auf einen eng umschriebenen Umkreis beschränkt.
Sie bedarf zu ihrer Wirksamkeit genau desjenigen intellektuellen Milieus, gegen dessen Selbsttäuschungen sie gerichtet ist, uns sie läuft immer Gefahr, in diesen steckenzubleiben. Sie bildet ihre Instrumente, ja ihre Sprache an den Angewohnheiten dieses Milieus, ihres nächsten Gegners, aus, und wird daran stumpf für die Welt.
Die Forderung an die linken Intellektuellen, durch Kritik die Krise hervorzurufen, verliert sich im Versuch, diese Forderung zu begründen; sie wirbt nicht mehr darum, Kritik zu treiben, sondern um Zustimmung zu der Forderung, dass Kritik getrieben werden müsse; sie wird selbst gegen ihren Willen zu Theorie, nur zu einer, die ihr eigener Gegenstand ist, und zwar genau in dem Masse, in dem ihr Bemühen um die linken Intellektuellen fruchtlos bleibt.
Oder aber man besinnt sich. Denn diese Fruchtlosigkeit, wenn alles bisherige stimmt, müsste doch anzeigen, dass man sich vertan hat. Ist nicht die Hervorrufung der Krise der einzige Anzeiger der Wahrheit der Kritik? Nun wenn bei den Intellektuellen eine solche Krise auf diese Weise nicht hervorgerufen wird, dann ist vielleicht diese Weise der Kritik nicht wahr. Ist sie einmal wahr gewesen, und unwahr geworden? Sie ist vermutlich immer unvollkommen gewesen und wird es auch immer bleiben, aber es ist doch nötig, nachzudenken.
Man ist selbst keineswegs alleiniger Inhaber der Idee, die wir Kritik und Krise nennen. Nur wird sie nicht immer so gründlich wissenschaftliche aufbereitet, abgeleitet und gerechtfertig; in kurzem, sie wird nicht überall, wo sie besteht, zum Gegenstand einer Theorie der Kritik. Die Idee einer Konstellation von Krise und Kritik ist gar nicht kompliziert, sie ist sehr einfach, so einfach wie der Begriff Wahrheit.
So ist es auch ohne eine Theorie verstehbar, und auch von jeher verstanden und getan worden. Kritik ist, derart allgemein betrachtet, etwas sehr verbreitetes und alltägliches, alle treiben sie ständig; aber sie ist natürlich nicht allemal wahr. Wahr aber wird die Kritik nicht dadurch, dass ihr Status und Verhältnis richtig formuliert und begründet ist; so treibts man nur für die Intellektuellen, damit auch die es verstehen. Sie ist auch nicht wahr durch die gute Absicht. Sie ist wahr dadurch, dass sie den Gegenstand trifft, d.h. durch die Krise.
Nicht jede Kritik legt es natürlich auf dieselbe Art Krise an. Revolutionäre Kritik, kommunistische Kritik, materialistische Kritik bedeuten auch nicht dasselbe. Von dem Vorbild Bruno Bauers z.B. ist es deswegen nicht leicht, sich zu lösen, weil er die heute noch gültige Sprache der revolutionären Kritik eigentlich begründet hat; aber die materialistische Kritik wird nie aufhören zu staunen, wieviel sie davon auf der Seite ihrer Gegner finden wird.
Wenn wir also vorerst bloss Wissenschaft von der Kritik treiben müssen, können wir genausogut damit anfangen, dass wir uns ein paar der bisherigen Modelle von Kritik anschauen. Es gibt nicht wenige, und ihre innere Verwandtschaft ist vielleicht geringer, als man glaubt. Der Charakter der Kritik liegt nicht in der Form der Kritik, darin liegt vielmehr ihre Wirklichkeit; der Charakter liegt in dem Adjektiv, das man davorsetzt.
a) Kritik mit praktischen Mitteln: Würzburger Flüchtlingsprotest 2012
Der Protest von 2012 verdient viel ausführlichere Untersuchung, sowohl darüber, wie er zustandekam, wie er verlief und was für Wirkungen er hatte; als auch insbesondere seine erstaunliche katalytische Kraft und aber seine Begrenzungen. Dass über alle diese Dinge viel weniger gesprochen wird, als sie es verdienen, ist vermutlich eine seiner offensichtlichsten Begrenzungen. Denn die realen und weittragenden Folgen, die er gehabt hat, sind sehr weitgehend wieder unsichtbar geworden und werden unter ganz anderen Formen verhandelt, als die, die der Protest für eine kurze Zeit geschafft hat zur Geltung zu bringen.
Im Winter auf 2012 taten sich einige iranische Flüchtlinge, nach dem Suizid des Mohammed Rahsepar, zusammen und begannen, einen Protest zu planen. Nachdem sie bei denjenigen Linken, die die Betreuung der Flüchtlinge zu ihrer Spezialaufgabe gemacht hatten, keinerlei Entgegenkommen fanden, wandten sie sich über merkwürdige Umwege an ihnen völlig unbekannte, darunter einige unsrer Freundinnen und Freunde. Die Proteste, die auf die Weise begannen und zu einem Hungerstreik eskalierten, waren eine Auflehnung gleichzeitig gegen ihre Lage als blosse Objekte des Asylverfahrens, stumme Empfänger der Caritas der Flüchtlingshilfe, und gleichzeitig eine Bekräftigung ihrer politischen Existenz iranische Opposition, und als Teil der revolutionären Weltbewegung.
Der Protest hatte zum unmittelbaren Gegenstand die einzelnen Asylverfahren, darüberhinaus einige der gesetzlichen Vorschriften, unter denen Flüchtlinge zu leiden hatten (und nach der Wiedereinführung der Residenzpflicht einige Jahre später wieder zu leiden haben); aber natürlich griff er, weil der Staat natürlich nur stückweise nachgab, viel weiter aus und zwang dem liberalen und linken Teil der Öffentlichkeit eine viel grundsätzlichere Entscheidung in der Frage auf.
Der Iran selbst ging wieder aus dem Fokus in dem Masse, wie sich andere Flüchtlinge dem Protest anschlossen; dafür entstand eine um so breitere Bewegung sowohl unter den Flüchtlingen als auch unter der Unterstützern, die sie Landschaft auf längere Zeit veränderte. Aber hier musste sich die Bewegung schon damit abfinden, dass sich ihre Resultate mit Dingen mischten, die sie selbst hart bekämpft hatte. Auf dem Flüchtlingskongress 2013 in München hatten Muhammad Khalali und Arash Dosthossein eine ausgearbeitete sogenannte Non-Citizen-Theorie vorgetragen, die den Flüchtlingsprotest fest und materialistisch an die faktische Staatenlosigkeit, an die Kritik des Staatsverhältnisses selbst band, und darüberhinaus an eine Klasse; alle entwickelten bürgerlichen Staaten haben etwas wie das Investorenvisum, die freie Kapitalbewegung unterliegt ganz anderen Regeln als die internationale Bewirtschaftung des Arbeitsmarkts.
Diese Argumentation war entstanden in der Auseinandersetzung mit der sog. Critical Whiteness. Sie ist einstweilen aber wieder spurlos untergegangen, nie schriftlich festgehalten, bisher auch noch nicht verbreitungsfähig rekonstruiert, und völlig in Vergessenheit geraten, auch aufgrund des teilweisen Erfolgs der Bewegung.
Die Ausdrucksform des Protests verdient eigene Beachtung. Sie hat diese bisher nur in den Schriftsätzen der Verwaltungsrechtssachen über die Zulässigkeit dieser Protestmittel gefunden. Die Flüchtlinge wohnten über monate faktisch in einem Zelt in der Fussgängerzone an wechselnden Orten, gleichzeitig Darstellung und Umkehrung ihrer Existenz ohne jede Privatsphäre in einer Kaserne am Rand der Stadt, ausserhalb der Augen der Welt. Das Protestzelt versammelte um sich eine ganze eigene Öffentlichkeit; es schaffte, den Intrigen der Verwaltung standzuhalten, indem es eine breite Sympathie in der Gesellschaft hervorrief.
Für meine Begriffe ist diese Bewegung die einzige wirkliche zu meinen Lebzeiten stattgehabte Form von materialistischer Kritik. Sie verdient die beiden Teile dieser Bezeichnung völlig. Und es war denen, die sie begonnen haben, auch völlig klar; auch ehe Jochen Bruhn, als er einmal in der Stadt war, ihnen etwas ähnliches gesagt hat.
b) Der Strassburger Skandal 1967
Unter Fans der Situationisten bis heute legendär ist der Prank, den einige ihrer Anhänger abzogen, als sie an der Strassburger Universität die Wahl zur Studentenvertretung gewonnen hatten mit dem Versprechen, die Studentenvertretung aufzulösen. Sie liessen von Mustapha Khayati das Pamphlet „Über das Elend im studentischen Milieu“ schreiben, eine klassische, bis heute gültige und völlig zerstörende Kritik; druckten sie sodann auf Kosten der Studentenvertretung u.a. auf sehr teures Papier, und luden zu einer Feierstunde, auf der sie es verteilten. Mit dieser Provokation zwangen sie die Universität, sie zwangsweise zu exmatrikulieren, und zwar mit der irrsinnigen Begründung der Veruntreuung der Mittel der Studentenvertretung. Damit erreichten sie nicht nur, dass das Pamphlet ungeheure Bekanntheit erreichte, sondern im Grunde auch einen schlagenden Beweis seiner Richtigkeit. Der ganze Vorgang musste als ein ungeheurer Aufruf zu völliger und kompromissloser Zurückweisung der Universität und der studentsichen Realität wirken.
Wieviel Anteil das an der Protestbewegung der Studenten im Jahr darauf hatte, ist im einzelnen umstritten, aber es lässt sich zur Not eine fortlaufende Kette persönlicher Kontinuität bis zur Besetzung der Sorbonne beschreiben, und ein wenn auch lockerer kausaler Zusammenhang zu der Fabrikbesetzungsbewegung. Die pro-situationistische Mythologie schreibt der Sache gerne mirakelhafte Qualitäten zu. Aber situationistische Gruppen haben allerhand solche Streiche seither ausprobiert, manche davon sehr gut, wie z.B. die Weihnachtsmannsache der Leute von King Mob; aber eine Revolution hat man damit nicht wieder ausgelöst, soweit bekannt geworden ist, und das hat vielleicht seinen Grund.
Die Situationisten haben solche Dinge manchmal „Konstruktion von Situationen“ genannt, und viel über solche Dinge nachgedacht. Wo die Grenze zur politischen Manipulation ist, ist nicht allgemein zu sagen. Aber über die Situationisten ist noch viel zu sagen; nach dem Mai, mehr noch nach dem Juni, fiel die Gruppe in völlige Lethargie und Selbstzufriedenheit, wurde darüber handlungsunfähig genau in dem Moment, wo ihre Bewegung anfing zu zerfallen. Debord und Sanguinetti waren die nächsten 3 Jahre damit beschäftigt, sie aufzulösen. Im Grunde ist dieses Versagen noch lehrreicher als das schöne Skandalstück; es stellt die Frage nicht nur nach dem Adressaten, sondern nach dem Subjekt der Kritik, und dem Verhältnis zwischen beidem.
Jörg Finkenberger: Nachträgliches über die Situationisten
c) Bruno Bauers Lehrstuhl
Diese Art Skandalpolitik hat ihre Vorgänger unter der literarischen Linken, bei den Surrealisten und den Dadaisten. Aber man kann als vielleicht ersten Vorgänger Bruno Bauer identifizieren. Das Vorbild sind vermutlich die Ereignisse um das Ende der Professur Fichtes in Jena, aber Bauer legte die Sache bewusst an, oder „konstruierte eine Situation“. Er hatte seine Kritik des Neuen Testaments veröffentlicht und bereitete sich vor, seine Religionskritik als eine Kritik des damaligen preussischen Staats zuzuspitzen. Er provozierte kurz gesagt den Entzug seiner Lehrerlaubnis, und schaffte es dabei, das Ministerium, die Landeskirche und alle theologischen Fakultäten des Landes mit hineinzuziehen. Es ging dabei nicht nur mehr um Theologie, Kirchenpolitik, Wissenschaftspolitik, sondern jedenfalls in den Begriffen der junghegelianischen Schule um das Verhältnis der Gesellschaft zum Staat, und seiner eigenen Absicht nach um eine Art jakobinischer Demokratie. In seiner Schrift „Die gute Sache der Freiheit und meine eigene Angelegenheit“ erklärt er nicht nur, wie das zugehen soll, sondern bestimmt als erster die Begriffe Krise und Kritik so, wie wir sie hier benutzen. Man kann darin auch sehen, in welchen Umrissen er sich die Umwälzung dachte, die er auf diese Weise heraufzubeschwören gedachte, und in welchen Begriffen er das Scheitern der Kritik bewältigte. Nach 1848 nimmt die Kritik einer Gesellschaft, die sich nicht entscheiden will, den zentralen Platz in seinen Schriften ein. Die Demokratie, wie er sie sich dachte, hatte sich geweigert zu entstehen, und seine Seele dadurch retten, dass er sich dem Kommunismus anschliesst, wollte er auch nicht. So ging er zur Kreuzzeitung und wurde zu jemandem, auf den Nietzsche oder Schmitt sich berufen, den Koselleck einfach abgeschrieben hat, und den die Linken verleugnen, damit sie seine Fehler immer neu machen können.
Bruno Bauer: Die gute Sache der Freiheit und meine eigene Angelegenheit (Auszug)
d) Schlegels Begriff von Kritik
Wenn man schon bei den literarischen Wurzeln des Kritikbegriffs ist, muss man auf Fritz Schlegel eingehen. Er hat, ehe von Frühromantik überhaupt einer Sprach, in seinem „Lyceum“, danach weiter im „Athenäum“ eine ganze Reihe sehr fortgeschrittener Begriffe verfolgt, unter anderem den einer Kritik, die in einer Verbesserung und Überbietung besteht. Diesen Begriff hatte er aus seiner Arbeit über die Homerische Frage, wo er die Enstehung der Epen aus einem kollektiven Prozess des Weiterbaus, vermittelt durch die Kritik der einzelnen Rhapsoden vorstellte: eine schöpferische, umschaffende, weiterbauende Kritik, die den Gegensatz von Kunst und Wissenschaft, und die Spaltung der Gesellschaft, überwindet. Die Kritik des Romans, schreibt er, kann nur selbst wieder ein Roman sein, und ähnliche bizarre Paradoxien; aber es ist ihm immer bewusst, dass es sich bei diesen Ideen um Beiträge zur Gründung der Gesellschaft handelt. Der frieie Weiterbau am gemeinsamen Werk, den diese Kritik stiften soll, ist nicht bloss auf die Kunst beschränkt gedacht.
e) Kritik der Spaltung in geistiger und körperlicher Arbeit
Was vorhin über die materialistische Kritik gesagt war, muss auch umgekehrt betrachtet werden. Unter Intellektuellen besteht ja die erste Aufgabe der materialsitischen Kritik wirklich in dem undankbaren Geschäft, ihnen die intellektuellen Flausen wieder auszutreiben, z.B. die Berufskrankheit, sich erst alles vernünftig zu denken, d.h. sich jeden Sinn für die wirkliche Unvernunft abzutrainieren; im Grunde ist das immer noch Idealismus, d.h. der typische Intellektuellenaberglaube, dass bloss weil sie sich primär mit dem Geist auf die Welt beziehen, dann der Geist auch das innere Prinzip dieser Welt sei.
Die Kritik dieses Unsinns ist nicht nur unvollendet, gerade weil Marx soviel Mist darüber geschrieben hat. Der „junge Marx“ ist das ideale Versteck für allerhand linken Idealismus, und Lukacs und der Hegel-Marxismus haben das ganze nocheinmal philosophisch geadelt. Ausserdem wird jeder linke Intellektuelle quasi als Idealist geboren, die Arbeit ist also wirklich niemals beendigt. Jochen Bruhn hat das zu Recht als die erste Aufgabe der materialistischen Kritik bezeichnet, als Selbstkritik der Intellektuellen, ohne die so etwas wie Materialismus gar nicht bestehen kann. Sie ist gleichzeitig eine Kritik der Form Politik, wie sie eine Kritik der Form Theorie ist.
Politik in ihrer klassischen, d.h. durch der Verwüstungen, die sie angerichtet hat, zur ehrwürdigen Tradition geheiligten Form ist z.B. die Idee der Leninisten, dass die Organisation des Proletariats natürlich zustande kommen muss dadurch, dass erst Intellektuelle aus der Bürgerklasse einspringen und diese Organisation, zu der das Proletariat es natürlich nie und nimmer selbst bringen kann, substituieren; ein des Abbe Sieyes würdiges Staatsphilosophem.
Die Altvorderen unserer Schule waren zu Recht erbarmungslos in ihrem Beharren, dass das Geklapper von Theorie und Praxis sich immer und überall auf das von Klasse an sich und für sich reimt, und dass unfehlbar dahinter die Aufgabe der Intellektuellen herausspringt, die Vermittlung zu vollbringen, d.h. den Staat zu gründen. Die Denunziation dieses Irrsinns wird natürlich die Frage gestellt bekommen: wie sonst? Und sie hat sich diese Frage auch zu stellen. Bloss weil vermöge der Partei die Klasse an sich niemals zur Klasse für sich wird, heisst das ja lange nicht, dass sie es wird vermöge der Kritik der Partei.
Diese Stelle kann mit den Mitteln der bloss theoretischen Kritik zwar beschrieben, aber nicht überwunden werden. Die bloss theoretische Kritik hat hier entweder die Waffen zu strecken, oder sich ein historisches Beispiel zu nehmen. Die Situationisten, hatten eine ähnliche Kritik der Spaltung am Start, die sie als gute Schüler des Castoriadis zu einer sogenannten Kritik der Trennungen ausgearbeitet hatten; derjenigen Trennungen nämlich, die dafür sorgen, dass in der Republik des Markts z.B. nicht gesprochen werden kann über die Despotie der Fabrik. Es kann überhaupt nicht mehr über wirkliche Erfahrungen gesprochen werden, und aufgrund wirklicher Erfahrungen gehandelt werden, sondern nur unter der Form der Politik; d.h. vermittelt über die zuständigen Instanzen, z.B. der Gewerkschaft. Das bloss alltägliche, d.h. wirkliche Leben ist unwichtig, d.h. Privatsache, aus der nie etwas folgt.
Die Situationisten hatten einerseits völlig Recht, indem sie die Dinge beim richtigen Namen benannten. Sie hatten aber andererseits völlig Unrecht, indem sie sie nur dem Namen nach kannten. In dem selben Moment, als sie den Laden dichtmachen mussten, machten ganz andere Leute aber ihren Laden erst auf und legten eine wirkliche Kritik des alltäglichen Lebens und eine wirkliche Kritik der Trennungen vor, d.h. eine, die nicht nur eine theoretisch begründete Forderung nach einer solchen ist, sondern die eine wirklich praktische Kritik auch auszulösen im Stande war, nämlich Shulamith Firestone, Katie Sarahcild und die Women’s Liberation Front.
Die blosse Kritik der Form Politik ersetzt nicht die wirkliche Kritik der Gesellschaft, sie ist sogar unvollständig ohne diese. Sie ist nur in einem bestimmten Bereich ihre Voraussetzung, nämlich unter den Intellektuellen. Aber unter diesen tendiert sie dazu, zu einer Frage davon zu werden, was Intellektuelle im Verein mit anderen Intellektuellen tun sollen; d.h. sie tendiert zum Rückfall.
Näheres: Nachträgliches über die Situationisten, Sackgasse der Suversion, Buchbesprechung: Revolutionärer Feminismus
f) Das Einstehen des Lebens für die Wahrheit der Kritik
Namentlich in Bruhns Schriften über die RAF findet sich öfter der Gedanken, dass der Revolutionär mit seinem Leben für die Wahrheit der Revolutionären Kritik einstehe. „So ich dies sage, muss ich aufrührisch sein; wohlhin!“, heisst es bei Thomas Müntzer. Immer daneben findet sich allerdings auch eine skeptische Ambivalenz gegenüber solchem „Existenzialismus“.
Die Wahrheit der Kritik wird natürlich nicht durch die Bereitschaft, sein Leben dafür dranzusetzen, erwiesen. Es haben ja allerhand Leute so etwas getan, ohne dass man bereit wäre, ihrer Sache dafür Recht zu geben. Trotzdem scheint es ein Grundsatz in der Geschichte aller revolutionären Kritik zu sein, dass der Kritiker von der Wahrheit der Kritik sagen wir es allgemein: keinen persönlichen Vorteil für sich erhofft, sondern einen mehr oder weniger grossen Nachteil in Kauf nimmt. Ist das der Kritik innerlich oder äusserlich? Hat das eher mit der Wahrheit zu tun, oder eher mit der Bereitschaft der Leute, einem zuzuhören, wenn man nicht offensichtlich als Anwalt in eigener Sache auftritt?
Beides kann wahr sein. Im Naturzustand, sagt die Spieltheorie, wo es keine judikative Instanz gibt, die jemanden an seiner Willenserklärung festhalten kann, ist die einzige Möglichkeit, glaubwürdige Erklärungen abzugeben, die, dass man für diese Erklärung Nachteile auf sich nimmt, d.h. durch diese Erklärung sich an die Erklärung bindet (costly signalling; siehe dazu Diego Gambetta, Codes of the Underworld.). Die revolutionäre Kritik, könnte man sagen, befindet sich natürlich mit ihrem Gegner im Naturzustand.
Auf der anderen Seite zitieren dann Leute Schmitt und sagen: Der Souverän ist das, was das Opfer des Lebens verlangen kann. Auch das ist ein gültiger Einwand. Zu Ende geführt kann das Problem hier nicht werden. Es wird vermutlich noch viel mehr dazu zu sagen sein. Zu dem Zusammenhang, in dem Bruhns Texte zur RAF stehen, empfehle ich, mit unsern heutigen Augen von Karl-Heinz Roth „Die historische Bedeutung der RAF“ zu lesen. Sind wir mit dem Standpunkt, der dort vertreten wird, im Moment schon fertig? D.h. können wir benennen, was genau daran falsch ist, wo doch einiges daran (womöglich in denselben Sätzen) anscheinend wahr ist?
Karl Heinz Roth: Zur historischen Bedeutung der RAF
Jochen Bruhn: Der Untergang der Roten Armee Fraktion