Bonanno war ein Ehrenmann

Ich tue das hier nur, weil ich eine nennenswerte Trauer um eine der wichtigsten Ikonen der europäischen insurrektionalistischen Szene in den letzten Tagen nicht wahrgenommen habe. Vielleicht habe ich auch nicht unter jedem Stein nachgeschaut, die wahren Aufständischen meiden bekanntlich das Internet und ähnliches Teufelszeug. Vielleicht bin ich einfach zu alt dafür, und weiß nicht mehr unter welchen Steinen sich die Aufständischen in meiner Gegend verstecken. Andererseits ist der italienischstämmige Bonanno als politisches Kind nicht einmal der 80er, sondern der späten 70er Jahre nach einem bewegten Leben voller Banküberfälle, Flucht und Knastaufenthalte am 6. Dezember 2023 mit 86 Jahren gestorben. Vielleicht soll ich einfach weniger Zeit im Internet verbringen und mich öfter in den Tumult des echten Lebens begeben.

Die Aufständischen haben bei aller erklärten Lieben zur revolutionären Praxis eine sehr breit gefächerte Literatur entwickelt, die sehr ernst und solidarisch auf internationaler Ebene betrieben wird. Darin wird – ich erlaube mir ein apokryphes Zitat aus interner Thier-Diskussion – „jeder brennenden Mülltonne eine Broschüre gewidmet“. Über die Insu-Literatur muss man nämlich folgendes feststellen: sie beerbt m.E. offensichtlich die Literatur der Situationisten. Diese wussten einst, dass niemand sich marxologisches Geschwafel freiwillig reinzieht und das Geschwafel in erster Linie für die Zwecke seiner Produktion und nicht zum Lesen produziert und publiziert wird. Daher ihre blumige Sprache, aber im Hintergrund stets das sich sichere marxistische Wissen um den Warenfetischismus in der Nachkriegsgesellschaft. Im ebenfalls sicheren Wissen, dass noch niemand auf die Barrikaden gegangen ist, weil er/sie in einem Marxlesekreis die Kategorien der politischen Ökonomie auseinander zu klamüsern lernte (eher umgekehrt), übernahmen sie die Ausdrucksweise der Agitation – und sonst nichts. Die einfühlsamen, aber gleichzeitig sehr wässrigen Pamphlete sind vielleicht noch nachzulesen auf den kollektiv um 2010-2012 eingegangenen Blogs und Seiten wie „Unruhen“, „An die Waisen des Existierenden“ oder wie sie alle hießen.

Alfredo Bonanno war nicht so. Er war tatsächlich einer, der den sich umwälzenden Kapitalismus und seinen Staat der Jahrhundertwende unter dem Aspekt ihrer revolutionärer Abschaffung zu analysieren versuchte. Solche Schriften, weil sie gleichzeitig als Handlungsanweisungen gemeint waren, altern nicht besonders gut. (Wir wissen zumindest, dass die Staatsanwaltschaft Bonannos Schriften durchaus zu schätzen wusste: für „Armed Joy“ musste er für eineinhalb Jahre in den Knast). Immerhin, denn außer Autobiographien wie z.B. von Lucio Urtubia oder Victor Serge hat die Insu-Literatur sonst nicht viel interessantes zu bieten. Von allem, was ich von Bonanno gelesen habe, bleiben aber für immer die Worte über mögliche Konsequenzen einer (anti)politischen Intervention aus „Anarchistische Spannung“ in Erinnerung, über die wir Jungspunde vor vielen Jahren uns die Ärsche abgelacht haben: „Ich weiß es nicht, das kann man nicht wissen, niemand kann das wissen“. Wir waren über seine Texte frustriert, kann man so sagen. Das sind sehr wahre Worte übrigens! Wer es anders behauptet, belügt sich selbst oder manipuliert seine/ihre Gefährten.

Ich weiß aber, dass die Aufständischen sehr ehrlich und offen mit den Missständen der eigenen Szene und in der Linken allgemein umgehen. Ich weiß allerdings auch, dass die proklamierte Einheit der Theorie und Praxis, wo das Gedachte unmittelbar zum Getanen und das Vollbrachte direkt zum Gedachten werden soll, ein Sprungbrett in die Regression und Abschottung der Gruppe bildet, aus der die gesellschaftliche Realität, die nicht so will, wie man sie haben möchte, bestraft werden soll. „Warum wir eure Nächte in Brand stecken“ erklärt es nicht den Herrschenden, sondern den Schlafschafen, den fellow sheeple, die sich von blumigen Flugis nicht überzeugen ließen. Die meist lausige subkulturelle pseudo-revolutionäre Praxis lässt sich im Nachhinein eins zu eins vertheoretisieren zum Chaos der (willkürlichen) Zerstörung ist, mit dem man experimentieren“ wollte, wie es Dezember 2021 nach einem Krawall in Leipzig-Ost hieß.

Je älter ich werde, desto mehr verstehe ich, warum die altmodischen Anarchisten wie Ricardo Flores Magon oder Gustav Landauer unter der Revolution immer auch „Regeneration“ meinten. Vielleicht ist es nur ein Altersdingens. Oder auch nicht. „Niemand kann das wissen“. Darüber vielleicht mehr zu einer anderen Zeit und an einer anderer Stelle.

Alfredo Maria Bonanno war ein Ehrenmann.

– ndejra

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