Buchbesprechung: Geschichte, Grundsätze und Zukunft der Genossenschaften

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A
– Wilhelm Kaltenborn, Schein und Wirklichkeit. Genossenschaften und Genossenschaftsverbände, eine kritische Auseinandersetzung. Verlag Das neue Berlin, oO, oJ
– Wilhelm Kaltenborn, Vision und Wirklichkeit. Beiträge zur Idee und Geschichte von Genossenschaften, Verlad Das neue Berlin, o.O., o.J.
B
– Helmut Faust, Geschichte der Genossenschaftsbewegung, Ursprung und Aufbruch der Genossenschaftsbewegung in England, Frankreich und Deutschland und ihre weitere Entwicklung im deutschen Sprachraum, 3.Auflage, Fritz Knapp Verlag, Frankfurt a.M 1977
– Erwin Hasselmann, Geschichte der deutschen Konsumgenossenschaften, Franz Knapp Verlag, Frankfurt a.M. 1971
C
– Clemens Schimmele, Zur Organisation demokratischer Unternehmen. Eine Studie erfolgreicher Produktivgenossenschaften in den USA, Springer-Gabler, o.O. (Wiesbaden) 2019
– Jürgen Daviter, Volkmar Gessner, Armin Höland, Selbstverwaltungswirtschaft. Gegen Wirtschaft und Recht? Rechtliche und ökonomische Problembetrachtungen, AJZ Verlag, Bielefeld 1987
– Achim von Loesch (Hg.), Selbstverwaltete Betriebe, Neue genossenschaftliche und gemeinwirtschaftliche Unternehmen? Überblick und Beurteilung, Zeitschrift für öffentliche und gemeinwirtschaftliche Unternehmen, zugleich Organ der Gesellschaft für öffentliche Wirtschaft und Gemeinwirtschaft, Beiheft 10, 1988, Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden
– Heinz Bierbaum, Marlo Riege (Hg.), Die neue Genossenschaftsbewegung. Initiativen in der BRD und in Westeuropa, VSA, Hamburg 1985
D
– Karl Grünewald, Über die Zusammenarbeit zwischen landwirtschaftlichen Genossenschaften und Konsumgenossenschaften. Entwickung, Stand, Möglichkeiten und Grenzen, Verlag der Raiffeisendruckerei G.m.b.H., Neuwied am Rhein 1953
– Rudolf Hertl, Gedanken zur Zusammenarbeit von Konsumgenossenschaften und landwirtschaftlichen Genossenschaften, Zeitschr. f. d. ges. Genossenschaftswesen 1/1960, 28 ff.
– Gerhard Glöy, Stand und Entwicklungstendenzen intergenossenschaftlicher Beziehungen. Eine Analyse der Möglichkeit warenwirtschaftlicher Zusammenarbeit von Agrargenossenschaften und Genossenschaften des Einzelhandels und der Verbrauchern, Springer Fachmedien, Wiesbaden 1969 (Forschungsberichte des Landes Nordrhein-Westfalen Nr. 2037)
E
– Gunther Aschoff, Eckart Bennigsen, Das deutsche Genossenschaftswesen, Entwicklung, Struktur, wirtschaftliches Potential, Veröffentlichungen der DG Bank Band 15, Fritz Knapp Verlag, Frankfurt a.M. 1995
– Juhani Laurinkari, Genossenschaftswesen. Hand- und Lehrbuch, R. Oldenbourg Verlag, München u. Wien 1990

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Die Geschichte des modernen Genossenschaftswesens ist in Deutschland heute kaum bekannt. Diese Behauptung kann man ohne Schwierigkeiten wagen. Denn eine solche Geschichte ist praktisch nicht geschrieben worden, Kaltenborn, Schein u. W., 84 ff. Was gechrieben worden ist, ist eine Geschichte des genossenschaftlichen Verbandswesen, und zwar geschrieben von dem und für das Verbandswesen, die auch nur von dem Verbandswesen, seinen Bilanzen und seinen Anführern handelt.

Diese Anführer sind der Reihe nach zuerst halbwegs charismatische Gründer, danach begabte Buchhalter und zuletzt mittelmässige Manager gewesen; und natürlich spiegelt sich auch in dieser Entwicklung die Geschichte des Genossenschaftswesens, wenn auch in einem sehr trüben Spiegel, nämlich im Spiegel seiner allmählichen Integration in die kapitalistische Gesellschaft.

Das genossenschaftliche Verbandswesen ist in dieser Entwicklung immer intransparenter, nahezu undurchschaubar geworden, Kaltenborn ebd. 286 ff.). Im selben Mass hat sich eine Führungsschicht gebildet, die sich mehr oder minder selbst wählt; Kaltenborn, dessen beide Arbeiten vor allem zum Einstieg sehr zu empfehlen sind, sieht sich an einer schönen Stelle zu einem Vergleich mit der SED oder dem Internationalen Olympischen Kommittee veranlasst, Schein u. W. 310 ff; erstaunliche Beispiele auch ebd. 126 ff am Beispiel der Satzung der Volksbank Berlin.

Der einfache Sachverhalt, dass Genossenschaften einmal gegründet worden sind, um eine gegebene Lage zu verändern, ist in Vergessenheit geraten, Kaltenborn ebd. 94 f. Seit den späten 1970ern hat die Alternativbewegung eine Reihe von kooperativen Formen versucht wiederzuentdecken, aber eine Erneuerung des Genossenschaftswesens hat sie nicht bewirkt und konnte sie nicht bewirken. Die in den 1980ern gar nicht so seltenen Versuche, in der Krise der frühen 1980er insolvente Betriebe durch die Belegschaft weiterzuführen, haben weder von ihr noch von sonst jemandem wirksame Unterstützung erhalten und sind folgenlos geblieben bis auf die Literatur.

Die Literatur, die aus dieser Zeit hinterlassen ist, ist unterschiedlich interessant oder relevant; das meiste schwankt zwischen allerhand partizipativen Managementmethoden, die einen beim ersten Überfliegen schon misstrauisch machen sollten; Vergleichen mit der sogenannten Arbeiterselbstverwaltung in Jugoslawien, was einen noch misstrauischer machen sollten; völlig verständnisloser Kritik durch Leute wie Achim Loesch, den Chefideologen der sogenannten Gemeinwirtschaft, der stattdessen viele lobende Worte z.B. über die Neue Heimat gefunden hat, was einen ebenfalls misstrauisch machen sollte; allerhand ökologischem und alternativem, von dem man gut genug weiss, was daraus geworden ist; oder, bei der Linken, grundsätzlich positiver Bewertung z.B. durch Bierbaum, aber ohne dass der Versuch gemacht wird, auf Geschichte und Grundsätze der Genossenschaften neuere Gedanken zu verwenden. Dazwischen finden sich selten auch weiterführende Dinge, die man herausklauben muss.

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Erklärt sich das Erstarren, die Entpolitisierung, das gesunkene Interesse am Ende vielleicht damit, dass die Genossenschaften ihre Ziele im wesentlichen erreicht haben? Die moderne Genossenschaftsbewegung beginnt 1843 mit der Gründung der Genossenschaft von Rochdale bei Manchester. (Sie besteht tatsächlich, nach einigen Fusionen seit 1991, immer noch, als The Co-operative Group; wenn auch der Hauptsitz auch seit 2007 nicht mehr Rochdale ist, sondern Manchester.) Die legendären Equitable Pioneers, angeblich 28 an der Zahl, sind mit einem weitgespannten Veränderungsprogramm angetreten. Man kann kaum sagen, dass irgendetwas davon erreicht ist.

Die gute Leute waren zum einen Teil chartistische Revolutionäre und zum anderen owenitische Sozialisten. Sie lebten im grössten Industriebezirk ihrer Zeit, mitten in einer Phase gewaltiger revolutionärer Agitation. Die chartistische Bewegung drang in Britannien in dieser Zeit um 1842 in die entlegensten Dörfer vor; eine Bewegung dieser Art hat man auch seitdem nicht mehr gesehen, sie richtete sich gegen die Lage der Arbeiter auf dem Land und in der Stadt, gegen die Fabrikanten und gegen die Landherren, und sie riss alle unteren Gesellschaftsklassen mit sich. Sie predigte und probierte als erste den Generalstreik; Sie war der radikalisierte Nachläufer einer bürgerlichen Parlamentsreform-Bewegung; aber ihre Verfassungsänderung lief auf den Sturz der besitzenden Klassen hinaus.

Die Anhänger Robert Owens waren frühe Sozialisten der entschieden modern-industriellen Art. Owen war selbst einer der Pioniere der modernen kapitalistischen Textilindustrie gewesen, hatte dann in New Lanark einige genossenschaftliche Experimente begonnen und wurde später einer der bekanntesten sozialistischen Propheten; Marx zitiert zustimmend sein Konzept der Arbeitszeitrechnung. Die Oweniten unterschieden sich von den anderen Fraktionen der frühen Arbeiterbewegung durch einen charakteristischen Zug: sie sahen genauso klar wie die aufständischen Ludditen, dass die neue Produktionsweise auf die völlige Zerstörung der ganzen alten Gesellschaft hinauslief. Sie sahen das aber ohne Bedauern; sie hatten vor, auf deren Trümmern eine neue zu errichten.

Es ging den Pionieren von Rochdale darum, eine ökonomische Form für eine solche neue Gesellschaft zu finden; und zwar eine, die sich schon unter den bestehenden Verhältnissen bewährt. Einen Gegensatz von „Reform“ und „Revolution“ kannten sie nicht; es war ihnen klar, dass eine politische Revolution nötig war, aber ebenso klar war ihnen, dass die politische Revolution kein bisschen das Problem löst, wie die neue Gesellschaft aufgebaut werden muss. Und umgekehrt, keine politische Macht wird der Effizienz und Dynamik der kapitalistischen Formen standhalten, wenn nicht neue ökonomischen Formen bestehen, die diese Effizienz und Dynamik in sich aufnehmen können.

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Die genossenschaftsgeschichtliche Literatur, insbesondere Faust 103 ff. und Hasselmann 21 ff., hat über Rochdale ganz respektable Kapitel, aber die Gedankenwelt dieser Leute und die revolutionäre Gärung der Welt, in der sie lebten, steht ihnen nicht besonders nahe. Interessanterweise hat Faust 73 ff. mehr von diesem Hintergrund eingefangen als der Sozialdemokrat Hasselmann 32 ff. in seinen Kopf hineinbringen konnte, der ganz unwillkürlich versucht, die Sache auf einen langweiligen Reformismus herunterzubringen.

Der Plan der Rochdaler Genossenschaft fängt mit einem Genossenschaftsladen an; aus dessen Erträgen sollte dann genossenschaftliche Produktionsbetriebe gegründet, eine genossenschaftliche Landwirtschaft betrieben, genossenschaftliche Wohnungen gebaut, und zuletzt zu einer genossenschaftlichen Gemeinschaftssiedlung fortgeschritten werden, Faust 105. Sie ist also nicht etwa einfach eine Konsumgenossenschaft, sondern ist als ein Komplex von Genossenschaften angelegt, und enthält alle Formen des Genossenschaftswesens in sich, die in der späteren Entwicklung als getrennte Formen auseinandergetreten sind.

Die Grundsätze der Genossenschaftsbewegung gehen meistens auf die Prinzipien von Rochdale zurück, auch wenn in beiden Fällen keine Einigkeit darüber besteht, welche Grundsätze das genau sind und wieviele, Hasselmann 21 ff.; Schätzungen gehen von drei bis fünfzehn. Faust hat 109 f. folgende Grundsätze:

1. Demokratisch (ein Erbe des Chartismus), 2. offen für neue Mitglieder, 3. begrenzte Verzinsung der Einlage, ein Grundsatz Owens, 4. Rückvergütung nach Umsatz, ein älterer Grundsatz aus der Praxis, 5. Bildung unteilbaren Vermögens, eine eigene Idee, 6. Barzahlung, 7. unverfälschte Ware mit vollem Gewicht; daneben 8. politische und religiöse Neutralität. Hasselmann hat 22 noch die Förderung der Bildung und Erziehung, auch ein owenitischer Grundsatz, und 28 einen „Grundsatz des „Wachstums durch gegenseitige zwischengenossenschaftliche Zusammenarbeit“, den die Rochdaler zwar nicht proklamiert, aber praktiziert haben. Als Ergänzung zur Rückvergütung nennt Holyoake, bei Hasselmann 76, den Verkauf zu Tagespreisen als „wesentlichen Charakterzug“.

Diese Grundsätze sind nicht aus einem theoretischen Begriff abgeleitet, sondern aus der Praxis; es hat ausser den Rochdalern vorher und nachher noch etliche Versuche gegeben mit ganz anderen Prinzipien, von denen die meisten eingegangen sind. Hasselmann hat 13 ff und 43 ff. viele Beipiele . Was funktioniert hat, ist übriggeblieben; so sind diese Grundsätze zusammengelaufen.

Vorstellen muss man sich die Funktionsweise also wie folgt: Der Genossenschaftsladen verkauft „zu Tagespreisen“ an Mitglieder wie Nichtmitglieder, also nicht etwa billiger an die Mitglieder. Er hebt sich von der Konkurrenz zunächst vor allem dadurch ab, dass er nach Möglichkeit keine krass verfälschten Produkte verkauft und auch nicht beim Gewicht bescheisst. (Das war damals reell genug.)

Von dem Überschuss werden zunächst die Geschäftsanteile der Mitglieder zu einem niedrigen Zinssatz verzinst, etwa so wie Kommunalobligationen. Der Rest wird aufgeteilt, der eine Teil wird den Mitgliedern als Rückvergütung ausgereicht nach dem Mass des Umsatzes, den sie im Jahr gemacht hatten. Der andere Teil wird in Eigenkapital verwandelt. Diese Aufteilung muss von den Genossen natürlich irgendwann beschlossen werden.

Die Rückvergütung kann abgehoben werden, sie kann aber auch liegengelassen werden oder auf den Geschäftsanteil geschlagen. Der Konsumverein funktioniert hier auch als Sparverein. Im ersteren Fall erhöht sich das Eigenkapital; im zweiten Fall nimmt der Verein praktisch Fremdkapital bei seinen Mitgliedern auf. Die Kapitalbilanz ist also dreigeteilt: das in Geschäftsanteile aufgeteilte Eigenkapital, gebildet aus den Einlagen; zweitens das unteilbare Eigenkapital, das im Betrieb bleibt; drittens das bei den Mitgliedern aufgenommene Fremdkapital aus stehengelassener Rückvergütung, das entweder wie ein Giroguthaben fungieren, oder auf den Geschäftsanteil eingezahlt werden kann (wenn Verluste gemacht werden, muss das letztere ohnehin geschehen).

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Die oben genannten Grundsätze sind, wie gesagt, nicht abschliessend, sind aber mehr oder weniger unverändert in den Statuten des Internationalen Genossenschaftsbundes genannt, Überblick bei Hasselmann 21 ff. Es sind aber daneben noch zuweilen andere aufgekommen, die Beachtung verdienen und die in verschiedenen Gestalten immer wieder auftauchen.

In Deutschland z.B. entsteht um 1850 der erste Konsumverein, der aber alsbald untergegangen ist, Hasselmann 68 ff.; er kannte z.B. weder unteilbares Kapital noch die Rückvergütung noch den Verkauf zu Tagespreisen, sondern verkaufte zu vergünstigten Preisen. Das machte ihn zum Hassobjekt des gewerblichen Mittelstands der Stadt, die ihm die Behörden auf den Hals hetzten. Seine politische Herkunft aus einem Ortsverein der verbotenen „Arbeiterverbrüderung“ machte das einfacher. Immerhin hat der bekannte Schulze, genannt Schulze-Delitzsch, von ihm den Grundsatz der Solidarhaftung genommen.

Überhaupt soll, zitiert Kaltenborn aus der zeitgenössischen Literatur einen „Augen- und Ohrenzeugen der Berliner Bewegung der vierziger Jahre“, „der Goldarbeiter Biski“ von der berliner Arbeiterverbrüderung der eigentliche Gründer, Schulze dagegen „vollständig die Kopie Biskis“ gewesen sei, Schein u.W. 27; wenn aus diesem Urteil nicht vielleicht doch eher Parteineid spricht. Schulze und die ihm nahestehende liberale Arbeiterbewegung haben sich unbestreitbar Verdienste erworben. In den 1850ern waren es hauptsächlich ihre Leute, die die Formen der englischen Arbeiterbewegung in Deutschland bekannter gemacht haben, namentlich Hirsch aus Magdeburg, dessen „Briefe aus England“ in Franz Dunckers „Volkszeitung“ abgedruckt werden; diese beiden haben dem ersten Gewerkschaftsverband den Namen gegeben, dem sogenannten Hirsch-Dunckerschen. Bis zu seiner Niederlage in dem von ihm geführten waldenburger Streik 1869 war das die vorherrschende Organisation. Die sozialdemokratischen Gewerkschaften haben ihn dafür kritisiert, zu sozialfriedlich und gemässigt zu sein; aber was die hirsch-dunckerschen Gewerkschaften wirklich getan haben, sieht auch nicht viel anders aus, als was später die sozialdemokratischen gemacht haben, als sie sie beerbt hatten, Kaltenborn, Vision u.W. 245 ff.

Hirsch und Schulze waren es auch, die zuerst die Gedanken aus Rochdale in Deutschland populär gemacht haben, und zwar in einer Zeit, als das allgemeine Experimentieren ausgebrochen war. Sie hatten erprobte Grundsätze anzubieten, und Schulzes „Allgemeiner Verband“ wurde schnell gross und einflussreich. Die Rolle der Verbände ist nicht zu unterschätzen; sie sind die Träger der gegenseitigen Hilfe in der Genossenschaftsbewegung, sie sind dadurch auch die Hüter der genossenschaftlichen Grundsätze. Denn insofern sie der gegenseitigen Hilfe bedürfen, sind die Genossenschaften nicht nur Einrichtungen ihrer Mitglieder, sondern auch Einrichtungen der Genossenschaftsbewegung insgesamt; daher die grosse Bedeutung z.B. der Musterstatuten.

Auch Schulze hatte noch eine ziemlich umfassende Idee von der Genossenschaftsbewegung. Die Genossenschaftsbewegung, sagt er, ist eine Selbsthilfebewegung der arbeitenden Klassen, bei Kaltenborn, Vision u.W. 304; die Konsumvereine sind nur „vorbereitende Genossenschaften“, 395; der strategische Ausgangspunkt, 392; die höchste Form der Genossenschaft ist aber die Produktivgenossenschaft, 331, in der die Arbeiter die Herrschaft über die Produktion gewinnen, und die Klassengesellschaft aufhört.

Ob das auf rein ökonomischem Wege realistisch ist, ist zunächst einmal eine andere Frage, die uns noch begegnen wird. Hier ist nur bemerkenswert, dass die Genossenschaftsbewegung immer noch als eine Einheit, und als eine umfassende gesellschaftsverändernde Befreiungs- und Selbstbefreiungsbewegung gefasst ist. Die Widersprüche dieser Bewegung, und wie es zuging, dass sie in voneinander mehr oder weniger getrennte Zweige zerfiel, sehen wir uns hernach an. Vorher aber noch ein paar Bemerkungen über ein paar andere Traditionslinien der deutschen und der französischen Genossenschaftsbewegung.

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Schulze ist zusammen mit Raiffeisen der erste Begründer der Kreditgenossenschaften gewesen, aus denen die 1971 der gemeinsame Verband der Raiffeisen- und Volksbanken geworden ist. Beide haben es zuerst mit Kreditvereinen versucht, die als Wohltätigkeitsvereine aufgesetzt waren; das heisst als Vereine von wohlhabenden Bürgern, die ärmeren Bürgern aus karitativen Gründen Kredit geben sollten. Beide waren preussische Beamte, die zuweilen versetzt wurden, und haben erlebt, dass die von ihnen an verschiedenen Orten gestifteten Kreditvereine nach ihrem Weggang wieder eingeschlafen sind. Und beide haben daraus den Schluss gezogen, „daß derartige Vereine nur dann lebensfähig sind und bestehen können, wenn sie auf die unbedingte Selbsthilfe gegründet, d.h. nur aus solchen Personen gebildet sind, die der Hilfe persönlich bedürfen“, Raiffeisen bei Faust 335; keine Kredite an Nichtmitglieder, keine Zuwendungen von Nichtmitgliedern, und gemeinsame Haftung der Genossenschaftsmitglieder, Schulze bei Faust 210. Diese letzteren Grundsätze sind später zum Teil wieder aufgegeben worden, das Nichtmitgliedergeschäft ist bei den Konsumvereinen ohnehin ganz anders gelagert, die solidarische Haftung taucht ab und zu unvermutet wieder auf. Der Grundsatz der Selbsthilfe verdient, als allgemeiner Grundsatz behandelt zu werden.

Die landwirtschaftlichen Genossenschaften sind nicht nur als Kreditgenossenschaften, sondern auch als Warenbezugs- und Absatzgenossenschaften konzipiert worden. Zu diesem Zweck hat sich eine charakteristische Dreistufigkeit entwickelt: die regionalen Hauptgenossenschaften, in Bayern die BayWa, in Baden-Württemberg WLZ Raiffeisen, sonst gewöhnlich einfach Raiffeisen-Hauptgenossenschaften genannt, übernehmen für die örtlichen Genossenschaften das Warengeschäft. Einer deutschlandweite Dachorganisation ist seit jeher für das Bankgeschäft erforderlich, heute der Bundesverband der Volks- und Raiffeisenbanken, wo z.B. die gemeinsame Einlagensicherung angesiedelt ist. Früher, als die örtlichen Vereine noch nicht selbst Vollbanken waren, nahm eine genossenschaftliche Generalkasse diese Rolle ein, deren erster Versuch 1913 ruhmlos gescheitert ist, Faust 352 ff. Daneben bestehen Spezialgenossenschaften, ein Erbe des Haas’schen Verbands, des grössten Verbands aus der Linie, die ursprünglich von Raiffeisen herkommt.

Aus dem Warenbezugs- und Absatzgeschäft heraus sind früh Industriebetriebe gegründet oder erworben worden, zuerst für Düngemittel, Faust 373, oder von den Spezialgenossenschaften zur Weiterverarbeitung: Zuckerfabriken, Molkereien, Vieh- und Fleischzentralen wie die neuerdings wiederum ruhmlos untergegangene Südfleisch, Überblick bei Aschoff/Bennigsen 89 ff.

Ehe unter den örtlichen Raiffeisengenossenschaften seit den 1990ern die Fusionen um sich gegriffen haben, wurde auf den Grundsatz der Lokalität grosser Wert gelegt; er war zuerst auch so gedacht, dass das unteilbare Genossenschaftsvermögen ein Ersatz für den untergegangenen Gemeinbesitz der alten Bauerngemeinde sein sollte, an dem gerade die in Not geratenen einen Rückhalt haben sollten, Faust 335. „Der Verein“, wie die Älteren ihn noch genannt haben, war eine notwendige Institution des Dorfes für alle Belange. Wo sonst kann man, wenn man eine Überweisung zur Bank bringt, auch gleich Hundefutter kaufen?

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In Frankreich scheint die Genossenschaftsidee zuerst vor allem von denjenigen unter den Saint-Simonisten verbreitet worden zu sein, die nach der Spaltung der Schule Buchez folgten statt Enfantin. Buchez spielte eine Rolle in den revolutionären Geheimbünden, ehe er 1848 als Hauptmann der Nationalgarde mit seinem Battaillon die Palastwachen entwaffnete; er wird als Gewährsmann für die Unteilbarkeit des Genossenschaftskapitals angeführt, Faust 148, Daviter/Gessner/Höland 117.

Buchez und seine Richtung waren Proponenten der Selbsthilfe, Enfantins Schule solche eines hierarchischen Staatskommunismus. Dazwischen kamen eine Weile Louis Blans Ideen zu Popularität, der eine Position dazwischen versuchte: ein Genossenschaftswesen mit Staatshilfe, in dem der Staat zunächst als „Herr aller Kapitalien, … Souverän der Industrie und … Bankier der Armen“ auftritt, während gleichzeitig das „gouvernmentale“ Prinzip abgelöst wird durch das demokratische, und aus den Arbeitern freie Genossenschafter werden, Faust 155 f.. Eine solche Verwandlung hat noch niemand gesehen, und sie ist wahrscheinlich ganz unmöglich.

Beide Richtungen waren 1848 eine kurze Zeit lang einflussreich, Buchez war immerhin Präsident der Nationalversammlung, Blanc Arbeitsminister, und es sind in dieser Zeit offenbar nicht wenige Genossenschaften oder ähnliches nach verschiedenem Plan gegründet worden, die unterschiedlich schlecht funktioniert haben. Bis zu Franz Oppenheimer und ins 20. Jahrhundert hinein sind diese Daten als Grundlage der Genossenschaftsforschung benutzt worden, meistens ohne Rücksicht darauf, wie verzerrt sie durch die Umstände waren. Insbesondere in Deutschland haben sie die Einstellung der verschiedenen sozialistischen Richtungen geprägt, hauptsächlich aber durch die Gestalt, die sie durch die Polemik Lassalles in den 1860ern gewonnen haben.

Diese Betriebe waren entweder Handwerkergenossenschaften, d.h. eigentlich Gemeinschaftsbetriebe, in denen mehr oder weniger voneinander unabhängige Produzenten sich eine Werkstatt, Werkzeug, Beschaffungs- und Vertriebswege teilten; oder aber es waren wahllos zusammengewürfelte Leute, die vom Staat für öffentliche Arbeiten angeworben worden waren.

Die wirkliche Genossenschaftsbewegung beginnt in Frankreich nach 1863, auch hier beginnend mit Konsumvereinen, die auch hier zuerst als strategischer Ausgangspunkt gedacht waren; aber auch hier sind sie in verschiedene getrennte Zweige getrennt geblieben, Kaltenborn, Vision u.W. 34 ff.

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In Deutschland entzündet sich 1863 eine bittere Polemik zwischen Lassalle und Schulze an der Frage der Selbsthilfe oder Staatshilfe. Diese Frage war schon um 1848 in Frankreich drängend präsent, und sie rührt an mehrere Grundfragen: erstens das Verhältnis zwischen Genossenschaft und allgemeiner Veränderung, zweitens die Frage von dezentraler oder zentraler gesellschaftlicher Organisation; drittens aber an die schon rein kaufmännisch schwierige Frage der Kapitalakquisition.

Der Hauptpunkt an dem Streit waren gerade die Produktivgenossenschaften. Lassalle verwies darauf, dass Schulze diese zwar als die höchste Form der Genossenschaft bezeichnete, und dass er eine „erstaunliche Menge von Assoziationen hervorgerufen“ habe, „aber nicht eine einzige Produktivgenossenschaft, nicht einen Verein für fabrikmäßige Großproduktion“, Faust 243. Die Selbsthilfe reicht hierfür nicht aus. Lassalle fordert stattdessen eine politische Agitation für Staatshilfe bei der Gründung von Produktivgenossenschaften. Diese Hilfe muss kein direkter Zuschuss sein, sinnvoller ist vielleicht eine öffentliche Kreditsanstalt, die Noten oder Anleihen ausgibt. Lassalle vergleicht diese Staatsintervention von der Qualität her zu Recht mit der Unterstützung des Staats z.B. für den Eisenbahnbau.

Aus den arbeitslosen Arbeitern jeder Stadt könnte dann eine Arbeitergenossenschaft gebildet werden, an deren Betrieben die öffentliche Hand eine stille Beteiligung hält. Auf diese Weise liesse sich Eigenkapital bilden. Lassalle rechnet an einer interessanten Stelle vor, dass die Erzeugnisse jedes Gewerbezweigs als Kredit an den von ihm belieferten Gewerbezweig weitergegeben werden können. Das kann man nach Laune entweder als Multiplikatoreffekt verstehen, als gigantische Kreditblase, oder als eine Art von Begriff für eine nicht mehr kapitalistische Wirtschaft nach der Art, wie die Gruppe Internationaler Kommunisten sie später entworfen haben.

Selbstverständlich hat Lassalle Recht; auf dem Wege der Selbsthilfe lässt sich eine Veränderung nicht erreichen. Die mächtigste Konsumvereins-Bewegung der Welt kann nicht soviel Überschuss machen, um das Kapital für eine solche Umgestaltung aufzubringen. Umgekehrt ist aber auch Lassalles Idee nicht wirklich besser. Die Staatsmacht und ihr Kredit als Garanten für eine genossenschaftliche Industrie, die dann entweder marktwirtschaftlich unkoordiniert nebeneinander her wirtschaftet, oder wahrscheinlicher unter die sehr direkte Fuchtel des Staats gerät; denn ob der Staat, der nach Belieben Gesetze macht, sich auf die Rolle des stillen Teilhabers beschränkt, wird man sich fragen können.

Die Internationale Arbeiterassoziation hat ausgesprochen, dass die Befreiung der Arbeiterklasse nur das Werk der Arbeiter selbst sein kann. Der Selbsthilfegedanke im Genossenschaftswesen ist auch davon ein Ausdruck, man mag im übrigen Schulzes Freihändler-Liberalismus kritisieren, wie man will. Das Problem, das Lassalle aufgeworfen hat, ist aber auf keine Weise glatt aufzulösen; auch nicht auf die, die er selbst vorschlägt.

Die Genossenschaften sind noch nicht einmal der Anfang der Befreiung, und die Genossenschaftsbewegung kann auf gar keine Weise soweit vordringen, die benötigte Veränderung herbeizuführen. Aber die Genossenschaftsbewegung ist unverzichtbar als lebendes Zeugnis der Kooperation, als Beispiel für ihre Möglichkeiten und ihre Grenzen. Diese Grenzen können nicht durch einen Staatsakt überwunden werden oder durch einen ökonomischen Zauberstreich.

Und selbst wenn über Nacht oder nach langwierigem Aufbau alle Wirtschaft oder der grösste Teil davon auf genossenschaftliche Basis übergegangen wäre, schlügen sich die Genossenschaften doch immer noch in den alten Formen herum, mit Eigenkapital, Fremdkapital, Rendite, Preis, Arbeitslohn usw.; sie wären immer noch nicht Organe der Gesellschaft, sondern nur die ihrer eignen Mitglieder. Eine Kooperation höherer Ordnung, die diese Wirtschaft ersetzt, ist aus diesen Formen heraus selbst nicht von alleine zu bekommen. Lassalle ahnt richtig, dass dazu die Präsenz und das Handeln der Gesellschaft im Ganzen nötig ist; aber er bleibt bei dem stehen, was er für ihren Stellvertreter hält, dem Staat.

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Gehen wir weiter, zunächst in der deutschen Entwicklung. Die Genossenschaftsbewegung ist, trotz aller Absichten, ein sehr grosser Bau, von dem nur einzelne Flügel fertiggestellt worden sind, die unverbunden nebeneinanderstehen; und aus denen man nur einen unvollkommenen Eindruck bekommt davon, wie das 19. Jahrhundert sich die neue Gesellschaft gedacht hat. Die Welt, die wir stattdessen haben und die niemand so gewollt hat, kennen wir dagegen.

Die Produktivgenossenschaften, um die sich begrifflich alles dreht, sind nie zustande gekommen; den gewerblichen und landwirtschaftlichen Genossenschaften sieht man sehr bald gar nicht mehr an, dass sie einmal Teil einer gemeinsamen Klassenbewegung waren, sie dienen zum Hilfsmittel der selbständigen Existenz der kleinen Bürger und Bauern und zur Befestigung ihrer Klasseninteressen. Einen nahen Bezug zur Arbeiterbewegung haben sich vor allem die Konsumvereine bewahrt, sogar mehr als die später aufgetretenen Wohnungsgenossenschaften.

Die Konsumvereine sind in Deutschland seit den 1860ern von Pfeiffer propagiert worden, Faust 456 ff, Hasselmann 145 ff., der sie zuerst in einem selbständigen Verband organisiert hat; seine Bewegung stand den Ideen von Rochdale sehr viel näher als Schulzes Allgemeiner Verband, schon deswegen, weil seine Mitgliedschaft sich hauptsächlich unter den Arbeitervereinen fand. Er schliesst sich später doch dem Allgemeinen Verband an.

Interessanterweise entfaltet sich jetzt erst, auf dem Boden der Verbandseinheit der (nichtagrarischen) Genossenschaften, der Konflikt zwischen den gewerblichen Genossenschaften des Kleinbürgertums und den Konsumgenossenschaften. Die vorderste Front bilden die neuen Genossenschaften der Einzelhändler, aus denen später Edeka und Rewe geworden sind; aber auch z.B. die Handwerker sehen sich von den Konsumgenossenschaften genauso bedroht wie von der modernen Produktionsweise, ja sie sehen in ihnen deren Vorhut. In derselben Zeit, nach 1870, beginnt erst der grosse Aufschwung des deutschen Kapitalismus.

Im unteren Mittelstand sind die Genossenschaften als ein Mittel genutzt worden, seine selbständige Existenz zu unterstützen; nicht als ein Weg, zu einer gemeinschaftlichen Grossproduktion zu kommen. Diese Idee Schulzes ist eine Idee geblieben. In der Grossproduktion blieb die grosse kapitalistischen Produktion das tätige Element, gegen das die deklassierten kleinen Produzenten sich verbissen wehren; sie versuchen nicht, es zu überholen. Der Spirit der Oweniten ist ohne Nachfolger geblieben.

Der Konflikt eskalierte ab 1890 und führte 1902 zum Bruch, Faust 465 ff, Hasselmann 273 ff. Die Konsumvereine organisierten sich wieder selbständig, als Zentralverband deutscher Konsumvereine. In diese Phase fällt nicht nur das schnelle Wachstum der Konsumvereinsbewegung, sondern auch die Hinwendung der Sozialdemokratie zu ihr, die bisher aus lassalleanischen Gründen die Genossenschaften grundsätzlich abgelehnt hatten, Hasselmann 245 ff. Natürlich führt das nicht etwa zu einem Wiedererstehen der Gedanken von Rochdale; wir hatten anderswo gesehen, dass um dieselbe Zeit die Sozialdemokratie ein ganz anderes Ideal ihres „Sozialismus“ findet als die genossenschaftliche Organisation der Arbeiter, nämlich das staatlich gelenkte General-Kartell.

Hasselmanns Einschätzung ist vielleicht zu früh angesetzt, und verwechselt den Willen der Arbeiterschaft mit dem der SPD: „Die Produktivgenossenschaften spielten damals keine Rolle mehr. Die Zeit, in der die Arbeiterschaft ihre Hoffnungen auf die Produktivgenossenschaften setzte, war vorüber… einige von ihnen gingen in der Großeinkaufs-Gesellschaft deutscher Consumvereine auf“, 290. Aber die grundsätzliche Beobachtung ist richtig, dass der Gedanke der Produktivgenossenschaft in dem Mass zurückgedrängt wurde, in dem die kapitalistische Grossproduktion wirklich vorherrschend wurde. Richtig genug jedenfalls, um sie sehr ernst zu nehmen und näher zu betrachten.

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Franz Oppenheimer hat bekanntlich die Produktivgenossenschaftsidee einer fürchterlichen und lange nachwirkenden Kritik unterzogen. Weniger bekannt ist, dass er stattdessen eine andere Genossenschaftsform als den Schlussstein der Genossenschaftsbewegung betrachtete, nämlich die landwirtschaftliche Siedlungsgenossenschaft. Er hat mit dieser Idee interessante Vorgänger. Zum einen z.B. Viktor Aimé Huber, Faust 48 f.; zum anderen lassen sich die Rochdaler Ideen selbst auch so verstehen.

Auf Oppenheimers Kritik ist schon anderswo eingegangen worden; die Produktivgenossenschaften funktionieren nicht, wie er sagt, am besten bei handwerksähnlicher Arbeit und niedrigem Grad der betrieblichen Arbeitsteilung. Sie prägen auf dieser Stufe im Gegenteil nur unvollkommen ihre genossenschaftliche Charakteristik aus und leiden dann eben weniger an typisch genossenschaftlichen Problemen. Wir glauben z.B., dass die genossenschaftliche Form erst bei fortgeschrittener Arbeitsteilung wirklich funktioniert, sogar von Vorteil ist. Oppenheimer hat auch nicht den Versuch gemacht, bei den von ihm untersuchten gescheiterten Genossenschaften zu fragen, welche Merkmale ihrer Verfassung das Scheitern begünstigt haben, Schimmele 125 ff.. Auch von den frühen Konsumvereinen sind die meisten eingegangen, ehe durch Versuch und Irrtum sich ein funktionierender Grundtyp herausgebildet hat.

Vollständige Teilbarkeit des Eigenkapitals z.B. ist ein Anreiz für Genossen, auszusteigen, d.h. „Kasse zu machen“ und sich ggf. selbständig zu machen; gerade bei handwerksnaher Arbeit, und gerade bei erfolgreichen Unternehmungen. Hohe Verzinsung der Einlagen schafft einen Interessengegensatz zwischen Gründern und Neueingetretenen, der zu genau dem Effekt führen kann, den Oppenheimer „Abschliessung“ oder „Absperrung“ der Genossenschaft nennt, dass nämlich Arbeitnehmer angestellt statt neu aufgenommen werden und sich das ganze zu einer Kapitalgesellschaft zurückentwickelt, Nutzinger 35 ff., 42 f. m.w.N.. Das beim genossenschaftlichen Grundtypus gefundene System aus Einlage, ungeteiltem Kapital, Rückvergütung, Geschäft zu Tagespreisen usw. hat seinen Grund, und es ist nicht vom Himmel gefallen.

Oppenheimer führt zwei rein ökonomische Gründe auf, Absatzmangel und Kapitalmangel, die eigentlich beide derselbe Grund sind, der Absatzmangel eine Folge des Kapitalmangels, so dass man auf das bekannte Problem der Staatshilfe zurückgeworfen ist, oder sich eine andere Kapitalquelle suchen muss,

In der Literatur der 1980er finden wir zwei verschiedene Hinweise. Daviter/Gessner/Höland, Selbstverwaltungswirtschaft, diskutieren verschiedene Formen der Finanzierung und öffentlichen Förderung. Man kann zur Staatshilfe prinzipiell stehen wie man will, aber der nüchterne Gedanke ist schwer abzuwenden, wieso man ohne Subvention konkurrieren soll in Branchen, die ansonsten in den Genuss von Subventionen kommen. Die dort ausgebreiteten Ideen, z.B. ein Haftungs- bzw. Bürgschaftsfond oder ein rotierender Förderfonds, sind interessant, 46 ff. Sie sind allerdings nicht direkt eigenkapitalwirksam.

Nutzinger 35 ff. verweist auf die genossenschaftliche Unternehmensgruppe Mondragon, eine jesuitische Gründung aus dem Baskenland, die zum siebtgrössten Unternehmen Spaniens geworden ist, wenn man die Nachricht glauben kann. Man muss das keineswegs für den Himmel auf Erden halten, und besonders operaistisch scheint es mir dort nicht zuzugehen. Die Einlagen sind recht hoch, und werden nach Beginn des Eintritts in den Betrieb ratenweise mit dem Lohn abbezahlt; nach dem Ruhestand werden sie gewöhnlich als Betriebsrente behalten. Die Einlagen bei einer Genossenschaft werden von den anderen Genossenschaften als gleichrangig anerkannt; Wechsel innerhalb der Gruppe sind häufig, ohne dass die Anteile übertragen werden. Die Rechte sind, das ist Nutzingers Hauptpunkt, klar abgegrenzt; in den Betrieben eine Stimme haben nur die, die dort arbeiten; für die anderen ist ihr Einlagenschein eine stille Einlage, sie haben eine Verzinsung wie bei einem mündelsicheren Wertpapier zu erwarten, d.h. eher gering, aber relativ sicher. Die Grösse des Unternehmens bringt es mit sich, dass grössere Teile der Bevölkerung Interessen an diesem Unternehmen halten; die klare Abgrenzung der Befugnisse macht es also möglich, bedeutend mehr Eigenkapital aufzunehmen, als man bei den eignen Arbeitern aufnehmen könnte.

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Oppenheimers Arbeiten verdienen trotzdem Beachtung. Seine Nähe zur Bodenreform- und Siedlungsbewegung lässt ihn öfter einen klareren Blick auf die Probleme der Landfrage und der agrarischen Angelegenheiten haben. Alles Gerede von Sozialisten wie Liberalen über die Produktivgenossenschaft als höchste Form usw. haben immer auch davon abgelenkt, dass man von der Primärproduktion genausowenig verstand wie von der Umgestaltung der Siedlungsform, die eine neue Gesellschaft mit sich bringen muss.

Die Wohnungsbaugenossenschaften sind wieder nur ein abgetrennter Arm dieser grösseren Konzeption. Sie sind dennoch eine bedeutende Realität, hierzu Faust 504 ff. In der Bewegung, die zu diesen führte, sieht man dieselben Bruchlinien: soll es darum gehen, den Bau von Eigenheimen genossenschaftlich zu finanzieren, oder soll genossenschaftliches Eigentum geschaffen werden, dass die Genossen mietweise nutzen? Soll nicht stattdessen lieber öffentlich finanzierter Wohnraum entstehen? Die erste Frage beantwortete sich durch die Praxis: der Eigenheimbau ist eigentlich eine Sache der Bausparkassen. Das gemischte Modell, in dem die Mitglieder die Wohnungen zu Eigentum erwerben konnte, entfaltete nicht die richtige Attraktivität. Und der gemeinwirtschaftliche Wohnungsbau der 1920er, der kommunale und der gewerkschaftliche, musste neben die genossenschaftlichen Unternehmen treten, weil der genossenschaftlich geschaffene Wohnraum für die ärmeren Arbeiter nicht zu bezahlen war.

Das führt uns zu dem schönen Begriff der Gemeinwirtschaft und zu den späteren Debatten, was die Genossenschaften eigentlich sollen, nachdem der Genossenschaftsbewegung eine grundlegende Veränderung nicht gelungen war. Ihre grösseren und kleineren Zweige stehen rätselhaft über die Wirtschaftszweige verteilt, wie Endmoränen eines lange verschwundenen Gletschers; höchstens, dass immer einmal ganze Zweige davon untergehen. Eine besondere Berufung scheinen sie nicht mehr zu haben, sie setzen ihren grössten Ehrgeiz darin, genauso zu funktionieren wie andere Anbieter auch.

Die Konsumgenossenschaften haben in den 1950ern, parallel zum Rest des sozialdemokratischen Spektrums, sich des Rests von Rochdaler Ideen, den sie zu Festtagen noch zu beschwören pflegten, entledigt und stattdessen herausgefunden, dass sie eine Einrichtung der freien Gemeinwirtschaft seien. Gemeinwirtschaft war seit den 1920ern die Formel für eine sozialistische Politik, die keinen Anspruch mehr hatte, die kapitalistische Ordnung abzuschaffen oder zu ersetzen, sondern wahlweise „Inseln“ oder „Sektoren“ aus ihr herauszunehmen, um von diesen aus im Sinne der gesamtgesellschaftlichen „Mitbestimmung“ behutsam Einfluss aufs Wirtschaftsleben zu nehmen. Genaueres, nämlich wozu und weshalb, habe ich nicht gefunden.

In den 1950ern traten dazu eine „innere Umstellung“ und „Erweiterung des Gesichtskreises“ und „neue Gedanken über die Aufgabe der Konsumgenossenschaftsbewegung als Ganzes“, Hasselmann 578, und zwar zeitgleich mit einem Gesetz von 1954, das den Genossenschaften die Kapitalbildung auf dem Weg der Rückvergütung abschnitt. Die Genossenschaften haben sich entschieden, das hinzunehmen; so, wie die Gewerkschaften das BetrVG und die Rechtsprechung des BAG akzeptiert haben, statt zu kämpfen und notfalls unterzugehen. Stattdessen haben die Konsumgenossenschaften rationalisiert und später ihre Umwandlung in den Co-op-Konzern betrieben, 563 ff, 686 ff., der dann eineinhalb Jahrzehnte später an der Reihe was, ruhmlos unterzugehen .Die „Erweiterung des Gesichtskreises“ führte zuletzt so weit, dass Walter Hesselbach erklärte, es gäbe zunehmende Kovergenz zwischen den gewinnorientieren und den gemeinwirtschaftlichen Unternehmen, so dass zuletzt kaum noch ein Unterschied zu erkennen sei, 619 f., und das ist buchstäblich wahr, auch wenn er es allen Ernstes andersherum gemeint hat, als wir es spontan verstehen.

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Man kann die Frage konkret stellen: wenn die Grosseinkaufs-Zentrale der deutschen Konsumgenossenschaften eine Hochsee-Fischfangflotte gründet, die dann aber die gefangenen Fische ordnungsgemäss über das gemeinsame Absatzunternehmen der deutschen Hochsee-Fischerei verkauft, u.a. an die Grosseinkaufs-Zentrale selbst und zu den gewöhnlichen Preisen, dann ist das kaufmännisch gesehen vor allen Dingen unsinnig, Hasselmann 605.

Wenn die süddeutsche Verwertungsgenossenschaft der Fleischerzeuger in den 1960ern Schlachthöfe kauft und daraus die Südfleisch GmbH macht, die ihren Mitgliedern die Schweine abkauft und dann das Fleisch vermarktet, dann ist es kaufmännisch entweder möglich, dass die Südfleisch ihnen gute Preise macht, oder gute Gewinne und damit Rückvergütungen, aber auf lange Sicht nicht beides; sie kann vielleicht dem Aufsichtsrat lange genug vormachen, dass beides geht, aber irgendwann ist es dann vielleicht vorbei. (Es gibt Leute, die sagen, dass es bei der Südfleisch so gewesen ist.)

Die sogenannte Vorwärts- oder Rückwärtsintegration durch genossenschaftliche Eigenproduktion hat zwei mögliche Ausprägungen. Entweder soll sie regulierend ins Marktgeschehen eingreifen, was nur geht, wenn sie gross ist. Das heisst, sie wirkt über die Konkurrenz, indem sie teurer kauft oder billiger verkauft und die anderen zwingt, es genauso zu tun. Das kann nach hinten losgehen, wenn man einen hart umkämpften Markt hat mit Konkurrenz, die die Rücklagen hat, einen zu ruinieren. (Es gibt Leute, die sagen, dass es bei der co-op so gewesen ist.)

Oder aber die Sache läuft darauf hinaus, für die eignen Mitglieder – Verbraucher oder Erzeuger – einen Teil des Gewinns abzuschöpfen, der bei der Verarbeitung oder dem Zwischenhandel gemacht wird. Dann ist es eigentlich ein Vermögensbildungsprogramm für Nebeneinkünfte. Das sind die beiden Wege. Jede Vermischung von beidem ist gefährlich. Man kann das alles meinetwegen Gemeinwirtschaft nennen, wenn man will, aber man kann kaum jemanden zwingen, sich unter diesem Wort dann noch etwas sinnvolles denken zu können.

Nehmen wir die Milchbauern. Die Genossenschaftsquote bei Milchprodukten ist höher als bei jedem anderen landwirtschaftlichen Produkt, und trotzdem waren vor ein paar Jahren alle geschockt, wie wenig in Cent vom verkauften Liter Milch bei den Milchbauern landet. Oder die Wohnungsbaugenossenschaften, in vielen Städten zusammengenommen die grössten Vermieter, sind dennoch nicht in der Lage, wirklich regulierend auf den Mietpreis Einfluss zu nehmen.

Die Genossenschaften haben unbestreitbare Verdienste beim Aufstieg ganzer Schichten aus dem direkten Elend, sie haben ganze Generationen von Arbeitern und Bauern unterstützt und geprägt, aber anscheinend schwindet ihr Nutzen ab einem gewissen Niveau von allgemeinem Wohlstand. Hasselmann hat 636 ff. treffliche Erwägungen über die neue Konsumgesellschaft: „die Verkaufsfachleute suchten dabei nicht nur die Ware als solche zu verkaufen. sie verkauften Schönheit, Gesundheit und andere immaterielle Werte, vor allem aber gesellschaftliches Ansehen – mit der Ware, durch die Ware.“ Eine „Gesellschaft des Spektakels“ ist seine Arbeit trotzdem nicht geworden. Aber über den Gebrauchswert der Genossenschaften wird man trotzdem noch anders nachdenken müssen.

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Betrachten wir die Sache einmal von der ganz anderen Seite. Es gab immer Überlegungen über eine Zusammenarbeit zwischen den landwirtschaftlichen Genossenschaften der Erzeuger und den Konsumgenossenschaften. Es ist aber nie wirklich etwas daraus geworden. Warum eigentlich?

Man kann über die Frage z.B. drei Arbeiten lesen, von Glöy 1969, von Hertl 1956, uns von Grünewald 1953. Die späteste sagt: es gibt da eigentlich nichts zu machen, es gibt da keine gemeinsamen Interessen, die einen verkaufen zu teuer, die anderen kaufen zu billig. Die mittlere sagt: ja also irgendwelche Synergieeffekt gibt es da vielleicht schon. Die älteste hat als einzige erstens eine historische Übersicht über solche Versuche und zweitens eine ökonomische Analyse, wann so etwas geht und wann nicht. An dieser Reihenfolge schon allein ist das Schwinden des Interesses daran mit fortschreitendem Wirtschaftswunder messbar.

Dieser letztere Grünewald bricht die Frage zwar herunter auf die klassische Frage Schutzzoll und Freihandel, und untersucht die wirtschaftspolitischen Auffassungen der verschiedenen Branchen, so dass es sehr so aussieht wie die Agitation um die britischen Korngesetze der 1840er. Aber hinter dem Schlagwort „Freihandel“ versteckt sich wesentlich mehr als eine bestimmte Regulierungsweise.

„Je lohnender sich aber bei völliger oder teilweiser Liberalisierung des Außenhandels die Einfuhr ausländischer Produkte gestaltet, um so geringer wird der Anreiz und die Notwendigkeit, die benötigten landwirtschaftlichen Produkte aus dem Inland und speziell im zwischengenossenschaftlichen Direktverkehr zu beziehen“, Grünewald 67.

Man muss sich einmal die Frage stellen, warum importierte Agrargüter anscheinend immer billiger sind als einheimisch produzierte. Es liegt daran, dass man in einem kapitalistischen Industrieland lebt. Den teueren Ausfuhren dieser Industrie entsprechen billige Einfuhren aller anderen Branchen. Unter der weltweiten Vorherrschaft der kapitalistischen Industrie läuft das auf eine dauerhafte Herabdrückung z.B. der Primärproduktion hinaus. Und in Perioden der Prosperität und des Freihandels heisst das nicht nur Herabdrückung der nicht industriell entwickelten Länder, sondern auch der einheimischen Agrarproduktion.

Wie lässt sich festmachen, was hier umständlich „Herabdrückung“ genannt worden ist? In ähnlichen Fällen greifen Ökonomen, wenn es ein anderes objektives Mass nicht gibt, zur Arbeitsstunde als Mass; auch wenn ihre Doktrinen, anders als unsere, es ihnen eigentlich verbieten. Betrachten wir vereinfacht Industrie und Landwirtschaft als zwei Branchen, deren Produkte sich austauschen, dann sehen wir, dass dieser Austausch sehr ungleich ablaufen wird, was die im Produkt verkörperten Arbeitsstunden betrifft.

Marxisten könnten, wenn sie nur wollten, das als eine Wirkung der kapitalistischen Preisbildung begreifen, aber meistens missverstehen sie die entsprechenden Ausführungen in Bd. III des „Kapital“ als eine sogenannte „Transformationsformel“, die natürlich nur hellen Unsinn produziert, und lassen sie dann liegen. Richtig verstanden steht da die Vermutung, dass eine prosperierende kapitalistische Industrie dadurch funktioniert, und deswegen deutlich andere Gewinne macht als frühere Industrien, weil es ihr gelingt, auf Kosten anderer Branchen und anderer Länder zu akkumulieren. Die ungleiche Bewertung der Arbeitsstunde in den verschiednen Branchen und Ländern ist direkte Folge dieser Art Preisbildung, und charakteristisches Zeichen dieser Art von Akkumulation.

Die genossenschaftlichen Blütenträume von einem verschiedne Branchen umspannenden Genossenschaftssektor als Beginn einer neuen Wirtschaftsordnung sind deshalb immer in den Phasen gescheitert, in denen die kapitalistische Exportwirtschaft expandiert ist, und sie werden realer immer in den Zeiten der Krisen, „kriegerischer Verwicklungen, Einfuhrverboten“ usw., 65.

In demselben Mass, in dem die kapitalistischen Exporte gestiegen sind und schliesslich die Handelsbilanz beherrschten, hat die Genossenschaftsbewegung dieses ursprüngliche Ziel, eine Kooperation von Genossenschaften, aus den Augen verloren und ersetzt durch Vorwärts- und Rückwärtsintegration der Lieferketten, so dass sie gegenseitig in Konkurrenz zueinander geraten, 86 ff. Die Genossenschaften der Rübenbauern könnten eine Zuckerfabrik betreiben wollen, und auch die Konsumgenossenschaften könnten eine haben wollen; aber es wird wahrscheinlich nicht dieselbe Zuckerfabrik sein, und sie wird wahrscheinlich nicht als Produktivgenossenschaft verfasst sein. Denn beide Seiten werden vernünftigerweise versuchen, den Gewinn der Zwischengewerbes (als Rückvergütung) zu realisieren. An den grundlegenden Verhältnissen, in denen ihre Mitglieder leben und wirtschaften müssen, ist damit gar nichts geändert.

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In den Phasen allerdings, in denen diese Wirtschaftsordnung in der Krise ist, könnte man meinen, schlägt wieder die Stunde der Kooperation. Im selben Mass, wie die industriellen Exportüberschüsse zurückgehen, verteuern sich die Importe und damit die Agrargüter, die Lebenshaltungskosten steigen usw.

Man kann sich das lebhaft vor Augen führen, wenn man sich vorstellt, heute nach den Rochdaler Grundsätzen eine Genossenschaftsbewegung neuaufzubauen. Zuerst wird man finden, dass man mit einem Genossenschaftsladen keinerlei Überschüsse machen wird; im Gegenteil sind alle Läden vergleichbarer Grösse in den letzten 30 Jahren untergegangen. Der Einzelhandel ist anscheinend in dauerhaftem Preiskampf, seine Handelsspanne ist nur durch den Skaleneffekt seiner Marktmacht und seines ungeheuren logistischen Apparats aufrechtzuerhalten. Dagegen wird man nicht konkurrieren. Die älteren Konsumgenossenschaften selbst sind davon ruiniert worden. (In der Schweiz z.B. sind sie zu einem von zwei markführenden Konzerne entartet, das ist nicht viel besser.)

Ohne Überschüsse wird man auch die mässige Verzinsung der Einlagen nicht leisten können; an Rückvergütung ist gar nicht zu denken. Man wird weder Mitglieder finden noch Kapital aufbringen können. Für die wenigen noch übrigen Konsumgenossenschaften rät Kaltenborn zur Spezialisierung: seine Nische finden, um zu überleben, Vision u. W. 238 f. Kaltenborn weiss, wovon er redet, er war lange Vorsitzender des Aufsichtsrats der Zentralkonsum e.G.

Eine solche Genossenschaft wird dann nicht mit den Discountern konkurrieren, sondern vielleicht mit den Bio-Ketten, aber sie wird gleichzeitig in Revieren sich herumtreiben, wo auch die „Solidarische Landwirtschaft“ und verschiedene Bio-Direktvermarkter ihr Glück suchen. Es ist da einigermassen eng, und auf die Idee, aus den Gewinnen einen genossenschaftlichen Sektor aufzubauen, wird niemand kommen. Geschweige, dass die Kundschaft grossen wirtschaftlichen Leidensdruck hat. Es handelt sich um Leute, die gerne Dinge kaufen, auf denen „fair“ steht, aber die Mühe haben, sich vorzustellen, was das heisst.

Die Kundschaft, die schlechter steht, wird erst mal sehn, was Penny hat; die Bauern beklagen sich natürlich, dass sie nur einen Cent für den Liter Milch kriegen, und man könnte auf den Gedanken kommen, da auch den middle man herauszuschneiden; aber Milch will ja verarbeitet werden, wie wäre es mit einer genossenschaftlichen Molkerei? Die gibt es natürlich, und auch die verkaufen ja aus Gründen an die Discounter.

Die Bauern, die auf Bio umgestellt haben, tun das, weil sie höhere Preise erwarten; wenn das mehr Bauern tun, werden diese Preise einfach verfallen, und dieselbe Zahl wird es wieder aufgeben. Eine „Agrarwende“ unter diesen Umständen ist ohnehin eine lächerliche Idee. Über den Arbeitskräftebedarf und die Löhne reden wir lieber gar nicht erst. Man kann es drehn und wenden, wie man will, unter den jetzigen Bedingungen geht gar nichts. Es ist wie verhext, alles steht auf dem Kopf, und von den Dingen, die im früheren Kapitalismus gegolten haben, scheint nichts mehr wahr zu sein. Aber es ist einfach nur das Ergebnis derselben Entwicklung.

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Schauen wir uns an, wie eine Periode aussehen würde, wo die Sachen andersherum laufen. Es besteht ja der Verdacht, dass es jedenfalls in Deutschland mit der Industrie erst einmal ein Stück abwärts gehen wird. Die Lebensmittelpreise sind etwas gestiegen. Und zwar geht das nicht nur in den Import, sondern auch die einheimischen Erzeugerpreise scheinen vorsichtig steigen zu wollen. Bisher hat man es nur mit einem Effekt der gestiegenen Energiepreise zu tun, der vorübergehend sein könnte; aber es gibt strukturelle Gründe, die Krise beim Autobau usw., die längerfristig wirken werden.

In solchen Zeiten, sagt Grünewald, macht es Sinn, wenn Erzeuger- und Verbrauchergenossenschaften eng zusammenarbeiten. Dazu müsste es erst einmal wieder Verbrauchergenossenschaften geben. In Westdeutschland sind diese ja in den 1960ern zu einem Konzern umgegründet worden, der dann untergegangen ist; die letzten Reste sind in unseren Tagen an Rewe und Edeka verkauft worden, ironischerweise.

Auch bei steigenden Erzeugerpreisen wird der bekannte „Preiskampf“ der Discounter es eine ganze Weile unmöglich machen, in diesen Markt einzutreten. Dieser Preiskampf muss aber irgendwann ruinös werden und dann aufhören, entweder indem eine der Ketten die andere frisst, oder indem man anderswie versucht, gemeinschaftlich über die Kundschaft herzufallen. In so einer Lage kann eine neue Konsumvereinsbewegung auf einmal sinnvoll sein; ja es kann sogar sinnvoll sein, diese direkt an den lokalen Absatzstrukturen der agrarischen Genossenschaften anzusetzen.

Umgekehrt wird die Industrie, vor allem die Autozulieferer und deren Zulieferer, eine grössere Insolvenzwelle erleben. In den 1980ern, als aus verschiedenen Gründen eine ähnliche Welle auf eine noch halbwegs gut aufgestellte Gewerkschaftsbewegung traf, gab es bei dieser Gelegenheit eine eindrucksvolle Welle von Betriebsbesetzungen und Fortführungsversuchen durch die Belegschaft. Die Literatur aus der Zeit kennt eine erstaunliche Fülle von Beispielen, z.B. Daviter u.a. 193 ff..

Dass die wenigsten solcher Versuche zum Erfolg führten, hatte Gründe u.a. im Desinteresse der Gewerkschaften, im damals geltenden Konkursrecht, und im völligen Fehlen von Strukturen, die solche Versuche unterstützen konnten, Daviter u.a. 204 ff. Das Interesse am Genossenschaftswesen hat danach in den 1980ern zwar stark zugenommen, aber es ist seither wieder genauso stark zurückgegangen. Das heutige Insolvenzrecht ist nicht mehr so fortführungsfeindlich wie früher, aber es gibt nach wie vor keine direkt vorgezeichnete Beteiligung der Belegschaft und keinerlei Hilfe bei den Steinen, die im Weg liegen.

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Man kann ruhige einmal rein ins Blaue hinein aufzählen, was es für eine solche Entwicklung bräuchte. Fürs erste hat man vielleicht drei, vier Verrückte, die sich entlegene Literatur reinzerren. Damit kann man anfangen. Aber es muss alsbald dazu kommen, dass ein breiterer Austausch in den interessierten Kreisen stattfindet.

Für die Frage der Krisenbetriebe gibt es einige wenige versprengte Ökonomen, Gewerkschafter und sonst Aktive, die sich zum Teil schon kennen. Den Kreis sollte man erweitern. Man sollte ruhig Leute dazunehmen, die sich mit den anderen Zweigen der Genossenschaftsbewegung und den Branchen, in denen sie arbeiten, auskennen. Auf die politische Konfession kommt es weniger an.

Lohnenswert wäre, gleich zuerst ein Konzept für einen rotierenden Fonds oder einen Haftungsfonds unter den heutigen Bedingungen zu entwickeln: Gründungshilfen für Genossenschaften, entweder als Fremdkapital, das dann nach Rückzahlung an weitere Genossenschaften ausgereicht werden kann; oder als stille Beteiligung, die nach Konsolidierung zurückgefahren werden kann; oder als gegenseitiger Haftungsfond, ein Pool von Bürgschaften, die neugegründeten Genossenschaften die Kapitalaufnahme erleichtert.

Ein solcher Pool könnte sich die gemeinsamen Einlagensicherung der Raiffeisen- und Volksbanken als Vorbild nehmen. Er sollte die Grundlage eines Genossenschaftsverbands werden, auch über die erste Gründungsphase hinaus Die gemeinsame Haftung galt jedenfalls im 19. Jahrhundert als so etwas wie ein genossenschaftlicher Grundsatz. Auch die gegenseitige Hilfe zwischen Genossenschaften ist einer; und zwar kein anderer als der Grundsatz der Selbsthilfe auf höherer Ordnung, nämlich zwischen den Genossenschaften.

Es ist vielleicht nicht einfach, aber vielleicht doch lohnen, so sondieren, ob im bestehenden Genossenschaftsbankenwesen Bereitschaft besteht, über die wirkliche Umsetzung und Finanzierung zu reden. Spätestens, wenn regional wichtige Arbeitgeber ins Wackeln kommen, wird die Bereitschaft vielleicht zunehmen. Aber für diesen Fall bräuchte man schon ein paar Pläne, wie so ein Fonds aussehen müsste.

Bei Daviter 73 ff. findet man eine Übersicht über ähnliche Diskussionen aus den 1980ern, davon einiges offensichtliche Abwege; die Idee zur Gründung der Ökobank z.B. gehört m.E. zu diesen Irrwegen. Über die Frage der öffentlichen Förderung schliesslich sollen berufenere als ich nach praktischen Gesichtspunkten entscheiden; ich persönlich teile die Ansicht Schulzes.

Falls die Genossenschaftsbewegung eine nähere Zukunft und eine Berufung noch hat, wird diese Runde anders aussehen als die letzte. Vielleicht ergibt sich, dass vom Schlussstein aus, von den Produktivgenossenschaften, angefangen werden muss; vielleicht stellt sich auch die Zusammenarbeit von Erzeuger- und Verbrauchergenossenschaften nicht am Ende, sondern am Anfang. Viele Fragen aus der Geschichte werden anders wiederkehren als beim letzten Mal, aber es lohnt sich, sie sehr genau zu kennen.

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Eine andere Frage, wo wir beim zwischengenossenschaftlichen Austausch sind. „Landwirtschaftliche Genossenschaften und Verbrauchergenossenschaften haben sich allerdings darüber zu einigen, nach welchen Spielregeln der gemeinschaftlich erwirtschaftete Überschuß aufzuteilen ist. Daß diese Einigung im allgemeinen nicht so sehr durch den Ausgleich der unterschiedlichen Auffassungen der beiden Geschäftspartner erzielt, sondern vor allem von der jeweiligen Marktsituation und Marktposition der beiden Geschäftspartner diktiert wird, wurde bereits berichtet“, Grünewald 85.

Es gibt in der Marktwirtschaft keine objektiven Kriterien, nach denen diese Aufteilung stattfindet. Eine friedlich-schiedliche genossenschaftliche Welt wird es auf diese Weise nicht geben. Man könnte, wie Robert Owen, auf die Idee kommen, dass der Austausch auf lange Sicht nur nach dem Mass der Arbeitszeit durchgeführt werden kann. Die „Gruppe Internationaler Kommunisten“ hat gezeigt, dass dann keine Akkumulation von Überschüssen bei den einzelnen Unternehmen mehr stattfindet; Reproduktion und Erweiterung des Produktionsapparats, die bisher aus der Kapitalrendite getragen werden, liegen dann in der Hand der gesamten Gesellschaft bzw ihrer Gliederungen. Damit verschwindet natürlich der gesamte bürgerliche Rechnungsapparat, mit dem sich eine genossenschaftliche Wirtschaft bisher behilft. Für Kommunisten ist es von Interesse, ob eine solche Umschaltung auf dem Boden einer genossenschaftlichen Wirtschaft erleichtert oder sogar überhaupt möglich ist.

Gewöhnlich, und richtigerweise, arbeiten die Genossenschaften untereinander zu Tagespreisen, d.h. zu den Marktpreisen, die man sonst auch hat. Es würde nicht gut ausgehen, davon abzuweichen. Etwas anderes kann gelten, wenn man sich eine Ökonomie denkt, die einen bestimmten genossenschaftlichen Organisationsgrad überschritten hat. Die Tagespreise sind dann zu einem bestimmten Grad künstlich, d.h. sie sind selbst von der Marktmacht des genossenschaftlichen Sektors geprägt, der aber so tut, als übernimmt er sie bei von den anderen Akteuren. Das System würde irrarional und instabil. Es kann einen Punkt geben, wo der Übergang zu einem anderen System naheliegt.

Ein Umschalten auf Arbeitszeitrechnung, die in solchen Umständen stabiler wäre, würde mit einem Schlag die Kategorien Eigenkapital, Rendite usw. abschaffen. Stehen dem nicht Interessen entgegen, die wir mit dem Lob auf das Modell von Mondragon selbst in das Gedankenspiel hineinbeschworen haben? Die ganzen Ruheständler, Witwen und Waisen und alle möglichen Einrichtungen, deren Erspartes in einer Genossenschaftseinlage steckt, womöglich der halbe Landkreis?

Denken wir uns den genossenschaftlichen Verbund wirklich als eine Haftungsgemeinschaft, das die einzelne Genossenschaft als eine, das ihre selbständige Existenz vor allem dieser Haftungsgemeinschaft verdankt; dann liefe die Umschaltung auf Arbeitszeitrechnung darauf hinaus, dass alle diese Interessen sich an den Genossenschaftsverbund zu richten hätten, der dadurch gewissermassen als übergreifende Organisation des gesamten Gemeinwesens konstituiert würde. Eine solche Veränderung der gesellschaftlichen Rechnungsweise ist von der genossenschaftlichen Wirtschaft aus zwar nicht zwingend, aber sie ist auf jeden Fall vorstellbar, und das muss für uns gut genug sein.

Es ist ohnehin nur ein Gedankenexperiment. Weder das Vorherrschen der genossenschaftlichen Betriebsform, noch der Übergang zur Arbeitszeitrechnung werden auf dem allmählichem Wege erreicht werden, sondern nur durch die Eroberung der vorherrschenden kapitalistischen Grossindustrie durch die Arbeiter. Denn nur von den Höhen der Akkumulation aus kann das Grundprinzip dieser Art von Akkumulation beseitigt werden.

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Ein paar abschliessende Worte über die behandelte Literatur. Für Interessierte bis sehr Interessierte sind nur die beiden Bücher von Kaltenborn unverzichtbar, der Rest ist optional. Für die ernsthaft Verrückten ist auch von diesem Rest einiges unverzichtbar.

Kaltenborn hat auch noch eine Reihe ebendfalls empfehlenswerter anderer Bücher. „Illusion und Wirklichkeit“ befasst sich mit dem verzerrten Geschichtsbild der deutschen Genossenschaftsbewegung; „Raiffeisen Anfang und Ende“ mit einem der Gründer der agrarischen Genossenschaften, die ihm um 1876 aber zum allergrössten Teil abtrünnig wurden, unter anderem auch wegen seines wütenden Antisemitismus hochkirchlicher Prägung. Der Verband, der seinen Namen noch trug, ist 1930 pleite gegangen und musste sich von dem ungleich grösseren Haas’schen Verband übernehmen lassen; aber durchgesetzt hat sich in der Folge der Name Raiffeisens, nicht der des Haas, und zwar gar nicht so sehr aus Zufall. Auch „Die Überwältigung“ und „Verdrängte Vergangenheit“ befassen sich mit der Genossenschaftsgeschichte unter dem Nationalsozialismus und danach.

Die Arbeit von Faust ist eine umfangreiche Übersicht über die Geschichte von Ideen, Führungspersonen und Verbänden, aber kaum über die Genossenschaften und ihre Mitglieder; die Arbeit von Hasselmann ist, nach dem Urteil Kaltenborns selbst, Schein u. Wirklichkeit 88 ff., immerhin wirkliche Genossenschaftsgeschichte, aber nur bis 1970. Von der direkt anschliessende Periode des Untergangs der zur Co-op zusammengefassten westdeutschen Konsumgenossenschaften weiss das Buch noch nichts.

Das Buch von Aschoff/Bennigsen ist nahezu unbrauchbar, wenn man nicht zufällig eine trockene und unvollständige Zusammenstellung des Verbandswesens auf dem Stand der 1990er sucht. Die ökonomische Lehrbuchliteratur ist durch Jaurinkari ausreichend vertreten insofern, als das Werk keinen einzigen interessanten Satz enthält.

Die älteren Einzeldarstellungen sind ausgewählte glückliche Funde aus einer sehr viel umfangreicheren und sehr unterschiedlich interessanten Literatur. Sie sind danach ausgewählt, ob die zum Gesamtbegriff, der hier ausgeführt wird, etwas beitragen. Was nichts unverzichbares dazu beiträgt, habe ich nicht angeführt. Es wird wahrscheinlich immer noch unzählige vergleichbare Arbeiten geben, vielleicht sogar wesentlich interessantere. Diese Sachen liegen entweder bei alten Linken in ihren Sammlungen, oder sie liegen in den Universitätsbibliotheken, und werden nie ausgeliehen, und weil niemand etwas von dem Thema versteht, sind sie nach unbeholfenen Begriffen katalogisiert, und es ist eine reine Freude, sie herauszusuchen. Die Beihefte zu den Fachzeitschriften, die absolut trockenste Literatur, die es gibt, hat zum Teil echte Knaller zu bieten.

Das von Bierbaum herausgegebene Buch steht für die vom VSA-Verlag repräsentierte Richtung, die ein aufgeschlossenes Interesse an dem Thema hat, aber wenig selbst dazu beiträgt. Das hebt sie vorteilhaft von dem hochmütigen Desinteresse ab, das wir z.B. bei Achim von Loesch finden; auch wenn dessen Heft auch andere, sehr lesenswerte Beiträge versammelt.

„Selbstverwaltungswirtschaft“ von Daviter u.a. versuchen eine Zusammenschau aus Debatten der Alternativbewegung, über die wir sehr ungünstig urteilen müssen, und Problemen der damaligen Betriebsbesetzungen. Die Arbeit ist oft von grossem historischem Interesse, teils sogar von bleibendem Wert. Einiges darin ist aber auch unnütz, wie bei allem, was in den 1980ern neues gemacht worden ist.

Die Arbeit von Schimmele hatten wir schon anderswo verwendet. Schimmele gehört zu einer neueren Strömung von Forschern, deren Arbeiten wir genau verfolgen und von der wir noch einiges erwarten.

Von einer Aufnahme der älteren Originalschriften, von Holyoake über Schulze und Lassalle bis zu Landauer, ist aus Platzgründen abgesehen worden. Sie sind, soweit nötig, aus der sekundären Literatur zitiert. Sie sind aber nützlich zu lesen; sie lehren, dass es nicht darum geht, zwischen der sauren Ökonomie einerseits und dem sozialistischen Enthusiasmus andererseits zu vermitteln. Es geht darum, wie Fourier in den trockenen Spalten der ersteren die Sphärengesänge des zweiteren zu hören.

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