Es ist gerade in manchen Kreisen viel die Rede von dem Buch „Hinterland“ von Phil A. Neel.
Das Buch kreist um drei Themen. Erstens die Bewegungen, hauptsächlich die im Westen, nach der Krise von 2008, ihre Niederlagen, und was für Schlüsse daraus zu ziehen sind. Zweitens die Krise des Kapitalismus und ihre Folgen. Drittens die Städte als Knotenpunkte der globalen Ökonomie und gleichzeitig als Orte des Ausschlusses. Viertens die Beziehungen dieser Städte zum „Hinterland“, von woher das Buch seinen Namen hat.
Lesenswert gleich zu Anfang die Beschreibung von Seatttle als globales logistisches Zentrum S. 95 ff. und danach der städtischen Zentren und ihrer Veränderung in der neuesten Zeit. Diese Städte sind Orte, an denen Widerstand sich nicht mehr bilden kann; sie haben keine Öffentlichkeit mehr, sondern sind Gebildete einer abgesperrten Öffentlichkeit, Orte des Ausschlusses von Öffentlichkeit.
Die Bevölkerung ist zum allergrössten Teil verbannt in Zonen ausserhalb dieser Zentren, Neel nennt sie das „nahe Hinterland“. Unterschiedliche subalterne Zonen, relativ isoliert, von den Betontürmen am Rand der Städte hinaus in die besiedelten Orte des Umlands.
Weiter draussen liegt das „ferne Hinterland“, die abgehängten Gegenden, in denen Fentanyl und Verzweiflung regieren, S. 17 ff. und der ganze erste Abschnitt. Lesenswert dazu S. 65 ff. über die wiederkehrenden Waldbrände an der amerikanischen Westküste. Deren Ursache liegt darin, dass nach früherem Kahlschlag gleichalter Wald aufgeforstet wurde; nach dem Niedergang der Holzindustrie sind diese Gegenden ungenutzt und kaum bewohnt, zum ersten Mal seit Jahrtausenden, und nur mehr Gegenstand der Waldbrandbekämpfung. Die Waldbrandbekämpfung wiederum hat vor allem zur Folge, dass die nächsten Waldbrände nur um so verheerender werden. Es ist das perfekte Bild einer abgehängten Landschaft, deren Verödung gleichermassen herrührt aus früher Übernutzung und späterer Wertlosigkeit. Sie spielt nur noch eine Rolle dadurch, dass ihre Probleme verwaltet und ebend dadurch immer weiter vergrössert werden.
Durch alle diese Dinge zieht sich wie ein Faden nicht nur die zyklische Krise von 2008, sondern die Dynamik und Krise des Kapitalismus selbst. Für uns unmittelbar interessant sind die Stellen über die Besetzungsbewegungen Anfang der 2010er Jahre. Neel beschreibt sehr richtig, wie die Besetzung der grossen Plätze oder öffentlicher Gebäude ein Schlag ins Leere gewesen ist; man besetzt z.B. das Rathaus und bemerkt erst dann, dass man die leeren Korridore der Macht besetzt hat, S. 160 ff., oder man lässt sich von den „linken“ Leuten des Systems verschaukeln, S. 146 ff. (es gibt bekanntlich in allen Linksparteien die berühmten „fitten Leute“, ungefähr genausoviele wie es nette Bullen gibt).
Unterstützt wurde das von dem ganzen Vollversammlungsbimbam, dem Mythus der direkten Demokratie, S. 149, des uns das human microphone beschert hat oder das dumme Händegewackel. Am Ende läuft dann alles davon.
Alle diese Niederlagen rühren letztlich vom selben Missverständnis, von dem vergeblichen Kampf um eine entleerte Öffentlichkeit. Man kann sie besetzen, erobern, und hat dann nicht auf einmal eine intakte Öffentlichkeit in der Hand, sondern nichts. Völlig richtig ist deshalb der Schluss, stattdessen nach dem „nahen Hinterland“ sich umzusehen. Dort, wo von Anfang an nie eine Öffentlichkeit vorgesehen war, S. 126, wäre es eine subversive Sache, eine anzufangen. Denn dort leben heute die „gefährlichen Klassen“.
Möglich wäre das, wenn das „ferne Hinterland“ dazu die operative Tiefe böte. Kann das gelingen? Ohne Zweifel kann das gelingen. Die Frage ist nur, ob es Leuten wie uns gelingen kann, oder ob wir einfach die falschen Leute sind. Die groben Koordinaten stimmen; nur auf einem solchen Weg ist in absehbarer Zukunft Opposition möglich, S. 168 ff., und deswegen wird sie auch auf diesen Wegen stattfinden.
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