Wer sich mit den Wahnideen dieser Gesellschaft befasst, wird zwei Wege vor sich sehen.
Der eine Weg ist der, der sich in einzelnen Gesprächen auftut. Man hat es dort mit einzelnen, unterschiednen Menschen zu tun, die versuchen, ihre eigene Erfahrung in der Welt in die Form der vorherrschenden Ideen zu bringen. Schon die Frage, warum sie das tun, wird Gegenstand des Gesprächs sein. Sie werden finden, dass die vorherrschenden Ideen zu ihren Erfahrungen nicht vollkommen passen, aber sie werden sich abmühen, sie trotzdem zu benutzen. Es wird hinten und vorne nicht ausreichen, und sie werden nicht zufrieden sein. Sie tun es, wie jemand versucht, sich bei Regen unter den Schutz eines zu kleinen Vordachs zu quetschen.
Man wird schnell herausfinden, dass es wenig hilft, sie für diese sinnlose Übung zu tadeln. Noch weniger hilft es, ihnen den handfesten Unsinn der vorherrschenden Ideen vor Augen zu führen. Sie werden einen verständnislos ansehen: sie fühlen sich nicht gemeint, sie kleiden nur ihre eigenen Gedanken in die fremden Begriffe, aber sie vermuten nicht, dass in diesen eine eigene Logik wohnt, noch weniger fühlen sie sich für diese verantwortlich. Man muss sie schon bei ihren eigenen Gedanken selbst aufsuchen. Man muss sie als menschliche Erfahrung ernst nehmen, man muss sich auf sie einlassen. Es ist eine sokratische Operation; man wird viel finden, das man für unwahr hält, und es unangefochten liegen lassen, um es herum gehen, weiter voran schreiten. Man muss vieles nicht sagen, was es uns drängt zu sagen; im Vertrauen darauf, dass es sich an einem anderen Punkt wegaufwärts von selbst finden wird. Und das wird meist nicht der Fall sein. Es ist keine Arbeit, die wir gut können oder gern tun. Man muss auch Menschen viel mehr mögen, als wir es tun.
Der andere Weg, den man gehen kann, ist gerade entgegengesetzt. Er besteht darin, herauszukriegen, worauf die Ideen dieser Gesellschaft hinauslaufen. Man muss sie erst in eine Form bekommen, die es erlaubt, ein Urteil über sie zu fällen. Bei diesem Verfahren muss man gerade das Unwahre aufsuchen, denunzieren, es ins grellste Licht rücken. Man muss es zusammenfassen, zu einer Totalität des Unwahren montieren. Niemand wird sich in dieser Monstrosität wiedererkennen, aber es ist für jeden ein kleiner Pfeil darin, der ihm zeigt: hier, am Ende dieses Pfeils in diesem Universum des Wahns, da bist du und deine Meinung, ein kleines Rädchen im Getriebe des Unheils.
Dieses Verfahren war früher beliebter, und es liegt Leuten wie uns näher. Es hat aber den Nachteil, das es meistens völlig schiefgeht, weil niemand sagen kann, ob die Konstruktion dieser Totalität wahr ist, oder nur aus der Projektion des eigenen Wahns ausgeführt ist. Dieser zweite Weg ist viel weniger nah am Material; er ist eigentlich spekulativ. Denn ob die Kritik die herrschenden Ideen wirklich trifft, oder anders gesagt ob sie richtig herausfindet, welche es sind und wie sie zusammenhängen, steht nicht im Vorhinein fest.
Das einzige Wahrheitskriterium der Kritik ist die Wirkung, die sie tut, nämlich die Krise provozieren. Sogar ob es so etwas überhaupt gibt, ist nicht von vorneherein erweisbar. Für den Kritikbegriff, dem wir anhängen, ist es ein Postulat. Eigentlich müssen dazu beide aufgezeigten Wege zu einem zusammenfallen.
Man kann nicht einfach davon ausgehen, dass beides zusammenfällt. „Wahrheit ist objektiv, nicht plausibel“. Schon gar nicht ist von der Ideologiekritik aus diese Position zu finden. Sie riskiert, ein Konstrukt zu bleiben. Der Boden, auf dem ihre Sätze erprobt werden müssen auf ihre Resonanz hin, vielleicht sogar gefunden werden müssen, ist der des anderen mühsameren Weges; sie müssen dann allerdings in eine andere Form gebracht werden, so dass sie die herrschenden Ideen nicht nur gelegentlich und im Vorbeigehen berühren, sondern sie müssen allgemein werden. Wie diese Verallgemeinerung zu denken ist, ist eine andere Frage. Sie wird kaum aus der Leistung des einzelnen theoretisierenden Verstands hervorgehen, sie wird Selbst-Verallgemeinerung sein müssen.