Es ist Zeit, auf ein paar Vermutungen aus den letzten Jahren zurückzuschauen:
Buchbesprechung: Syrisch-Kurdistan
Alles das, wofür „Rojava“ so berühmt wurde, wurde in der syrischen Revolution entwickelt, noch ehe die PKK überhaupt eine Rolle spielte. Schon in der frühesten Phase der Revolution, in der landesweiten Protestbewegung, haben Leute wie Omar Aziz aus den unmittelbaren Bedürfnissen der Bewegung lokale Koordinationskomittees gegründet und diese landesweit koordiniert; als Organe nicht nur der gegenseitigen Selbsthilfe, sondern als Organe der Revolution selbst. Mit weiterem Fortschreiten der Revolution dehnte sich die Tätigkeit dieser Organe immer weiter in die früher vom Staat beherrschte Sphäre aus, und zerschnitt dessen Machtbasis fortschreitend, während sie die Organisierung der revolutionären Gesellschaft immer weiter befestigte. Die PKK hat die Selbstverwaltung in Syrien nicht erfunden, sondern sie vorgefunden, eingerahmt, und benutzt sie natürlich zu ihrer Propaganda.
Die erstaunliche Zähigkeit der revolutionären Strukturen zeigt sich daran, dass es dem Regime in fünf Jahren Krieg nicht gelungen war, wieder Herr der Lage zu werden. Omar Aziz sagte im November 2012, kurz vor seinem Tod in einem syrischen Gefängnis: „Wir sind nicht schlechter als die Arbeiter der Commune. Die hielten 70 Tage stand. Wir sind nach eineinhalb Jahren noch da.“ Und er hatte Recht, und es war noch lange nicht vorbei. Bis 2019 haben die letzten dieser Organe ausgehalten, und schon zeigen sich die Umrisse eines neuen Anlaufs.
Als der sogenannte Islamische Staat (Daesh) auf Kobane marschierte, musste das von den Kurden (z.B.) als eine tödliche Bedrohung wahrgenommen werden. Der Wille, sich zu verteidigen, erzeugt aber nicht von alleine auch die Mittel, sich zu verteidigen, und zu diesen gehört auch eine funktionierende Organisation. Die PKK besass als einzige eine fertige Organisation; sie hatte auch keine anderen bestehen lassen. Die Lage ist ganz analog zu den bürgerkriegsähnlichen Zuständen im türkischen Südosten der 1990er Jahre: die einzige bestehende Organisation, das einzige Werkzeug der kollektiven Verteidigung war die Organisation der PKK. Der Deal, der gemacht werden muss, ist dieser: die PKK bietet der Gesellschaft sich als Organisation an, und die Gesellschat hat es mit Loyalität zu bezahlen.
Diese Allgemeinheit, die sie dadurch gewinnt, ist erschlichen und erzwungen. Sie hat als ihre Grundlage nicht die Gesellschaft und ihre Veränderung, sondern sie steht ihr eigentlich äusserlich gegenüber. Auch was sie etwa für die Gesellschaft tut, wird gewissermassen hinter dem Rücken der Gesellschaft getan sein. Umgekehrt ist nur durch völlige Loyalität, das heisst durch Anstrengung und Selbsttäuschung, irgendein Teil der Gesellschaft in der Lage, die Handlungen der Partei für freie Handlungen der Gesellschaft zu halten. Das lässt schlimmes ahnen. Sie steht eigentlich zur Gesellschaft nicht anders, als der Staat steht. Sie wird der Gesellschaft gegenüber undurchdringlich bleiben, auch wenn ihr geliebter Führer noch so viel Staatskritik treibt. Der sogenannte Islamische Staat ist zurückgeschlagen fürs erste, immerhin, aber dem Problem, wie die revolutionäre Gesellschaft zu einer angemessenen Organisation findet, wird man keinen Fussbreit näher kommen.
In den arabischen Landesteilen gab es einen anscheinend völlig anderen Verlauf. Seit dem Beginn der militärischen Phase, das heisst seit dem Beginn der militärischen Angriffe auf die syrische Gesellschaft (und seit dem Abfall des kurdischen Nordens) organisierten einerseits die lokalen Komittees eine territoriale Verteidigung, bestehend aus ehemaligen Soldaten und Wehrpflichtigen; andererseits aber fielen ganze Truppenteile samt ihren Generälen von dem Regime ab und gründeten die Freie Syrische Armee. Drittens aber gründeten eine Reihe Organisationen des Exils, oder kaum organisierte Intellktuelle des Inlands, zusammen mit abgefallenen Militäroffizieren den Syrischen Nationalrat (SNC).
Darin auch folgende Anekdote über Öcalan:
Sein Narzissmus schwappte in jeden Bereich über. Wenn er mit seinen Leuten in der PKK fussball spielte, wie er das oft tat auf dem Gelände in Damaskus, schoben die Spieler ihm wohlweislich den Ball rüber und passten auf, nicht im Weg zu stehen, wenn er ein Tor schiessen wollte. Aber er bestand darauf, dass jemand eine Liste führte, wieviele Tore er geschossen hatte. Einmal vergass der PKK-Kämpfer, der diese Liste führen sollte, vier von seinen Toren. Öcalan explodierte und schrie den Mann, einen erfahrenen Kämpfer aus der Provinz Botan, an. … Er fragte Mehmet, wieviele Tore er gemacht hatte, und Mehmet sagte: 12. Öcalan fing an zu schreien: Du Penner, wie kannst du vier von meinen Toren vergessen! Mehmet entschuldigte sich, aber Öcalan schrie weiter. Später am Tag, als Öcalan einen Vortrag halten sollte, war das erste, was er fragte: „Wo ist dieses Arschloch? Wie konnte er meine Tore vergessen? Vier Tore vergessen ist wie vier Kämpfer vergessen … und das ist dasselbe wie die Revolution zu vergessen und Kurdistan zu vergessen.“ Danach dachte ich ok, jetzt ist es endlich vorbei. An dem Abend wurde er auf Med TV interviewt. Und da fing er schon wieder an damit, und sagte „dieser Penner, dieser Penner von einem Leutnant, er hat vier von meinen Toren vergessen, wie kann man vier von meinen Toren vergessen?“
Vor Jahren hat Yasin al-Haj Saleh das Wort „Syrianization of th world“ geprägt. Der syrische Krieg, die Niederschlagung der syrischen Revolution werde dem Verlauf der kommenden Geschichte ihren Stempel aufdrücken. Die Welt hat die syrische Revolution im Stich gelassen, sie hat ihre Niederschlagung hingenommen (die Fassbomben, die Städtebelagerungen, den Artilleriebeschuss, die Aushungerung, das Sarin). Sie hat nicht nur so getan, als ginge es um „innere Angelegenheiten“; nein, sie hat dankbar die Lüge geglaubt von der abwechselns islamistischen oder imperialistischen Verschwörung, die hier niedergeschlagen werden müsste.
Je gewaltsamer die Konterrevolution, desto mehr musste die unplausible Lüge eingehämmert werden. Sie deformiert das Denken. Die stumpfe Wiederholung der Greuel erzeugt eine passive Gewöhnung. Eine Gleichgültigkeit kann aber, egal was die Bürger sich erhofft haben, niemals eintreten. Man konnte nicht einfach tun, als existierte das alles nicht. Wer es ignorieren wollte, musste sich und andere belügen; musste mittun.
Die „Syrianization of the world“ ist der Eintritt in eine Epoche, in der dieses und ähnliches geschehen kann und ständig geschehen wird. Wir erleben es täglich und werden noch mehr erleben.
Militärisches zur sogenannten Revolutionstheorie
Es ist genau diese Situation, die es einigen vorrevolutionären Parteien erlaubt, auf dem ständig sich verschiebenden Boden zu operieren, anstatt z.B. einfach auseinanderzufallen; und zwar gerade denen, die von der wirklichen Bewegung am meisten abgeschlossen sind. Ihre Stellung und Tätigkeit unterscheidet sich an sich nicht von der aller anderen vorrevolutionären Gewalten. Sie alle streben danach, den Prozess der Revolution an der für sie günstigsten Stelle abzubrechen; er ist ihnen nur Mittel zu einem für sie bereits vorher feststehenden Zweck. Man pflegt in der Regel unter Marxisten der Revolution insgesamt diesen Zweck zuzurechnen; und unterscheidet säuberlich zwischen bürgerlicher, proletarischer Revolution usw. Aber der Zweck der Revolution selbst kann von niemandem angegeben werden; sie hat als solche gar keinen, sowenig die Gesellschaft ein vernünftiges Prinzip.
…Der Bürgerkrieg ist unter diesen Umständen das Grab der Revolution, aber ohne dass es auf einfache Weise vermieden werden könnte, dass die Revolution den Bürgerkrieg hervorruft. Betrachten wir das fürchterlichste Beispiel eines solchen Fehlschlags, die syrische Revolution seit 2011, unter diesem Aspekt.
Die ersten Demonstrationen waren gross und populär genug, dass man meinen konnte, hier habe man es mit einer Revolution vom Typus der sogenannten friedlichen Revolutionen zu tun. Auch als das Militär gegen die Demonstrationen eingesetzt worden war, schien sich das noch nicht zu ändern. Das Militär, grösstenteils aus Wehrpflichtigen zusammengesetzt, tat das, was z.B. Engels von einem solchen Militär für den günstigsten Fall erwartete, und wechselte zum grössten Teil sofort die Seiten oder lief auseinander.
Das Regime hatte aber für diesen Fall seit 1982 vorgesorgt, es hatte spezielle Einheiten aufgebaut, die rekrutiert waren aus den Angehörigen der Minderheitsreligionen, die das Regime in grosser Furcht vor der sunnitischen Mehrheit zu halten gewusst hatte. Diese Kerne der Armee blieben funktionsfähig, und die Reste der übrigen Einheiten liess sich einstweilen um diese gruppieren und zusammenhalten. Das Regime tat dann aber etwas, das angeblich niemand jemals in so einer Situation tun würde. Es begann, mit dem reduzierten Kern seiner Armee gerade die Arbeiterwohngegenden, die naturgemäss vorwiegend sunnitisch waren, zu beschiessen. Es radikalisierte die Revolution, von der Konterrevolution aus.
Zu diesem Zeitpunkt war keine andere organisierte politische Kraft militärisch handlungsfähig; weder „die Revolution“, wer immer das sein sollte, noch irgendeine der Parteien, auch nicht die islamistischen gleich welcher Richtung. Die Auseinandersetzung hatte noch nicht einmal angefangen. Zu dieser Zeit waren die revolutionären Kommittees noch meistens gar nicht gegründet, die später in vielen Orten entstanden sind; diejenigen lokalen Organe der Gesellschaft in Revolution, von deren blosser Existenz unsre bürgerliche Öffentlichkeit bis heute nie etwas gehört hat, und auch ihr Wurmfortsatz nicht, die sogenannte Linke.
Auch die desertierten Soldaten aus der auseinandergefallnen Armee begannen nun erst, unter dem Schock der ungeheuren Ereignisse, sich neu zu organisieren, nämlich in lokalen Verteidigunskräften. Damit beginnt natürlich dasjenige, was man die Militarisierung der Revolution genannt hat. Aber die Dynamik, die dieser Vorgang angenommen hat, kommt eigentlich daher, dass die Revolution in einem bestimmten Sinne sich nicht militarisiert hat und auch sich nicht militarisieren kann.
Es ist oft die Frage gestellt worden, was die lokalen Organe der Revolution daran gehindert hat, sich zu einer effektiven Koordination zusammenzutun. Meistens wird getan, als ob das Dazwischentreten der vorrevolutionären Exilparteien, des sogenannten syrischen Nationalkongresses usw. dazu hingereicht hat. Es ist allerdings dann unerklärlich, was diesem disfunktionalen Haufen von Politikanten eigentlich befähigt hat, sich diese Rolle anzumassen.
Die lokalen Kommittees haben das Problem der Einheit nicht lösen können, weil sie das Problem der militärischen Gewalt nicht haben lösen können. Die bewaffneten Kräfte waren nicht von den lokalen Kommittees aufgestellt, unterhalten und befehligt; ob dazu die Mittel fehlten, oder ob gerade die Furcht vor der Militarisierung den Ausschlag gegeben hat, ist nicht eindeutig zu sagen. Die bewaffneten Kräfte waren daher auch keiner Stelle wirklich Rechenschaft schuldig. Und es war gerade in dem Milieu dieser Milizen, dass die verschiednen Parteien militärische Gestalt und politische Macht gewonnen haben; nach nicht langer Zeit hauptsächlich die islamistischen, deren ganze Richtung zu der Revolution der lokalen Kommittees im grössten möglichen Gegensatz steht. Aber die Dynamik war auch in den kurdischen, drusischen und selbst christlichen und alawitischen Orten keine andere; für oder gegen das Regime, überall ist die wirkliche Macht in die Hände regionaler Milizen gefallen, die der einen oder der anderen Partei, der PKK oder der SSNP oder der Hezbollah angeschlossen sind.
…
Aber es ist gar nicht ausgeschlossen, dass das Problem der militärischen Gewalt für die Revolution an sich gar nicht lösbar ist. In diesem Fall müsste jede Revolution notwendig dasselbe Schicksal haben, sofern ihr Feind nur skrupellos genug ist und sofern er sich auf einen bestimmten Teil der Gesellschaft überhaupt noch stützen kann. Denn das syrische Regime hatte die militärische Gewalt am Anfang gar nicht benutzt, um die abgefallenen Städte wiederzuerobern. Das war, wie sich herausstellte, für die Niederlage der Revolution auch nicht nötig. Es hatte lediglich die revolutionäre Koordination unmöglich zu machen, indem es der Reihe nach einzelne Gegenden angriff; und zwar reichte dazu für den Anfang Beschuss und Bombardierung.