Buchbesprechung: Wilhelm Reich, Charakteranalyse

Wilhelm Reich: Charakteranalyse. Technik und Grundlagen für studierende und praktizierende Analytiker, Selbstverlag, Wien 1933 (Erstausgabe, auf archive.org, zit. als: EA)

Wilhelm Reich, Charakteranalyse, Kiepenheuer & Witsch, Köln 1971, 10. A. (zit. als: 2018)

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Ob der Materialismus eine „Naturwissenschaft von der Gesellschaft“ braucht, das heisst einen ausgearbeiteten Begriff vom gesellschaftlichen Menschen als einem Naturwesen und vom Naturverhältnis als der Grundlage der Gesellschaft, das hängt alleine davon ab, ob er eine haben kann. Unter Freudomarxisten und im Umfeld der kritischen Theorie wird als Kandidatin die Psychoanalyse gehandelt. Aber man macht sich selten die Mühe, sie nach ihren Voraussetzungen und ihren Folgen hin anzuschauen.

Es gibt einige beachtenswerte Kritik u.a. Firestones nicht nur an einigen Begriffen der Psychoanalyse, sondern auch an der Ersatzfunktion, die sie in den westlichen Gesellschaften angenommen hat. Was es unter den historischen Materialisten nicht gibt, ist eine kritische Betrachtung, welche der Sätze der Psychoanalyse überhaupt Anspruch haben, als wahr zu gelten. Es ist, wie wenn man die Lehre gar nicht ernst nähme, sondern als ob man nur auf ihren Sound, ihr Vokabular, ihre „tieferen Einsichten“ nicht verzichten wollte.

Es kann aber nicht die Frage sein, ob einem eine Lehre gefällt; sondern was man als wahr anzunehmen gezwungen ist. Und es kann leicht das Missgeschick passieren, dass einem eine solche Lehre bei genauerer Betrachtung in Stücke bricht, von denen einige sich als zwingend erweisen, einige andere aber ganz und gar verworfen werden müssen, so dass am Ende vielleicht etwas ganz und gar anderes herauskommt als die Doktrin der historischen Freud-Schule selbst.

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Die „Charakteranalyse“ ist eine Arbeit, die peinlich genau von den Doktrinen der Freud-Schule ausgeht und sie auf geradezu penible Weise ihrer eigenen Logik gemäss weiterführt. Sie ist aus der klinischen Praxis heraus geschrieben, Reich praktizierte an Freuds wiener Psychoanalytischen Ambulatorium und war Leiter des Technischen Seminars der wiener Psychoanalyse. Sie ist aber auch der Anlass geworden, ihren Autor aus der Freud-Schule auszustossen, auch wenn sie nach wie vor gewissermassen als inoffizielles Lehrwerk zu gelten scheint. Dass sie eine derart auffällige Stellung in der Freud-Schule einnimmt, liegt vielleicht nicht an ihren eigenen Fehlern, sondern bringt ein tiefer liegendes Problem in der Lehre Freuds zum Ausdruck.

Dass sich in der „Charakteranalyse“ politische und therapeutische Ideen überkreuzen, ist bekannt. Aber weniger bekannt, ja fast völlig verschwiegen, ist der genuin wissenschaftstheoretische Gehalt dieser Ideen gerade an ihrem Kreuzungspunkt. Natürlich muss man nur „Gesellschaftsordnung“ sagen statt „Neurose“, oder „Autorität“ statt „Übertragung“, und man erhält die explosivsten Sätze, die z.B. um 1968 herum gesagt und gedacht worden sind. Aber Reich hat die Sätze, die zu diesen Gleichungen einladen, nicht aus Revoluzzertum heraus erfunden, sondern sie sind ihm und der Psychoanalyse aus erkenntnistheoretischen Gründen aufgenötigt. Ohne diese Sätze hätte die Psychoanalyse gar keine Aussicht darauf, als Wahrheit gelten zu können.

Die erkenntnistheoretische Argumentation, aus der das zu sehen ist, findet sich in allgemeiner Form S. 25 ff. EA, 37 ff. 2018, in auf das Material angewandter Form aber über das ganze Buch (in der ursprünglichen Fassung).

Die Arbeit der Analyse fördert verdrängte Konflikte zutage. Reich führt nun aus, und jeder Analytiker scheint das Problem zu kennen, „daß Symptome oft trotz der Bewußtheit des früher verdrängten Inhalts bestehen bleiben“, dass „das Bewußtwerden allein zur Heilung nicht genügt“, EA 26.

„War man einmal vor diese Frage gestellt, so gesellte sich sofort die andere hinzu, ob denn dann nicht doch diejenigen Gegner der Psychoanalyse recht behielten, die schon immer gemahnt hatten, nach der Analyse müsse die „Synthese“ erfolgen“, EA 26. Wer aber sollte eine solche Synthese, d.h. die Neuzusammensetzung der Triebstruktur, in die Hand nehmen, und vor allem, nach welchen Kriterien? Was ist eine „gesunde“, was ist eine „kranke“ Triebstruktur? Wer soll das beurteilen, und nach welchen Kriterien? Nach denen der jeweils gegenwärtigen Moral, die man selbst unschwer als Produkt der Neurose begreift?

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„Die analytische Praxis lehrt“, Reich EA 27, dass unabhängig von der Vollständigkeit der Analyse eine anhaltende Besserung eintritt bei denjenigen Patienten, die nach der Analyse „zu einem geordneten und befriedigendem Genitalleben gelangen“, EA 30. Wo dies nicht der Fall ist, ist die Wahrscheinlichkeit des Rückfalls, d.h. der Wiederkehr der ursprünglichen Symptome, hoch; auch nach erfolgreichem Abschluss der Behandlung.

Die Besserung wird nicht bewirkt „durch Erziehung, „Synthese“ oder Suggestion“, EA 30. Reich warnt insbesondere davor, die positive Übertragung zu nutzen, um dem Patienten Bewusstsein des verdrängten Konflikts zu schaffen, und zwar ausdrücklich deswegen, weil auf diese Weise unzutreffende Deutungen des Therapeuten eine scheinbare Bestätigung erfahren können, ES 32.

Die Besserung wird stattdessen, sagt Reich, durch eine Neuzusammensetzung der Triebstruktur bewirkt, EA 26, die ein befriedigendes Sexualleben ermöglicht und umgekehrt von diesem ermöglicht wird. Das Leiden, mit dem der Analytiker zu tun hat, kommt schliesslich von Triebanteilen her, die unbefriedigt bleiben und auf Gegenbesetzung, Verdrängung und Reaktionsbildung aufgewandt werden, die andere Triebregungen hemmen.

Diese Besetzungen und Hemmungen zusammengenommen bilden die Charakterneurose, und deren Auflösung, EA 30 und 134, durch Widerstandsanalyse, EA 36 und 81, ermöglicht eine selbstregulierte „adäquate Libidoökonomie“, EA 27 und 139 ff.

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Unabhängig vom Urteil über die Wahrheit dieser Sätze ist unser Punkt, dass Reich hier überall mindestens implizit, öfter auch explizit erkenntnistheoretisch argumentiert. Vollends klar wird das, wenn man diese Argumentation vergleicht mit der entwickeltsten erkentnistheoretischen Kritik an der Psychoanalyse, der von Adolph Grünbaum („Die Grundlagen der Psychoanalyse. Eine philosophische Kritik“, Stuttgart 1968). Warum wir diese und nicht die völlig untaugliche von Popper hernehmen, erfährt man bei Grünbaum selbst 193 f.

Grünbaums Argument ist, dass der Analytiker aus seiner Theorie Hypothesen ableitet, die er auf andere Weise als am therapeutischen Material nicht überprüfen kann; aber es gibt keine effektive Sicherung dagegen, dass diese Hypothesen nicht durch Suggestion usw. in das therapeutische Material einwandern und damit die gesamte Theorie sich selbst zu bestätigen scheint.

Was die Psychoanalyse an Verdrängtem etwa zutage fördert, um es bewusst zu machen, ist nicht dagegen gesichert, selbst ein Produkt der Theorie zu sein. Selbst das Verschwinden der Symptome ist kein tauglicher Beweis für die Richtigkeit; es kann durch Suggestion bewirkt sein, oder durch Symptomersatz, d.h. es kann einfach eine Neurose durch eine andere unauffälligere Neurose ersetzt worden sein (Grünbaum 215, 255, 258, 268 f).

Dieses erkenntniskritische Argument gegen Freud ist nun vollkommen äquivalent zu Reichs Kritik an der Symptomanalyse, der Übertragungstechnik und allerhand Gewohnheiten der älteren Psychoanalyse. Reich liefert aber ein objektivierbares Kriterium, das Grünbaum bei Freud zu Recht vermisst.

Es ist hier übrigens nicht die Frage, ob die Theorie insgesamt stimmt; die Frage ist nach ihrer formalen Struktur, ihrer Offenheit gegenüber Empirie und Widerlegung, und der überprüfbaren Vorhersagen, die sie liefert.

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Wir müssen noch einen Schritt weiter gehen. Die ganze Psychoanalyse ruht in erkenntnistheoretischer Hinsicht auf zwei sehr unterschiedlichen Grundlagen: einerseits die empirische Überprüfung, die durchs therapeutische Material vermittelt ist; zweitens aber die theoretische Konstruktion, an der die Lehre ihr naturwissenschaftiches Fundament, und die Garantie ihrer inneren Konsistenz und ihrer Notwendigkeit hat.

Diese Konstruktion hat Freud ganz am Anfang seines Weges entworfen und dann den Rest seines Lebens weiterentwickelt; ihre Umrisse finden sich im „Entwurf einer Psychologie“, in: Gesammelte Werke, Nachtragsband: Texte aus den Jahren 1885 bis 1938, Frankfurt 1987; in der „Traumdeutung“, StA Bd. 2, 523 ff.; und viel später in „Jenseits des Lustprinzips“, StA Bd. 3, Frankfurt a. M. 2000, 213, 234 ff. Seine Schule hat das später als eine belanglose biologische Spekulation verleugnet, und heute tut man allgemein so, als wisse man von gar nichts oder es gäbe hier gar nichts zu wissen. Freud hat das offenbar ganz anders gesehen.

Freud geht davon aus, dass die Potentiale der Nervenzellen die Träger einer Energieform sind. Diese Energie ist als eine reale physikalische Energie gedacht, die wie jede andere dem Energieerhaltungssatz unterworfen ist. Das ist die begriffliche Grundlage, dass so etwas wie Verdrängung usw. überhaupt möglich ist, dass über das sog. Triebschicksal etwas überhaupt gesagt werden kann. Die Revisionisten der Psychoanalyse haben bekanntlich später den Trieb abgeschafft und durch das Motiv, den Affekt oder den Impuls ersetzt, die alle man weiss nicht warum auftauchen und ebenso auch wieder verschwinden können.Deren Formwandel allerdings, durch Verdrängung, Reaktionsbildung usw. sind ebenso zufällig, sie sind jedenfalls keine Notwendigkeit, und so gibt es nicht nur gar keine Nötigung zu einer wissenschaftlichen Erkenntnis, sondern auch eigentlich gar kein Anlass.

Mit der Notwendigkeit fällt überhaupt die Möglichkeit einer strengen Erkenntnis weg, mit der Aufgabe der Trieblehre gibt die Psychoanalyse eigentlich ihren Anspruch auf, Wissenschaft zu sein. Krankheit und Gesundheit sind dann Dinge, die Patient und Therapeut untereinander aushandeln, und zwar unter der nie in Frage gestellten Herrschaft der Ideen einer falschen Gesellschaft. (1)

Dass die Grundlage der Verdrängung usw. in die Form des physikalischen Energieerhaltungssatzes gefasst sind, ist keine zufällige Zutat, die auch anders hätte ausfallen können; die Begriffe der Naturwissenschaft, über deren plumpen Szientivismus die Philosophen die Nase zu rümpfen pflegen, sind selbst Elemente einer impliziten, als solche nicht gewussten Erkenntnistheorie, die Naturwissenschaft ist der Geisteswissenschaft deswegen in erkenntnistheoretischer Hinsicht in Wirklichkeit voraus. Denn die Geisteswissenschaft pflegt die Erkenntnistheorie zwar als gesonderte Diszplin zu verehren, aber genau deshalb nur sehr sparsam anzuwenden.

Der Energiebegriff ist leicht als eine physikalische Anwendung und Verwandlung des Substanzbegriffs zu erkennen. Die absolute Unmöglichkeit, klar zu sagen, was man sich unter Substanz zu denken hat, hat bisher noch niemanden von der Nötigung befreit, unter Benutzung eines Substanzbegriffs zu denken. Ob derartige Begriffe „wahr“ sind, ob sie nicht doch einer Ideologiekritik zugänglich sind, ist damit überhaupt nicht gesagt; aber „Szientivismus“ oder „Biologismus“ ist doch ein absurder Vorwurf gegen jemanden, der die unverzichtbaren Begriffe des Verstands regelgerecht auf Naturtatsachen anwendet. Unsere Philosophen sind nur den Ernst solcher Sachen nicht mehr gewohnt und schmeicheln sich, dass ihre Unfähigkeit in Wahrheit Zeichen höherer Einsicht wäre.

Mit alle dem ist nicht gesagt, dass Freuds oder Reichs Begriff von Triebenergie richtig gefasst wäre; das ist eine ganz andere Frage. Man kann das auch alles für Unfug halten, dann kann man aber die Begriffe der Psychoanalyse nicht mehr verwenden. Wenn man allerdings von der nagenden Ahnung geplagt ist, dass hier etwas reales liegt, dann tut man gut daran, genau zu bleiben.

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Die dritte Klasse von Sätzen im psychoanalytischen Lehrgebäude sind jene Dogmen, die grösstenteils der Lehrer selbst, und zwar aus der Introspektion gewonnen hat. Diese Sätze sind in Freuds eigener Lehre diejenigen, die zwischen den beiden genannten Klassen, den deduktiven Sätzen aus dem Modell und den induktiven aus dem Material, zu vermitteln haben, und sie machen deshalb das eigentliche und prägende Kernstück der Lehre aus. Dieses Mittelstück der Lehre ist das bei weitem bekannteste, das bei weitem reichhaltigste und bei weitem verdächtigste. Es gehören hierher Schönheiten wie der Penisneid, die Urhorde und der Brudermord usw., und sie beeindrucken die Philosophen masslos durch ihre Tiefe, und, sagen wir es direkt: ihre völlige Widersinnigkeit. Sie sind für uns aber völlig ohne Interesse, da wir keine Philosophen sind, und wir zögern nicht, sie bis zum Beweis des Gegenteils allesamt für falsch zu erklären.

Diese Sätze sind gewöhnlich auch die Quelle aller sogenannten Hypothesen, die der Analytiker an den Fall heranträgt und mit denen er versucht, ihn sich begreiflich zu machen. „Was an den Vermutungen des Arztes unzutreffend war, das fällt im Laufe der Analyse wieder heraus“, behauptet Freud, zitiert nach Grünbaum, 227, aber genau dazu ist ein äusseres und objektives Kriterium benötigt, das von den Vermutungen des Arztes unabhängig ist und das Grünbaum bei Freud vermisst. Für die Psychoanalyse kann nach ihrer Eigenart dieses Kriterium kein anderes sein als das von Reich aufgestellte.

Auch damit ist noch nichts über seine Wahrheit gesagt, sondern nur über seine Unvermeidbarkeit. Es ist die einzige konsistente Lösung, und nur im Vorbeigehen soll an dieser Stelle gesagt werden, dass Reich hier die Fähigkeit zur Selbstregulation, der bewussten Selbstveränderung als das Kriterium der Freiheit aufstellt. Das Gleiche hat später Castoriadis als Kriterium einer befreiten Gesellschaft gefunden.

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Weiter im Text. Wenn die Deutung des Konflikts, wie der Analytiker sie sich aus seinen Hypothesen zusammenreimt, unvollständig war oder auch nur verfrüht eingebracht worden ist, dann stärkt sie den Widerstand und die negative Übertragung, das heisst das Misstrauen gegen den Analytiker, und verringert die Aussichten auf Heilung, EA 41. Nicht die Hypothese des Analytikers vom Zusammenhang der Dinge, sondern die Reihenfolge, in der diese in der Analyse auftauchen, bestimmt die Richtung der Analyse, EA 81 f. Denn in dieser Reihenfolge kommt der innere Zusammenhang der einzelnen Widerstände, d.h. die Schichten des Charakters zur Erscheinung, EA 163 ff. Die Arbeit der Analyse besteht in nichts anderem als darin, seine Verhärtung aufzulösen, um seine Neuzusammensetzung zu ermöglichen; nicht darin, diese zu steuern, sondern den Patienten zur Selbststeuerung zu befähigen.

Alles das sind, wie Reich zeigen kann, zwingende Voraussetzungen und Folgerungen der Psychoanalyse ihrem ursprünglichen Gedanken nach. Um so mehr Feindschaft mussten die zwei letzten Kapitel des ursprünglichen Textes erwecken, gerade weil sie ebenso stringent und unabweisbar argumentiert sind.

234 ff EA folgt das berühmte Kapitel über dem masochistischen Charakter, 227 ff. das ganz und gar kommunistische Kapitel über den Urkonflikt zwischen Bedürfnis und Aussenwelt. Freud hat Reichs Kommunismus zum Vorwand genommen, aber das Masochismus-Kapitel hat seinen Zorn viel eher geweckt; er hat keinerlei Versuch gemacht, die anderen Kommunisten unter seinen Schülern aus der Psychoanalyse auszustossen, sonder nur den einzigen, der Geist und wissenschaftliche Strenge besass.

Das Masochismus-Kapitel ist eine sehr eingehende, klinische begründete und sauber argumentierte Auseinandersetzung mit Freuds später Todestrieb-Lehre. Dass Freud diese Lehre nie wirklich zusammenhängend und konsistent, sondern immer nur in einander widersprechenden zaghaften Andeutungen dargestellt hat, macht diese Arbeit gleichzeitig leichter und schwerer. Zu einer Entgegnung Freuds oder seiner Partei ist es nie gekommen. Die Philosophen haben sie, ohne sich gross für ihre Herkunft und Eigenart zu interessieren, dankbar als billige Lösung für das Mysterium des Bösen benutzt. Marcuse hat sie ihnen zu empfehlen gewusst durch die „gesellschaftliche Tiefendimension“, die er in ihr vermutet hat. Aber seine Ausführungen in „Triebstruktur und Gesellschaft“ lassen nicht vermuten, dass er sie in eine sinnvolle, konsistente und handhabbare Form zu bringen verstanden hat .

Freud begründet in Jenseits des Lustprinzips S. 218 ff. die Neufassung der Ich-Triebe als Todestriebe mit allerhand mikrobiologischer Spekulation, einiges davon auf Gustav Fechner zurückgehend (Einige Ideen zur Schöpfungs- und Entwicklungsgeschichte der Organismen, Leipzig 1873), in denen dieser den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik für Organismen neu formuliert. Diese Formulierung ist übrigens fehlerhaft, es sei denn, man nimmt wie Fechner an, dass das Universum zuerst belebt war und dann durch Abkühlung in unbelebten Zustand erstarrte wurde (Fechner, Die Tagesansicht gegenüber der Nachtansicht, Leipzig 1879). Ich nehme ohne weiteres an, dass niemand diese Idee gerne öffentlich vertreten würde.

„Wir rennen also keine offenen Türen ein, wenn wir behaupten, daß der Todestrieb Tatbestände biologisch erklären soll, die sich bei konsequenter Fortführung der alten Theorie aus der Struktur der heutigen Gesellschaft ableiten“, EA 287 In der Folge wurde es Mode, allerhand Übel direkt aus dem Trieb zu erklären, unter Umgehung des psychischen Apparates; also unter Umgehung sowohl des Problems als auch aller Begriffe des Psychoanalyse selbst. Man kann durchaus von ihrer Selbstaufhebung sprechen. Die Psychoanalyse teilt das Schicksal, am Masochismusproblem gescheitert zu sein, übrigens mit der Zweiten Frauenbewegung; und man kann den Eindruck haben, dass ohne eine zufriedenstellende Lösung keiner Veränderung zu erwarten ist.

Die Selbstaufhebung der Psychoanalyse insgesamt ist eine unbestreitbare Tatsache. Man warf 1933 Reich hinaus, den tüchtigsten und wissenschaftlich redlichsten; man schaltete sich danach in Deutschland freiwillig gleich und unterwarf sich einem Verband, der von Görings Schwager geleitet wurde, um als Teil der Kassenmedizin „“unfähige Weichlinge zu lebenstüchtigen Menschen … umzuformen“, s. Andreas Peglau, „Unpolitische Wissenschaft? Wilhelm Reich und die Psychoanalyse im Nationalsozialismus“, Gießen 2017, S. 588 f.; auch Bernd Nitzschke, Karl Fallend, „Der „Fall“ Wilhelm Reich, Beiträge zum Verhältnis von Psychoanalyse und Politik“, Gießen 2002. Was nach der Selbstaufhebung bleibt, ist die nach 1945 herrschend gewordene, aller Notwendigkeit und aller Nötigung zu klaren und zwingenden Begriffen beraubte sogenannte revisionistische Psychoanalyse.

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Soweit der Text aus der Erstausgabe. In den später gedruckten Ausgaben sind noch drei Abschnitte eingefügt, die das sogenannte Spätwerk Reichs repräsentieren, nämlich zwischen den berüchtigten zwei letzten Kapiteln das über die „Emotionelle Pest“, eine Reflexion über diejenige Pathologie, die wir als Normalzustand unserer Gesellschaft kennen;(2) und am Schluss „Von der Psychoanalyse zur Orgonbiophysik“, 2018 S. 387 ff., und „Die schizophrene Spaltung“ 470 ff. Über den Wert dieser beiden Abschnitte kann ich von dem hier gewählten Ansatz aus nichts sinnvolles sagen.

Wer auch nichts sinnvolles dazu sagen hat können, war Wilhelm Reich, jedenfalls hat er es nicht getan. Er hatte den Boden dessen, was erkenntnistheoretisch gedeckt ist, irgendwann in den 1930ern verlassen. Er ist danach nicht mehr in der Lage gewesen, klare Kriterien anzugeben für das, was er vorgezogen hat, für wahr zu halten; seine Postulate sind auch untereinander nicht mehr konsistent. Was er an richtiger Intuition gefasst haben mag, ist oft mit offensichtlichen Unwahrheiten und schreienden Widersprüchen untrennbar vermischt. Das berühmte Spätwerk ist die Ruine eines Naturforschers.

Wie Reich dahin kam, ist immer ein Rätsel geblieben. Aber einer der Schlüssel dazu ist vielleicht die Herkunft der Ideen selbst. Sein Weg von der „Charakteranalyse“ und dem Hinauswurf ab verläuft rückwärts entlang derselben Sorte Spekulation, mit denen Freud seine Todestrieblehre versucht zu begründen: allerhand Mikrobenangelegenheiten (die Entdeckung der sogenannten Bione), Bioelektrisches, Scheinwissenschaftliches über Leben und Energie. Es ist lediglich die Tendenz eine andere: Reich versucht, Freuds Todestrieblehre in allen ihren Verschanzungen aufzusuchen und überall zu widerlegen, bis hin zum zweiten Hauptsatz der Thermodynamik selbst, den er ablehnt. Was er am Ende in der Hand hält, ist selbst natürlich genauso haltlose Scheinwissenschaft wie das, wogegen er sich wendet; das ganze Unterfangen misslingt auf monströse Weise, weil ein angemessener Begriff von den Naturtatsachen nirgends zur Verfügung steht.

Der ganze Vorgang ist bisher m.A.n. nirgends adäquat behandelt worden: das ebenso grandiose wie katastrophale endgültige Scheitern einer einstmals oppositionellen Schule. Die offizielle Schulgeschichtsschreibung hat natürlich nicht das geringste Interesse daran; aber auch die Reichianer nicht. Am „Fall Reich“ liesse sich, wenn man ihn im grossen Zusammenhang nähme, vermutlich aufzeigen, was an der Psychoanalyse schon von ihren Grundlagen an schief gewesen ist.

Stattdessen ist es so gekommen, dass eine ihres Stachels beraubte Psychoanalyse nach 1945 in Amerika grosse Karriere gemacht hat; so dass Shulamith Firestone sie direkt als einen Oppositionsersatz bezeichnen konnte, ohne Widerspruch fürchten zu müssen. Die mittelmässigsten Schüler wurden die angepasstesten, und die, die von den Schwierigkeiten am wenigsten in ihren Kopf hineinbekamen, wurden die erfolgreichsten.

Bei dieser Lage der Dinge wird der Name Wilhelm Reich immer für dasjenige stehen, was hätte sein können und doch nicht da war, oder nur für einen Moment da war; für eine höchst brennbare Mischung aus wissenschaftlicher Klarheit und revolutionärem Geist. Selbst seine Irrtümer werden dagegegen nicht ins Gewicht fallen; noch auf die verrücktesten Dinge aus seinem Spätwerk fällt ein Widerschein der strahlenden Glorie. Alle seine Sachen vom Anfang der 1930ern haben, auch wo sie irren, einen spirit, der am Rest der Literatur auffallend fehlt; sie gehören schon deswegen zum besten, was die kommunistische Bewegung zu bieten hat. Politisch war er, wie alle seine späteren Arbeiten beweisen, immer ein Rätekommunist, und ein Gegner Moskaus, wie man soll.

Der Name Reichs wird unaustilgbar sein. Das kann einem gefallen oder auch nicht, aber niemand wird etwas dagegen tun können, solange niemand im Stande ist, die losen Fäden aufzuheben und neu und richtiger zu verknüpfen.

Anmerkungen:

1. Die Faschisten reden von Krankheit und Gesundheit, als ob es Gesundheit gäbe. Sie meinen die Norm, das heisst die Autorität.
Die Liberalen tun so, als gäbe es weder Krankheit noch Gesundheit oder als wäre beides gleich gut, aber man weiss, dass sie es im Herzen selbst nicht glauben.
Sache der Sozialisten ist es immer gewesen, die Krankheit als real und allgemein zu begreifen, und die Heilung nicht als Anpassung an ein unmenschliches Ideal, sondern als Befreiung davon.
Nach diesen Grundsätzen gibt es heute kaum Sozialisten; es gibt den rechten und den linken Flügel eines Establishments, das sich darum streitet, im Namen welchen unmenschlichen Ideals das Leiden verwaltet und verewigt werden soll.

2. Sie ist, wie die verwandte „Massenpsychologie des Faschismus“, bestürzend zeitgenössisch. Sie könnte heute, nach dem Ruin und der völligen Involution der „Sexuellen Revolution“ geschrieben worden sein. In Wahrheit hat diese „Sexuelle Revolution“ nur das geleistet, was Marcuse „repressive Entsublimierung“ nennt. – Marcuses Begriff ist schlecht gewählt und schwer verständlich. „Sublimierung“ benutzt er als Oberbegriff für jedes Triebschicksal, Verdrängung, Reaktionsbildungs etc. und eben auch Sublimierung; „repressiv“ kommt vom Englischen Wort für Verdrängung, repression. Also „repressive Sublimierung“ = Triebschicksal nach Art der Verdrängung, „nichtrepressive Sublimierung“ = das, was Freud und Reich einfach Sublimierung nennen. Freud hat wenig von Substanz zur Sublimierung, die freudianische Literatur auch wenig, vgl. Wolfgang Mertens, „Psychoanalytische Grundbegriffe, Ein Kompendium“, Weinheim 1998 (2. A.), S. 233 m.w.N. Reich selbst spricht vom „Mißverständnis…, daß Sublimierung und Triebbefriedigung überhaupt Gegensätze seien… vielmehr, daß der geordnete Libidohaushalt die Voraussetzung gelungener und dauerhafter Sublimierungen ist.“, und mehr EA 197 ff. Was Marcuse „repressive“ Triebschicksale nennt, heisst bei ihm „reaktiv“, EA 199. Die Sublimierung ermöglicht freie und selbstbestimmte Tätigkeit, ebd., sie scheint überhaupt der Platzhalter für die Möglichkeit von Befreiung zu sein. – Es ist an dieser Stelle wichtig, darauf hinzuweisen, dass diese Möglichkeit vorerst nur vermutet und keineswegs bewiesen ist. Alles das ist eine wenn auch gut begründbare Vermutung, die erst einzulösen sein wird: dass Freiheit ohne Autorität, ohne Zwangsmoral nicht nur möglich ist, sondern deren Abschaffung zur Voraussetzung hat. Diese Vermutung ist „Grundlage einer umwälzenden Kritik sämtlicher moraltheoretischer Systeme“, EA 195 ff.: nicht das Naturwesen muss gezähmt werden, wenn nötig mit äusserster Gewalt, sondern eine ihm unangemessene Gesellschaftlichkeit verändert. Für diese Vermutung spricht, dass die Wurzel derjenigen Greuel, die wir jeden Tag sehen, nicht im Es, sondern im Über-Ich zu liegen scheint. – Um heute diese verschütteten Erkenntnisse wieder auszugraben, zu schärfen und zu handhaben, ist die erste Voraussetzung die Kritik an den Ergebnissen der „sexuellen Revolution“. Und für jede Theorie, die beansprucht, diese Kritik zu sein, ist das das Feld, auf dem sie ihre Wahrheit zu erproben hat. – Wer der richtige Gegenstand der Kritik ist, dass ist unsern treuen Leserinnen und Lesern sicherlich nicht verborgen geblieben: es sind selbstverständlich diejenigen, die auf die Kritik am wütendsten reagieren; diejenigen, die die Prostitution, die Pornographie, die Paraphilien und jede Art des sexuellen Elends verteidigen, als ginge es um ihre Existenz.

VOn Jörg Finkenberger

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