Extremely concerned about your class attitude

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Der belarussische Staat hat neulich ein Passagierflügzeug auf dem Weg von einem EU-Land in ein anderes EU-Land unter Androhung von Waffengewalt zur Landung gezwungen. Von Bomben, eskalierenden Konflikten am Bord und anderen Bullshit-Vorwänden abgesehen, galt die Aktion dem Blogger Roman Protassewitsch (engl. Protasevich) und seiner Freundin. Es ist gut möglich, dass dem Mitbegründer des unabhängigen Nachrichtenportals NEXTA außer Folter und Gefängnis auch noch Hinrichtung droht – für das Provozieren von Massenunruhen. Das ist ein ganz großer Tennis, wie wir Profsportler sagen, selbst für Belarus. Für die Leute, die wie üblich etwas desorientiert sind, gibt es mittlerweile ein Twitter-Account Namens „Is EU concerned?“, auf dem die EU-BürgerInnen ihre Gefühle bequem mit offiziellen Richtlinien abgleichen können.

Und schon läuft eine Kampagne an, um die Solidarität mit Protassewitsch zu torpedieren. „International support for Belarussian Protasevich is currently undermined by pushing two major narritives. The first one is whataboutism about Evo Morales grounding incident in 2013, and the second one is ‚Protasevich is a Neo-Nazi‘“, wie neulich eine ukrainische Kollegin schrieb. „Minsk carried out a brilliant operation to detain Roman Protasevich, a man who manipulated human souls and urged juveniles to take to the streets so that they would be killed in the riots“, so steht das auf der englischsprachigen Seite von „Pravda“ (rus. für „Wahrheit“, sic!). Zahlreiche bots und agents retranslieren das auf ihre jeweilige Manier und in ihren jeweiligen Sprachen in ganz Europa.

Sogar Andrij „der weiße Führer“ Bilezkyj, seines Zeichens der Kommandeur des berüchtigten ukrainischen Frewilligenregiments „Azow“ hat Protassewitschs Tätigkeit als Journalist bestätigt. Der „linke Intellektuelle“ im Dresdner Exil Wolodymir Ischtschenko, nebenberuflich der ukrainische Kofferträger Putins, meint allerdings, dass Bilezkyj damit auch noch etwas anderes bestätigt hätte:

Ich sage dazu nur noch, was ich immer zu Leuten wie Ischtschenko sage: Achtet auf RednerInnen-und ReferentInnenlisten der Rosa-Luxemburg-Stiftung, wenn die Veranstaltungen wieder live und in Farbe anfangen und sich wieder Gelegenheit bietet, eine „linke“ Konferenz zu deutsch-russischen Beziehungen über ukrainische Köpfe hinweg abzuhalten. Ansonsten überlasse ich den anderen, sich an dieser Kackschlacht zu beteiligen, falls jemand die Frage, ob selbsternannte Präsidenten JournalistInnen hinrichten dürften, auch wenn sie sich vor Jahren in Svastone-Klamotten ablichten ließen, für eine Diskussion mit offenem Ergebnis hält.

Es erinnert mich, ehrlich gesagt, an den Prozess gegen Senzow und Koltschenko, die 2014 wegen Terrorismus verhaftet und nach Russland verschleppt wurden. Für den Filmemacher Oleh (oder Oleg) Senzow engagierten sich diverse angesehene Leute und beispielsweise Europäische Filmakademie. Für seinen Mitgefangenen, den Krimer Anarchisten Olexandr Koltschenko, der ganz anständig an einer versuchten Brandstiftung an russländischen militärischen Einrichtungen auf der Krim sich beteiligte, interessierten sich nicht einmal deutsche bzw. europäische AnarchistInnen, die sich ansonsten routinemäßig mit jeder brennenden Mülltonne irgendwo auf der Welt solidarisieren. Ja, man glaubt es nicht, in welche Milieus die russländische Propaganda hineinreicht. Von etwa 70 verschleppten Krimtataren im Hizb-ut-Tahrir-Prozess ganz zu schweigen, die angesehenen Leute werden sich damit nicht profilieren können.

Nun lasst uns zu einem anderen Thema kommen, das wir vor einem halben Jahr angekündigt bzw. angeschnitten haben. Es dürfte vielen interessierten BeobachterInnen in den jüngsten Wahlprotesten in Belarus etwas aufgefallen sein, was bis jetzt in den sogenannten „farbigen Revolutionen“ bis jetzt so gut wie nie da war, vor allem so massiv: die Präsenz der Arbeiterklasse mit den eigenen Forderungen und Aktionen. Gehen wir diesem Umstand auf die Spur, es ist genügend Zeit vergangen, um wenigstens rückblickend darüber zu urteilen.

Bereits in den ersten zwei Wochen der Proteste im August 2020 beteiligten sich etwa 80 Betriebe in einer oder anderen Form an den Protesten: Warnstreiks, Petitionen, Demonstrationen, Organisation von eigenen Strukturen und Koordination mit anderen Betrieben abseits von offiziellen Gewerkschaften.

Das Verhältnis betrachten wir ein bisschen näher. Es gibt kaum unabhängige Gewerkschaften in Belarus, heißt es immer, und das scheint zu stimmen. Große Gewerkschaftsverbände seien eh die elektorale Basis des Regimes, vor allem die Belegschaften der Staatsbetriebe gelten der Opposition als unnötiger Ballast aus der Sowjetzeit, groß, staatstreu, fast vormodern – als würde der Staat nur mäßig profitable Großbetriebe nur für den einen Zweck aushalten, damit wenigstens jemand bei den bekanntlich gefälschten Wahlen ganz ehrlich seine oder ihre Stimme für Väterchen Luka abgibt. Das ist natürlich nicht so. Die Arbeiterschaft stand der neuen Opposition, die denselben neoliberalen Wirtschaftskurs wie Lukaschenko nur etwas schneller fahren will, logischerweise skeptisch gegenüber. Und nun macht zumindest ein Teil, ein sichtbarer Teil von ihr bei der Opposition mit. Da waren sich fast alle sicher: Wenn die stillen „Stützen des Systems“ in Bewegung geraten sind, sind seine Tage gezählt. Der Fall ist nun nicht eingetreten und wir müssen wohl alle einsehen, Lukaschenkos Regime wird nicht mehr so schnell fallen. Die Folgen der Einmischung der Arbeiterschaft sind aber klar zu spüren.

Und was damit erreicht war, lässt sich klar benennen: Dass die Polizei nicht in jede halbwegs große Gruppe von Menschen sofort eine Schreckgranate gefeuerte. Vor der Arbeiterschaft schien das Regime noch Respekt zu haben… Am 13. August bestellten die Belaz-Arbeiter den Bürgermeister von Schodino zu sich und führten mit ihm hartes, aber respektvolles Gespräch. Dabei ging um vieles, nicht zuletzt um die Polizeigewalt auf der Straße. So behandelt werden wollten die ArbeiterInnen nicht, der Bürgermeister versprach verlegen, sich „darum zu kümmern“. Danach hat der Präsident „die Stimme des Volkes“ erhört und der belarussische Oberbulle Juri Karajew sich für „Exzesse“ entschuldigt.

Mitte August hat die Belegschaft des MZKT Lukaschenko sogar bei einer Versammlung ausgebuht und kaum zu Wort kommen lassen, mit ulkigen Dialogen wie: „Die Arbeiterschaft hat doch immer die Regierung unterstützt!“ – „Nein! Hau ab!“ Woraufhin er dann erklärte, dass er das schon als einen persönlichen Verrat empfindet.

Das hat seine Gründe, vor allem dieses „Nein!“ von der angeblich treuen Regimebasis.

Lukaschenko wurde 1994 ins Amt gewählt. Die „innige Freundschaft“ mit der Arbeiterklasse begann bereits August 1995. Es streikten Bus- und TrolleybusfahrerInnen in Gomel, Trolleybus-FahrerInnen und U-Bahn-ArbeiterInnen in Minsk wegen monatelanger Lohnzurückhaltung und drohender Lohnkürzungen. Worauf die Stadtverwaltung erst mal mit einer Lügenlawine in der Presse reagierte: In der Presse wurde wegen unverschämten Forderungen schwadroniert, die U-BahnerInnen würden doppelt so viel Lohn bekommen, als sie real bekommen haben. Es wurde versucht, die missmutige Bevölkerung gegen die Streikenden auszuspielen. Schließlich – wie es sich seit der Sowjetzeit noch gehört – wurde die Schuld bei ausländischen Mächten gesucht (der jahrzehntlange Kampf der Solidarność gegen die polnische Regierung war noch nicht so lange her – und die Solidarność wurde später tatsächlich zu Projektionsfläche für Lukaschnkos Paranoia) usw. usf. Am 20. August 1995 ließ man StreikbrecherInnen aus Russland einkarren, die nach 3-stündiger Einschulung bereits die U-Bahn hätten betreiben sollen. Gegen die Streikenden wurde Einschüchterung und Polizeigewalt eingesetzt, ihre Telefonanschlüsse zu Hause wurden abgeklemmt (man hat logischerweise keine Mobilfunkmasten abschalten können). Solidarische Parlamentsabgeordnete, die z.B. einen gewerkschaftlichen Hintergrund hatten, hat man trotz Immunität verhaftet. Die Freie Gewerkschaft wurde mit dem Präsidentenerlass vom 21. August verboten, der erst 1997 vom Verfassungsgericht aufgehoben wurde. 58 Arbeiter und Zugführer der Minsker U-Bahn wurden nach dem Streik gefeuert. Nach Protesten seitens der ILO konnte die Freie Gewerkschaft ihre Tätigkeit aufnehmen, musste sich aber 1999 neu registrieren. Heute ist sie klein und unbedeutend. Die Repression brach damals das Genick der gesamten Arbeiterbewegung: Streiks im Trolleybus-Park in Gomel, „Elektronika“-Werk in Minsk usw. wurden mit ähnlicher Härte bekämpft. 1996-1998 veranstaltete die Unabhängige Gewerkschaft der Bergleute aus Soligorsk Protestmärsche nach Minsk, die von der Polizei immer wieder auseinandergejagt wurden. Das letzte Aufbäumen der Arbeiterklasse ereignete sich 1999 nach dem Erlass zur „Reform“ der Arbeitsgesetze, die kurzfristige Arbeitsverträge ermöglichten, sprich die Beschäftigten beliebig kündigbar machten. Die Föderation der unabhängigen Gewerkschaften hat damals 15000 Leute nach Minsk gekriegt. Das überlappte sich mit den – Überraschung! – Wahlprotesten gegen Lukaschenko. Die Polizei ging mit massiver Gewalt dagegen vor, dabei wurde auch die belarussische Abteilung der neonazistischen Organisation RNE in die „Wiederherstellung der Ordnung“ eingebunden (deren Chef Sergej Korotkich Jahre später in der Führungsclique des bereits erwähnten Freiwilligenregiments „Azow“ auftaucht, das nur so, eine Anmerkung am Rande). Spätestens nach 2001 traut sich die Arbeiterklasse nicht mehr aufzustehen. Grigory Bykow, einer der Anführer der Freien Gewerkschaft damals sagte zur Aktion von 1995: „Sollte das ‚Väterchen“ die U-Bahn-Belegschaft besiegen, wird er völlig durchdrehen; dann wird er denken, er dürfe alles – bis zum Blei“.

So viel zur Vorgeschichte dieses arbeiterInnenfreundlichen UdSSR-Reservats mit Wisenten und zum „Klassenpakt“ zwischen Väterchen Luka und dem Proletariat. Die Anhebung des Rentenalters, Ausverkauf der staatseigenen Betriebe, Liberalisierung des Arbeitsmarktes, Erhöhung der Steuer, die berühmt-berüchtigten Maßnahmen gegen „soziale Parasiten“, also Arbeitslose und Prekärbeschäftigte und vieles mehr – Luka hat nie aufgehört berufsmäßig den Krieg gegen die Bevölkerung zu führen. Der Staat sorgt dafür, dass die Akkumulation läuft, dass soziale Konflikte halbwegs planbar und bewältigbar sind. Wie Johannes Agnoli es in „Der Staat des Kapitals“ mal formulierte: „Nicht die punktuelle Möglichkeit der Politik, sich akkumulationswidrig und kapitaldesinteressiert zu verhalten und zu entscheiden, macht die wirkliche Autonomie aus. Autonom handeln nur Politiker, die die Disfunktionalität ihrer Entscheidungen – Disfunktionalität zur Akkumulation – durchhalten können. Gegen das rationale Programm des Kapitals kann jeder, auch ein Parteiführer und ein Staatsdiktator spinnen. Die Frage ist, wie lange man ihn spinnen lässt. Fehlt die Funktionalität und kündigt das Kapital das politische Bündnis mit der Staatsführung (also mit der stofflichen Seite des Staates) auf, so wird einem Regime oder einer Führungsgarnitur der Boden entzogen. Das gilt für den Übergang vom alten liberalen Staat zum faschistischen Regime und die Restauration des parlamentarisch-oligarchischen Staats im gleichen Maß“. Die Charaktermaske Lukaschenko nimmt diese Staatsfunktion sehr ernst und verleiht ihr eine persönliche Note. Daher sein Beiname „Väterchen“, daher seine Verärgerung über seine uneinsichtigen Kinder in der MZKT-Belegschaft, daher sein ständiges Gejammer, er würde ja gehen, wisse aber nicht, wie das Land dann es ohne ihn überhaupt schafft. Seine sorgenvollen Vorkehrungen für den Fall seines plötzlichen Todes und die hirnrissige Inszenierung einer aufgeflogenen Attentatsplanung Mitte April dieses Jahres, sind nur Auswüchse davon. (Und unter uns gesagt, mit der Erdogans Putschinszenierung von 2016 verglichen, ist die „Verschwörung“ von einem nerdigen Rechtsanwalt und einem ebenfalls nerdigen Politologen zur Ermordung Väterchens ist ein lächerlicher Pups. Hat des überhaupt jemand außer Väterchen wahrgenommen?)

Doch zurück zu Wesentlichem! Es gab also angeblich wieder massive Aktionen der Arbeiterschaft neben den spektakuläre Bilder liefernde und sonst zu nichts führenden Demonstrationen im Lande. Der linke Agitationszusammenschluss „Zabastobel“, für den wir auch schon Werbung gemacht haben, äußersten sich bereits Anfang August dazu folgendermaßen: „Demonstrieren ist das Laufen ins Nichts“. An der neuen Opposition war nur deren Image neu: der gute Bankier Babaryko, der gute Geschäftsmann Zepkalo und der sympathische Blogger Tichanowskij. Deren wirres, offensichtlich auf die Schnelle zusammengebasteltes Programm sieht nicht einfach das Herbeiführen neuer unverfälschter Wahlen, sondern hat auch ein paar ökonomische Punkte, die eine noch nicht gesehene Prosperität durch weitere Deregulierung, Privatisierung und Abbau des Sozialstaatlichkeit verspricht. (Wer kommt denn sonst z.B. auf die Idee, zu empfehlen, Kinder auf Privatschulen zu schicken, um sie der staatlichen Erziehung zu entziehen? Richtig: nur wer sich das im Prinzip auch leisten könnte). Das gepaart mit ungeheuerlicher politischer Naivität, was die Methode des Kampfes angeht. Endloses Demonstrieren für abstrakte politische Forderungen, unabhängige Medien wie Tut.By und NEXTA (Hallo, Roman Protassewitsch!) heizen die Stimmung auf, die Schlacht der Bilder eskaliert und Lukaschenko gibt auf. Sonst gab es keine Organisation und keinen weiteren Plan.Leute, die den Denkfehler bereits damals gesehen haben, haben eben auf die Aktion der Arbeiterschaft gehofft.

Und nun – die heroischen hämmerschwingenden Arbeiter in einer Front mit ihren Klassenfeinden? Genau darum geht es hier. Tichanowskaja und Co haben tatsächlich einen Stand innerhalb der Arbeiterklasse, das sind eben diese neu entstandenen Streikkomitees, die überall zu Streiks für politische, aber merkwürdigerweise nicht für ökonomische Forderungen aufgerufen haben. Die Streikkomitees sind so was wie politische Clubs der Tichanowskaja-Partei in den Betrieben. Warum soll es das nicht geben? Nur haben sie meistens versucht, entweder einen Generalstreik anzuzetteln, für die der Großteil der Belegschaften einfach nicht bereit war oder zu völlig kuriosen „Individualstreiks“ aufgerufen. Was im Prinzip nur dazu geführt hat, dass die Aktiven in den Betrieben frühzeitig geoutet und gefeuert wurden. An eigenständigen Aktionen bzw. ökonomischen Forderungen hat die Opposition kein Interesse, für sie wäre, sagen wir mal, ein Sieg in einem Arbeitskonflikt, nur eine unbedeutende Zwischenstation. Und sie wollen das große Ganze, Verhandlungen, Absicherungen, Zwischensiege sind nichts für sie. Sie verheizen lieber AktivistInnen für brisanten Mediakontent. So geschah z.B. beim Streik in „Belteleradio“: Die Belegschaft fast vollständig gekündigt und durch russische Medialeute ersetzt. Hier am Beispiel des Streikkomitees in „BelKalij“ in Soligorsk wird dieser Sachverhalt noch etwas konkreter erläutert, zieht euch das ruhig rein, das Video hat englische Untertitel:

Die Klassenorganisationen haben ihre lehre daraus gezogen und existieren angeblich, zumindest laut „Zabastobel“, entweder in Form unabhängiger Gewerkschaftsinitiativen oder informell und illegal, um unter dem Radar der Repression zu bleiben. Weiterer Verlauf dieser Sache ist momentan trotz ungeheurlicher Repression, die immer noch nicht aufgehört hat,ungewiss. Tichanoswkaja ruft indes zu weiteren Protesten auf, irgendwas neues fällt ihrem Stab nicht ein.

Vielleicht fällt bereits jemand auf: Ungefähr dasselbe spielt sich auch in Russland ab. Ich habe nicht vor, mich darüber zu echauffieren, dass Nawalny aus dem Mittelstand kommt und sich in erster Linie dem mittleren und großen Business verpflichtet fühlt. Auch nicht darüber, dass er offensichtlich bedeutende Freunde entweder in der Politik oder im Business hatte, die ihn mit Geld und Insider-Informationen versorgt haben. (Die Privatspenden, die immer stolz als Zeichen der Demokratisierung und Offenheit präsentiert wurden, waren in seiner Buchführung eh nur peanuts). Der Kreml, wie es im Volksmund heißt, hat mehrere Türme und müssen nicht unbedingt einander mögen. Warum auch nicht? Bloß genau so naiv und auf den Kampf unvorbereitet wollte man das Regime Putin, das sich seit mindestens 10 Jahren auf den inneren Krieg vorbereitet hatte, „friedlich, bunt und lautwegdemonstrieren. Vor selbständiger Tätigkeit der Massen hatte man dagegen Angst: Bilder von brennenden Botiquen aus den USA, die die BLM-Bewegung produziert hatte, verstanden die Liberalen sehr deutlich. Der regelrechte Persönlichkeitskult tut sich großartig für die Agitation, die Verhaftung Nawalnys legte seine Organisation fast lahm, die dazu noch mit dem Extremismus-Label belegt wurde. Grob gesagt, das war‘s, einen Plan und überhaupt eine Bereitschaft, illegal weiter zu arbeiten, war nicht vorhanden. Sein Stellvertreter Wolkow bremste die Proteste im Januar 2021 auf und rief stattdessen zu einer zahnlosen Lichteraktion auf, die bestenfalls zur Herausbildung von Nachbarschaftskomittes hätte führen können. Aus der Ecke haben wir bis jetzt auch nichts gehört.

Was vielleicht etwas weniger bekannt ist, die Anti-Korruptions-Stiftung hat auch versucht an die soziale Frage und an die Gewerkschaften anzudocken. Man rief sogar auf, neue unabhängige Gewerkschaften zu gründen, aber nur in den staatseigenen Betrieben, um die Interessen der Wirtschaft zu wahren. Dementsprechend haben die Versuche nicht viel gefruchtet, aus der sozialen Ecke der „Nawalny-Bewegung“ hat man bis jetzt nicht viel gehört. (Außer einer ÄrztInnen-Vereinigung vielleicht, auf deren Gründerin Anastasija Wassiljewa die nationalbolschewistische Leserschaft des „neuen deutschland“ vor lauter linken Bauchgefühlen mit etwa solchen Facebook-Kommentaren reagiert: „Sie ist ne blonde Bitch mehr nicht, auch ja noch eins, Sie hat [Scheiße] im Kopf“, um nur ein Beispiel zu nennen).

Das sollte man bedenken. Ich will zwar keinen Partisannenkult oder dergleichen betreiben, so was kann auch sehr schnell und sehr blöd und vor allem ohne jegliches Nutzen nach hinten los gehen. Aber die Wahl der Mittel und der Taktik liegt nicht vollständig bei uns. Seid schlau, seid nicht wie Swetlana und Alexej.

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