Glanz und Ende des Queerfeminismus

Von Jörg Finkenberger

Es wird wieder einmal viel über den Queerfeminismus geredet, und alle Beteiligten tun so, als wüssten sie genau, was das ist. Als redete man über einen feststehende, in sich zusammenhängende Strömung oder Lehre, die man dann annimmt oder ablehnt. Mir will dieser Trick auch bei längerem Nachdenken nicht gelingen; mir scheint der Queerfeminismus im Gegenteil ein Bündel von Ideen zu sein, die auch bei grosser Anstrengung nicht zusammenhängen wollen. Oder genauer gesagt, ein Bündel von Ideen, die nicht von eigener Logik zusammengehalten werden, sondern von einem Traum, oder neutraler gesagt vielleicht einem unwiderstehlichen Wunsch.

Über einen Traum lässt sich schlecht streiten. Entweder man teilt ihn, oder man teilt ihn nicht. Aber man kann auch nicht aus einem Traum heraus argumentieren, so als ob man die, die ihn nicht teilen, auf ihn verpflichten könnte. Wenn nicht alle ihn, auf irgendeine Weise, teilen, dann wird er wirklich nur ein Traum bleiben.

Alle Bewegungen, die auf Veränderung, oder sagen wir ruhig Befreiung, ausgehen, stehen vor diesem Problem. Es ist ganz normal für solche Bewegungen, dass sie nicht genau zu sagen wissen, was sie sind und wo sie hinwollen. Aber es ist auch bekanntlich ganz normal für Bewegungen, dass sie sich verlaufen, dass sie scheitern, dass sie gezähmt und von ihrem Feind sich dienstbar gemacht werden. Eine lebendige Bewegung hat sich mit solchen Gefahren auseinanderzusetzen und tut das in der Regel auch deutlich hörbar. Man hört aber alarmierend wenig derartiger Befürchtungen aus den Reihen des heutigen Queerfeminismus, man fürchtet fast, es könnte schon längst geschehen sein.

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Wenn man in den 1990ern jung war und das, was man heute queer nennt, kam man in eine Welt, die etwas anders aussah als die heute; vielleicht aber nicht ganz anders, und es lohnt sich vielleicht, diesen Unterschied einmal anzusehen. Auch wir waren gerade unseren Familien entkommen, und wir hofften, damit irgendwie der herrschenden Geschlechterordnung entkommen zu können.

Wir wussten alles über die Welt, aus der wir herkamen, aber nichts über die, die wir uns errichten wollten. Wir kannten auch unsre Sehnsüchte und wussten, dass in der alten Welt kein Platz für sie war. Aber wir verstanden in Wahrheit gar nichts über die alte Welt; dass sie zäh überdauerte, erstaunte uns masslos; wir begriffen nicht die normalen Menschen und ihre Wünsche, wir erkannten uns in ihnen nicht wieder, es war im Gegenteil unser Bedürfnis, anders als sie zu leben.

Das ist bis zu einem bestimmten Punkt unvermeidbar. Aber ab diesem Punkt rächt es sich. Was hat denn diese alte Welt zusammengehalten? Blanke Unterdrückung kann es nicht sein. Man verfällt dieser Idee unwillkürlich, weil man nur die eigne Perspektive kennt, und das ist an diesem Punkt die des Kinds, das gerade erst der elterlichen Macht entwachsen ist. Und die elterliche Macht ist als blanke Unterdrückung durch eine äusserliche Macht erfahren worden. So stellt man sich die Gesellschaft zunächst vor: entweder als eine grosse Verschwörung aller gegen die eigne Entfaltung, oder als ein allgemeiner Zusammenhang aus nichts als blanker Unterdrückung.

Man könnte es als unreife Idee eines bestimmten Lebensalters abtun, aber es ist ja doch Wahrheit in ihr. Nur dass diese Wahrheit in unsrer Gesellschaft nicht leicht in ihrem Zusammenhang begriffen werden kann. Die Erfahrungen der verschiedenen Lebensalter finden nicht zusammen, sie treten einander unbegriffen gegenüber. Später wird man auch nichts begreifen, wenn man die eigenen Freunde ein sogenanntes normales Leben beginnen sieht, man wird es vielleicht als Verrat empfinden, aber man wird nicht begreifen, warum es geschehen kann: so wie niemand seine eigenen Eltern kannte, als sie jung waren; sie hatten ganz ähnliche Träume.

Mit dem Traum, das wäre zu begreifen gewesen, ist noch gar nichts getan. Die ganze Gesellschaft selbst ist aus ihm gewebt; selbst ihre oppressiven Aspekte. Will man Veränderung? Dann muss man die Fäden auffinden, die den Traum, wie man ihn selbst kennt, mit dem verschütteten Traum, den alle teilen, verbinden. Er ist dann kein Traum mehr, sondern mächtige Realität. Aber wenn man das eingesehen hat, ist man alt darüber geworden.

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In den 1990ern kam man in eine schwule oder lesbische Szene, die es in dieser Form heute nicht mehr gibt. Sie war noch geprägt von den Bewegungen der 1970er und 1980er; sie hatte feste Einrichtungen, es gab in einer Stadt wie der meinen 3 klare Szenelokale, und man war auf diese mehr oder weniger angewiesen. Es gab die politischen Einrichtungen der Lesben- und Schwulenbewegungen; Vereine mit ausgeprägtem Selbsthilfecharakter, die der Szene eine gewisse Struktur gaben, auch wenn sie natürlich die Szene im ganzen niemals repräsentiert hatten. Sie trugen sich aus Beiträgen, und aus den Einnahmen ihrer Veranstaltungen; sie waren auch die einzigen, die Gaydisco oder FrauenLesben-Disco veranstalteten im örtlichen autonomen Kulturzentrum. Das waren auch für uns die Anlaufpunkte; und soweit überhaupt Wissen weitergegeben wurde, war es in diesen Strukturen.

Es waren natürlich zwei weitgehend getrennte Szenen, die Schwulen und die Lesben. Über einzelne persönliche Freundschaften hinaus hatten ihre Welten eigentlich keine Berührung. Wie auch? Und die Bewegungen dazu standen auch nicht gut miteinander, eigentlich sprachen sie nicht mehr miteinander seit den 1980ern.

Das hatte tiefere historische Gründe; die erste Schwulenbewegung war bis Mitte der 1970er der zweiten Frauenbewegung gar nicht ferngestanden; beide waren anscheinend, nach ersten Erfolgen, dann in eine Krise gekommen und auseinandergefallen. Die Erfolge mögen eine Rolle gespielt haben; das umfassendere Ziel, das sie einmal verbunden hatte, wurde vielleicht von beiden aufgegeben. Man vergleiche einmal Shulamith Firestone „Frauenbefreiung und Revolution“ und Rosa von Praunheims „Nicht der Schwule ist krank, sondern die Gesellschaft, in der er lebt“; es sind keine völlig verschiedenen Welten, sie reden von etwas sehr ähnlichem: von einer weitgehenden Veränderung. Von einer Befreiung, die die Befreiung des anderen einschliesst, nicht ausschliesst. Es ist diese Idee, die immer wieder abhanden kommt und in jedem Zeitalter neu gefunden werden muss.

Die Bisexuellen passten nicht besonders gut in diese Szenen hinein, noch weniger als irgendjemand anders. Die Bisexuellen konnten dort sein, aber sie mussten nicht. Die anderen hatten nichts anderes, wo sie sein konnten. Das erzeugte oft eine seltsame Assymetrie: die Bisexuellen waren öfter die, die eher an grossartigen Ideen hingen als die Schwulen. Das kommt, weil es für uns ein Abenteuer war, für die Schwulen ihr normales Leben. Das gab unseren Vorstellungen von dem, was wir da taten, zweierlei: erstens einen gewissen Überschwang, aber andererseits auch eine Realitätsferne. Uns nervte auch der Mief, den es in der schwulen Szene gab; wir redeten uns auch leicht, wir waren im Grunde nicht auf sie angewiesen. Umgekehrt betrachtete man uns Gestaltwandler mit völlig berechtigtem Misstrauen; wir konnten, und die meisten würden auch irgendwann, ein normales Leben führen, da lassen sich leicht grosse Reden schwingen.

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Die ganze Szene änderte sich im Jahr 1999 mit dem Gesetz über die eingetragenen Lebenspartnerschaften. Fast von einem Monat auf den anderen; auf eine Weise, die niemand vorhersehen hatte können. Auf einmal bot z.B. jede stinkende Disco eine Gaynight an; ein Jahr vorher hatte man diese Zielgruppe nicht mit der Ofenzange angefasst. Aber da stand dann nicht der örtliche Schwulenverein am Einlass; die Schwulenbewegung verlor binnen kurzer Zeit extrem an Einfluss in der eigenen Szene, und natürlich auch die Eintrittsgelder. Den Ausfall spürten ja auch die linken Kulturhäuser; es war meistens der grösste einzelne Einnahmeposten gewesen.

Die Szene entpolitisierte sich schnell, von unsrer Perspektive aus gesehen. Für die Schwulen war es wahrscheinlich völlig anders. Das waren, anders als wir, völlig normale Menschen, die nur künstlich in ein unnormales Leben gedrängt gewesen waren. Für uns war das unnormale daran gerade das wichtige daran. Die bürgerliche Emanzipation der Schwulen und Lesben gab uns natürlich nichts.

Das klingt, wenn man es so ausspricht, sehr selbstgerecht, aber warum es nicht aussprechen, da es doch so gewesen ist? Es ist ja auch daran eine Wahrheit, und wir waren nicht die einzigen. Es gab, natürlich öffentlich kaum beachtet, einige Restbestände von radikalem Denken aus der ersten Schwulenbewegung; Leute, denen diese Veränderung zu kurz griff. Und es gab ausserdem eine ganze Reihe anderer Gruppen, die sich geschlechtlich marginalisiert fühlten und Ansprüche anmeldeten.

Aber die damals sogenannte Homoehe, sie ist erst später auch rechtlich ganz in den Begriff der Ehe hineingenommen worden, hatte noch eine andere Dimension, die uns damals nicht ganz klar war. Sie war überhaupt nur möglich, weil die gesellschaftliche Bedeutung von Ehe und Familie verschoben worden waren. Die ältere Auffassung, man kann sie bei Hegel finden oder in einem BGB-Kommentar der 1970er, betrachtete die Ehe als die vorgesehene Rechtsform sowohl des ganzen Geschlechtslebens, als auch des Geschlechterverhältnisses; und die auf die Ehe gegründete Familie als den vorgesehenen Ort der Kinderaufzucht.

Früher, bis in die 1970er, hat der Gesetzgeber auch noch deutlich ausgesprochen, dass die Voraussetzung einer solchen Gesellschaft nur die dauerhafte Unterordnung der Frauen, die dauernde Herrschaft der Männer sein kann. Gegen genau diese Zustände, in denen die Frauen im Grunde Eigentum der Männer waren, hatte sich die zweite Frauenbewegung gerichtet. Es waren aber auch die Männer, die sich an die Ehe nicht mehr gebunden fühlten; die Scheidungsraten steigen seit den 1970ern. Das frühere gesetzliche Leitbild von Ehe und Familie ist unhaltbar geworden; es ist aber nicht durch eine grundlegend andere Geschlechterordnung ersetzt worden, sondern die bestehende Ordnung wurde einfach erweitert, um neue Gruppen aufzunehmen. So funktionieren Reformen immer im liberalen Staat. Die Opposition lässt sich von solchen Erfolgen gewöhnlich ihre Vorstellungen von grundlegender Veränderung abkaufen. Die heute vorherrschende sogenannte Identitätspolitik ist auch davon ein Ergebnis.

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Auf die sexualpolitischen Reformen der 1990er folgte eine allgemeine Entpolitisierung, als ob das Ziel nunmehr erreicht wäre. Es sind darüber viele Traditionen abgerissen. Die Generationen, die danach kamen, kamen in eine Szene, die kein institutionelles Gedächtnis mehr hatte. In den Schwulenvereinen z.B. wurden noch die Geburtstage oder Hochzeiten der Gründungsmitglieder gefeiert, aber sonst kam oft nicht mal mehr das jährliche Grillfest zustande. Bei der Frauenbewegung sah es noch schlimmer aus.

Was übrig geblieben war, und dazu gehörten Leute wie wir, sortierte sich neu. Und ich kann nicht sagen, dass das zum Besten ausgegangen ist. Die ja nicht mehr neue Idee der Befreiung, umstritten wie sie immer gewesen sein mag; jetzt, wo sie, wie wir dachten, in unsre Obhut geraten war, wie gut haben wir denn die Sache gemacht?

Die speziellen Bisexuellen-Ideen dieser Zeit waren typische Beispiele von einem sehr luftigen und leeren Radikalismus. Wir dachten ungefähr: unsre eigne radikale Existenz ist selbst ein dauernder Einspruch gegen die bestehende Geschlechterordnung. Und nicht nur das, in ihr ist die Überwindung dieser Geschlechterordnung schon angelegt. Sie ist auch nicht in die Geschlechterordnung integrierbar, sie ist unbeständig und fliessend. Sie ist subversiv gegenüber der bestehenden Ordnung, und sie gehört selbst schon einer anderen und besseren Welt an.

Nun ist es sicherlich gut, zu wissen, was daran alles falsch war. Das ist aber erst die eine, sogar die einfachere Sache. Interessanter ist, was daran trotzdem wahr genug gewesen ist, dass es so verlockend war zu denken. Es war ja nicht nur Selbstverliebtheit und Verblendung. Nicht nur! Nur zu einem bestimmten, sehr hohen Grad, und sicherlich mehr, als es ohnehin unvermeidlich ist.

Waren wir subversiv? Ja, aber auf sehr beschränkte Weise. Unsere Gedankenwelt war eingeschränkt auf das, was junge Männer in unsrer Lage denken. Wir hatten gar keinen Zugang zu den Fragen, die sich für Frauen stellen, und auch die jungen Frauen unter uns haben sich diese Fragen wenn, dann ausserhalb unsrer Zusammenhänge gestellt. Der grösste Teil ihrer Realität kam deshalb in unsren gemeinsamen Gedanken nicht vor, und wenn, dann als Hindernis; als etwas, das man verneinen muss. Und ich sehe ehrlich gesagt nicht, dass das seither anders geworden ist. Wie kann das gut ausgehen? Es ist auch nicht.

Es ist nicht falsch, die allgemeine Befreiung von der eignen Lage aus und der eignen Erfahrung angehen zu wollen. Es ist nur verarmt, und anfällig für Fehlurteile und Fanatismus. Aber falsch, grundfalsch und tödlich ist es, sich in Gegensatz zu bringen zu den berechtigten Ansprüchen anderer. Der erste Schritt auf dem Weg dahin ist der, sich als eine Art Avantgarde zu betrachten, die stellvertretend für andere denkt und handelt. In Wahrheit wird man zu einem Werkzeug des Feinds.

Nicht wir wenigen Existenzen werden die Veränderung herbeiführen, und nicht wir wenigen haben darüber zu entscheiden, sondern andere, viel mehr als wir; die heute vielleicht noch nicht ahnen, dass sie das wollen; und diese dafür zu verachten, diese als den Feind zu behandeln, das ist nicht einfach nur falsch, sondern es ist Verrat, und es führt in den sicheren Untergang.

Die eigne empfundene radikale Existenz alleine verbürgt nichts, berechtigt zu nichts, ermächtigt zu nichts, macht einen nicht zu der ersten Reihe; man denkt sich das nur, und solches Denken führt in die Sackgasse der Anmassung. Es gibt einen Grund, warum Szenen wie die unsre ein Magnet für pathologische Narzissten werden, mehr noch als politische Szenen das ohnehin sind. Und es ist später, für die heutige queerfeministische Szene, nicht anders geworden.

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Ich habe davon gesprochen, dass Traditionen abgerissen sind, und von Bewegungen, die der Szene eine Struktur und feste Anlaufpunkte gegeben haben. Ich will ein Beispiel davon geben. Irgendwann als junger Mensch beginnt man zu ahnen, dass man nicht so empfindet, wie das richtige Männer oder richtige Frauen angeblich tun. Man ahnt ja nicht, weil es einem niemand sagt, dass auch diese nicht so fest und glücklich sind, wie sie tun; sondern man meint nicht anders, als dass alle ganz genau wissen, was sie wollen, und alle vollständig zufrieden mit der Geschlechterrolle sind, die die Welt für sie anscheinend unabänderlich vorsieht.

Man glaubt das auch deswegen, weil alle sich das anscheinend ständig gegenseitig versichern. Aber sie tun das ja nicht aus Sicherheit, sondern aus Unsicherheit. Sie suchen alle nach Mitteln und Wegen, wie sie das, was sie selbst wollen, in Einklang bringen mit dem, was anscheinend der allgemeine Wille und das vorgezeichnete Schicksal ist. Genau deswegen ist dieser anscheinend allgemeine Wille nicht allgemein, und das Schicksal nicht vorgezeichnet, sondern beides ist änderbar, aber erkläre das mal dir, als du 12 warst.

Wir unterscheiden uns von den vermeintlich glücklichen anderen auf der einen Seite gar nicht so sehr. Kaum jemand zittert vor Vorfreude auf ein Leben in der vorgezeichneten Bahn. Der Unterschied liegt darin, ob man sich zutraut, sie gehen zu können und sein Glück dabei zu finden. Und auch das tun die meisten nicht ohne weiteres. In demselben Alter fangen sie an, mit Nachdruck die Unsitten ihrer Eltern und Grosseltern zu übernehmen. Bei uns gaben die Knaben sich seltsamerweise plötzlich die Namen ihrer Väter oder Grossväter als Spitznamen. Zwischen der Anstrengung, die man auf sich nimmt, um unbedingt tauglich fürs vorgesehne Leben zu werden, und der Verzweiflung daran ist aber in Wahrheit nur ein kleiner Schritt gewesen; am Ende war es vielleicht Zufall, wer ihn tat.

Hinter alle dem liegt Selbsthass. Auch die konformierenden treibt er an; warum sonst die Anstrengung, plötzlich so ausgeprägt männlich oder weiblich sein zu wollen. Man weiss doch in dem Alter noch weniger als später, was das überhaupt sein soll. Eines will man jedenfalls nicht sein, nämlich das, wie man war. Warum wohl? Es wird heute kaum noch über die Schrecken der Kindheit gesprochen in unseren Kreisen; Shulamith Firestone hatte ein grossartiges Kapitel darüber, in ihrem Buch von 1970, aber wenn es heute anders wäre, warum widerspricht dann auch heute niemand, wenn man Sätze sage wie: Familie ist ein Trauma?

Wie soll man über diese Dinge vernünftig reden, ohne über die Pathologie dieser Gesellschaft zu reden? Praunheim hatte doch Recht mit dem grossen Satz: „Nicht der Schwule ist krank, sondern die Gesellschaft, in der er lebt.“ Ist sie heute auf einmal gesund? Bei uns zuhause in den 1990ern haben es die Schwulenvereine zu Recht als lebenswichtige Aufgabe angesehen, genau diese Botschaft zu vermitteln an die verunsicherten und verzweifelten jungen Leute, die sich an die örtliche Rosa Hilfe wandten: du bist nicht falsch, mit dir ist alles in Ordnung, glaube uns das, bei uns ist nicht einer, dem es nicht auch so ging; du musst nicht irgendetwas an dir machen. Es ist eine schwere Zeit jetzt, aber es wird besser.

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Ist das noch so? Was ist denn der vorgesehene Gang der Dinge für, wie man Leute wie uns heute nennt, gender-nichtkonforme Jugendliche? Es gibt ja mittlerweile einen solchen vorgesehenen Gang der Dinge, es gibt Beauftragte an den Schulen, es gibt Beratungsstellen, das wird alles von Obrigkeits wegen betrieben und hat entsprechende Leitlinien. Ist das gut?

Das kommt wohl darauf an, wen man erwischt. Im obrigkeitlichen Apparat sind immer viele zuständig, aber niemand verantwortlich. Man hat einen Fall, man hat seine Vorschriften, und das Ziel ist, den Fall an die nächste zuständige Stelle weiterzureichen. Gegenstand des Verfahrens sind verzweifelte Kinder und deren mehr oder minder hilflose Eltern. Weitere Verfahrensbeteiligte sind alle möglichen Verbände, die alle fürs Ergebnis auch nicht verantwortlich sind, aber ihre eigne Agenda und ihr eignes Interesse zu wahren haben.

Und alle gehen davon aus, es mit etwas von der Norm abweichendem zu tun zu haben. Aber von der Pathologie der Gesellschaft ist die Rede nicht mehr. Der Selbsthass der Jugendlichen, der diese Pathologie ausdrückt, wird verwaltet. Verstehen wir ihn doch einmal wieder als einen Einspruch gegen die Geschlechterordnung; wird er nicht zum Schweigen gebracht? Er wird auf keinen Fall ernst genommen. Wie denn, wenn die Gesellschaft gar nicht krank sein soll? Die einzigen Lösungen, um die es da gehen kann, sind individuelle.

 

Versteht man, was für eine grundsätzliche Verdrehung da vorgenommen wird? Wie viel Boden eigentlich der Apparat gewonnen hat, wie weit die Verteidigungslinien der bestehenden Geschlechterordnung vorgeschoben worden sind?

Aber alles natürlich im Namen der Hilfe. Man hat auch etwas, das man immer noch „affirmativen Ansatz“ nennt. Aber besteht der denn noch darin, den jungen Menschen zu sagen: du bist in Ordnung, mit dir ist nichts falsch, nicht du bist es, der das Problem hat? Hilft man den jungen Menschen, mit ihrem Selbsthass klarzukommen, ja hat man von diesem Selbsthass überhaupt einen Begriff? Wie könnte man, wenn man nicht wagen kann auszusprechen: diese Gesellschaft ist krank, und sie macht ihre Insassen mehr oder weniger krank? Und wie könnten die Organe des Staats das aussprechen.

Statt dessen soll der „affirmative Ansatz“ diejenigen Vorstellungen bestätigen, die der nichtkonforme Jugendlich sich macht, um sein Leiden zu rationalisieren. Und diese Vorstellungen sind solche, die aus der Pathologie der Gesellschaft selbst stammen. Sie werden dem Jugendlichen nahegelegt, von dem Milieu, in dem er aufwächst; jedes Milieu ist hier konservativ, es mag wollen oder nicht; von der öffentlichen Meinung, die sich noch nie genauer mit etwas befasst hat; von den zuständigen Stellen und ihren Leitlinien, die die „Fälle“ so reibungslos wie möglich abwickeln wollen; und von Eiferern aus irgendwelchen Verbänden, die auch niemandem Rechenschaft schuldig sind. Von „dem Internet“ ganz zu schweigen, wo sowieso nur Spezialisten unterwegs sind.

Auch wir waren einmal geschlechts-nichtkonforme Jugendliche, und die meisten von uns sind schwul geworden, lesbisch oder bisexuell. Und es war, wie ich sagen möchte, auch gut so. Aber wir hatten auch keine Vertrauenslehrer, die frühzeitig versucht hätten, für unser Problem eine Lösung zu finden. Wie hätten sie das denn anstellen sollen? Und was hätten wir ihnen denn zu sagen gewusst? Nichts gescheites, weil wir es selbst nicht wussten, woher denn auch? Und wenn sie das verrückte Zeug, was wir da gesagt hätten, auch nicht hätten hinterfragen dürfen, sondern hätten uns darin bestätigen müssen! Das wäre sicherlich auch gut ausgegangen.

Und heute geht das besser aus? Glaubt man etwa, dass nicht auffällig viele von unsrer Sorte heute mit Pubertätsblockern und sogenannter geschlechtsangleichender Therapie behandelt werden? Weil den vielen sicherlich wohlmeinenden Leuten, die alle nur teilweise für sie zuständig sind, nichts besseres einfällt, und weil sie keine Ahnung haben von dem, wozu pubertärer Selbsthass in der Lage ist, und wo er herkommt? Sie müssen ja wie alle normalen Erwachsenen sich einreden, so etwas selbst gar nicht zu kennen. Wie kann das gut sein, was da herauskommen muss?

Ich höre nicht, dass von queerfeministischer Seite solche Fragen gestellt würden. Ich höre nicht, dass solche Fragen auch nur geduldet würden. Sie werden normalerweise als böswillige Hetze behandelt. Das ist auch eine Form, die die Pathologie unsrer Gesellschaft anzunehmen im Stand ist. Aber ohne diese Fragen zu stellen, wie wollt ihr sie denn beantworten können? Oder glaubt ihr, man wird einfach davon absehen, sie zu stellen? Das hiesse, dass es nie mehr Subversion geben würde. Das hat sich jede Ordnung schon immer gewünscht, und immer vergebens.

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Die Frage, wie treu der heutige offizielle Queerfeminismus dem alten Traum geblieben ist, brauche ich nicht mehr beantworten. Es geht von ihm keine Gefahr für die bestehende Geschlechterordnung aus; sondern er gehört zu ihren Stützen. Es ist nötig, etwas neues aufzubauen. Der Feindschaft alles Bestehenden darf man sich gewiss sein. Aber das ist nichts neues; das war immer so, und wird noch eine Weile so sein. Es hat nie jemanden von etwas abgehalten, wenn die Zeit gekommen war.

Wie es soweit kommen konnte, darüber wird noch zu nachzudenken sein. Ich gehöre nicht zu denen, die solche Gründen in der Literatur finden wollen. Man kann z.B. Judith Butler lesen, die es irgendwie zu schaffen scheint, alle diese Dinge unter einen Hut zu bekommen. Butler schafft es bekanntlich, das biologische Geschlecht als gesellschaftlich bedingt und umgekehrt das gesellschaftliche Geschlecht als eine unabänderbare Tatsache dastehen zu lassen; das ist ein ganz normales Verhalten für Philosophen, Hegel hat ganz ähnliche Kunststücke vollführt, und er hat niemanden überzeugt als andere Philosophen, diese aber völlig. Es sind nicht die Philosophen, die die Bewegungen erschaffen. Fragen wir also nicht nach den Philosophen! Fragen wir nach den Gründen, warum die gewöhnlichen Menschen sie nicht auslachen.

Im menschlichen Verstand steht, wie auf der menschlichen Netzhaut, die Welt sozusagen Kopf. Das ist für den menschlichen Verstand normal, und er hat da Korrekturmechanismen, etwa den Selbstzweifel. Es gibt aber Spezialisierungen des Verstands, für die man sich diese Korrekturmechanismen abtrainieren lassen muss; es gibt bekanntlich keine Sorte Dummheit, die durch ein Hochschulstudium nicht noch schlimmer würde. Der Grund dafür liegt in der Art unsrer Gesellschaft; die so spezialisierten Intellektuellen sind die, die für andere denken sollen und im Namen der anderen. Dafür können sie leben, ohne zu arbeiten. Diese Arbeitsteilung kommt von der Herrschaft; diese Intellektuellen sind eigentlich ausgebildete Hilfskräfte der Menschenverwaltung. Das färbt auf die Art ab, wie sie denken; man lernt an der Hochschule, die Lebensansichten der gewöhnlichen Leute geringzuschätzen, aber sogar auch die eigene Erfahrung; und man lernt, sie durch synthetisches Wissen zu ersetzen, d.h. man lernt Anmassung und gezielte Dummheit. Wenn es aber eines gibt, was die Herrschaft sich nicht leisten kann, ist es Selbstzweifel.

Das wenige, was solche Intellektuellen verstehen können, das müssen sie danach ganz und gar glauben, und verteidigen es dann mit aller Bosheit und Hinterlist. Sie müssen es wirklich; ihre gesellschafliche Stellung hängt daran. Die Nicht-Eingeweihten haben zu schweigen; was wäre sonst der Punkt daran, ein Intellektueller zu sein? Der Gegenstand, von dem so gesprochen wird, ist dann von vorneherein verraten und verkauft.

Jede Bewegung, die unter ihre Vorherrschaft gerät, hört auf, subversiv zu sein. Sie wird in der Menschenverwaltung aufgehen. Bewegungen von Minderheiten sind dafür besonders anfällig. Wer wird sie beherrschen, wenn nicht die Studenten? Ansonsten werden sie, in Zeiten so weitgehender Entpolitisierung, untergehen. Es gibt heute Scheinbewegung, oder es gibt gar keine Bewegung. Wird das immer so bleiben? Kaum. Der Schatten der 1990er ist lang, aber man wird zuletzt auch aus diesem heraustreten, und man beginnt schon. Es werden auch einmal wieder andere Fragen gestellt werden, und von anderen Leuten! Und die werden sich wohl nicht ewig abschrecken lassen von den unsinnigen Phrasen, mit denen heute das ideologische Territorium markiert wird, und die bestehende Ordnung verteidigt.

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