Was wäre die Kritik der heutigen Pseudo-Linken ohne Berlin? In Berlin tritt alles, was anderswo nur eine ungreifbare Tendenz ist, als eine eigene greifbare Realität auf. In Berlin scheint alles völlig anders zu sein als in der Provinz, aber in Wahrheit ist Berlin nur der Zerrspiegel, der ins überdeutliche vergrössert das zeigt, was man anderswo noch abstreiten kann.
Sehen wir uns also nocheinmal berliner Vorgänge an. Wir haben hier einen, der uns eine Reihe von ernsthaften Fragen aufwirft: entweder nach dem Zustand der heutigen linken Szene, oder nach ihrem Charakter, oder nach der Zukunft, die sie haben kann.
Für den 30.8.2022 hatte der Verein „Sisters e.V.“ im Nachbarschaftshaus Kreuzberg einen Filmabend mit anschliessender Diskussion angekündigt. Sisters e.V. ist ein Verein, der sich mit Armutsprostitution befasst und Ausstiegshilfe anbietet.
So weit, so gut. Aber es ist Berlin 2022, und deswegen gab es erstens einen Protestaufruf nebst Forderung, die Veranstaltung abzusagen, und zweitens die wirkliche Absage durch das Nachbarschaftshaus Kreuzberg.
Das sind zwei getrennte Vorgänge, die wir getrennt betrachten werden müssen. Sie werden uns zwei einander ergänzende Dinge lehren.
1. Für die Diskussion waren u.a. Aussteigerinnen aus der Prostitution angekündigt, die die Prostitution erlebt haben als ein rassistisches Ausbeutungs-System, und sie als solches auch beschreiben. Das ist den wenigen, die sich entschieden haben, ihnen zuzuhören, auch nicht unbekannt.
Lassen sich ernsthaft Teile der berliner linken Szene dazu mobilisieren, diesen Leuten den Mund zu verbieten? Das wäre schwierig, ausser man formuliert es anders. Es ändert zwar an der Sache nichts. Aber es sagt uns etwas über die Art, wie hier gedacht wird.
#NoFundis in Kreuzberg!#thread – please read! https://t.co/MXqYNoVJnd
— @Demo_Ticker_Berlin@todon.eu (@BerlinDemo) August 27, 2022
Der erste Aufruf, der so auch von einigen Demo-Tickern geteilt wurde, lies durchblicken, es ginge hier gegen christliche Fundamentalisten. Auf die Weise reitet man auf der Mobilisierung gegen den „Marsch für das Leben“. Und offenbar rechnet man sich aus, dass das zieht.
Sisters e.V. hatten einen Beitrag einer Rednerin von „Gemeinsam gegen Menschenhandel e.V.“ angekündigt. Das ist in der Tat eine christliche Vereinigung. Sind es Fundamentalisten? Ich habe eine schlechte Nachricht für euch, Freunde: es gibt einen ganzen Haufen Christen da draussen. Und noch eine schlimmere: viele davon tun gute Arbeit, und die Linken arbeiten mit ihnen zusammen.
Vor ein paar Jahren, als die Abschiebeflüge nach Kabul flogen, waren es nicht die Leute mit den patentiert richtigen Ansichten, die uns begegnet sind, als wir die afghanischen Flüchtlinge aufgesucht haben, sondern Leute von der katholischen Kirche. Wir haben sie nicht nach ihrer Meinung zur Abtreibung gefragt. Wir haben mit ihnen zusammengearbeitet, wir sind darauf stolz und wir werden es jederzeit wieder tun. Was die Leute mit den patentiert richtigen Ansichten wert sind, haben wir damals nämlich ganz genau gesehen. Und so, nehme ich an, halten es auch Sisters e.V., und sie tun gut daran.
2. Auf Dauer reicht wohl #nofundis als Begründung nicht aus; es sind wohl noch eine Reihe anderer Dinge über Sisters e.V. in Umlauf gesetzt worden, auf einige davon wird z.B. hier eingegangen. Aber es lassen sich natürlich beliebig viele Gerüchte ausdenken, die man glauben kann, wenn man sie glauben will.
Die Organisation, von der der Aufruf in diesem Fall herrührt, nennt sich Sex Worker Action Group und tritt auf als Gruppe von Leuten, die „Sex Work“ betreiben. „Sex Work“ ist ein interessantes Wort, es ist dafür gemacht, das traditionelle Bild von der Prostitution zu ersetzen durch ein modernes, sauberes, selbstbestimmtes. Aber dadurch, dass man das Bild von einer Sache ändert, ändert man die Sache noch nicht. Über die Zustände im Bordellwesen und der Armutsprostitution erfährt man auch auf genau eine Weise, nämlich von denen, die diese Zustände kennen. Wenn diese Zustände sich als „Sex Work“ beschreiben liessen, bräuchte es nicht Vereine wie Sisters e.V. Was für Leute sind es, die daraus den Schluss ziehen: also muss man Sisters e.V. zum Schweigen bringen? Für wen und für was arbeiten diese Leute?
Sisters e.V. wollen, sagt die Sex Workers Action Group, eine Gruppe, die „criminalisation of our work“, was streng genommen falsch ist, weil Sisters e.V. das Verbot des Kaufs und nicht des Verkaufs von Sex wollen. Aber selbst wenn wir das zugestehen würden, was bleibt übrig? „Wir“ und unsere Lebensentscheidung zählen mehr als das Elend anderer; noch viel mehr, „unsere“ Belange wiegen sogar das Recht auf, über das eigene Erleben der Prostitution als rassistisches Ausbeutungssystem auch nur zu sprechen.
Ist es das, was aus der „Politik der ersten Person“ geworden ist? Dann habe ich wiederum schlechte Nachrichten für euch, berliner Linke: kein Wunder, dass eure Szene zu einem Magneten für gewisse Kinder der besseren Kreise geworden ist. Denn genau mit dieser Idee sind diese aufgewachsen: unsere Belange sind wichtiger als die von anderen Leuten, schon gar von solchen. Ihr wisst genau, was für Kinder besserer Kreise ich meine; ihr selbst wollt sie losbekommen. Von alleine geht das aber nicht, man wird sie entschlossen abschütteln müssen. Also los, nutzt den Moment!
3. Leicht wird es nicht werden. Diese Art von Aktivisten ist in linken Organisationen überall hineingelassen worden. Die Sex Worker Action Group z.B. arbeitet eng mit der „Queer_Feminismus AG“ der Interventionistischen Linken Berlin zusammen.
Teil der FAU Berlin ist eine „Sex Workers Union“, die den Aufruf natürlich unterstützt hat.
Dieser Verein hat seine Gründung als grosse Neuheit angekündigt, und in einer Szene, die kein Gedächtnis hat, schindet er wie die ganze Sex-Work-is-Work-Bewegung grossen Eindruck. Ja in der Tat, wäre es denn den Bordellprostituierten nicht viel mehr geholfen, wenn die Prostitution legalisiert und vom gesellschaftlichen Makel befreit würde? Seht her, wir haben jetzt sogar eine Gewerkschaft gegründet!
Es ist natürlich nicht das erste Mal, das diese Nummer abgezogen wird, und es wird auch diesesmal nicht anders ausgehen als die letzten Male. Eine solche Gewerkschaft wird nie die Armutsprostituierten organisieren, sie versucht es auch gar nicht ernsthaft; ihre Mitgliedschaft werden, wie jedesmal, gutbezahlte Escorts sein, die es sich aussuchen können und auch andere Möglichkeiten hätten. Also, wenn wir in der Metapher bleiben wollen, Freiberufler. Wenn deren Interessen dieselben wären wie die der Mehrzahl der Armutsprostituierten, würden sie vermutlich nicht so viel aufwenden, um sie zum Schweigen zu bringen.
Bisher interessiert das kaum jemanden in der Szene, und mangels ernsthaften Interesses sind es dann solche Gruppen, die in den linksradikalen Organisationen das Bild bestimmen: sie sind es, die in Sachen Feminismus und Prostituion die Aussenwirkung beherrschen, sie verstecken ihre eigenen Interessen hinter dem Namen einer grossen Organisation, und sie nutzen deren Infrastruktur, Respektabilität und Mobilisierungsfähigkeit.
Der Handel, der da geschlossen wird, ist sehr einseitig. Die Organsationen, die so etwas zulassen, werden allerdings bleibenden Schaden nehmen. Freie Debatte findet nicht statt, wo die Taktiken solcher Aktivisten vorherrschen. Aber die freie Debatte hat die Angewohnheit, sich für ihren Ausschluss zu rächen.
Namentlich die FAU Berlin muss sich Fragen stellen lassen. Niemand bestreitet das Recht, sich zu organisieren. Aber eine Gewerkschaft kann sich nicht von einer derart auftretenden Gruppe einfach kapern lassen. Nicht einmal die IG Metall lässt es zu, dass z.B. ihre Position zu Rüstungsfragen ganz vom Betriebsrat von Rheinmetall dominiert wird. Was die IL betrifft, stelle ich mir solche Fragen nicht mehr, weil ich das für eine ohnehin kaputte Organisation halte, deren Niedergang sich vielleicht noch einige Zeit hinzieht. In der IL stellt man keine Fragen mehr, aus der IL tritt man aus; dieser Prozess ist zu weit vorgeschritten, als dass diese Organisation je wieder mehr werden wird als eine leere Hülle.
Die Linke, wie sie heute ist, kommt mehr oder weniger aus den nuller und zehner Jahren; sie ist ein mehr oder weniger gescheiterter Versuch eines Neuaufbaus nach einem tiefen Bruch in den 1990ern. Alle ihre Strukturen und Doktrinen sind deshalb unvermeidbar mangelhaft; und ihre überfällige Erneuerung wird nicht ohne Konflikt gehen. Strategische Bündnisse, die damals Sinn hatten, haben diesen verloren. Die Basis, auf die sie sich stützen muss, ist gleichzeitig enger und weiter geworden. Ein Bruch steht bevor, alle fühlen das. Und Vorgänge wie dieser gehören zu den Vorbeben. Vielleicht diesesmal, vielleicht nächstes Mal wird es Konsequenzen geben.
4.
Es ist vielleicht der Ort, um ein bisschen grundsätzlicher zu werden. Die Linke hat heute kein Gefühl für die Wichtigkeit der freien Rede. Sie hat sich von den Konservativen eine Debatte um „Cancel Culture“ aufzwingen lassen und fühlt sich seitdem verpflichtet, eisern zu behaupten, so etwas gäbe es nicht; so etwas hätten sich Konservative ausgedacht, die beleidigt sind, weil ihnen niemand mehr zuhören will; oder aber, so etwas gäbe es sehr wohl, und das sei gut so, aber es sei eine Waffe derer da unten gegen die da oben, die ja von jeher bestimmt haben, wer über was reden darf.
Diese Reaktion ist von abgrundtiefer Blödheit. Sie übersieht, was mit Händen zu greifen ist, und überhört sogar, was sie selbst sagt. Niemals haben die Unterdrückten die Macht gehabt, den Mächtigen den Mund zu verbieten, und es ist auch heute nicht anders. Was wir sehen, ist eine Verschiebung unter denen, die zu den Mächtigen gehören.
Für die Unterdrückten ist die freie Rede die einzige und letzte Zuflucht, die letzte und wirksamste Waffe. Sie ist ihnen immer wieder unter allerlei Vorwänden versucht worden zu nehmen. Das war in der Vergangenheit so, und es ist nicht durch irgendeinen Zauber anders geworden.
Was sollen wir also über die denken, die da sagen, sie wissen genau, wer wie unterdrückt ist und wer deswegen das Recht hat zu reden und wer nicht? Die Frage beantwortet sich, während man sie stellt.
Diese neue Fraktion der Mächtigen begründet ihren Anspruch, zu herrschen, aus dem Wohl der Unterdrückten: aber so haben es alle Mächtigen von jeher getan. Sie geben vor, ein entwickeltes Wissen zu haben über die Bedingungen dieses Wohls. Dieses Wissen ist Müll. Auch das war immer so, bei allen, die herrschen wollten.
Niemand anders als die Unterdrückten hat das Recht, für die Unterdrückten zu sprechen. Das aber heisst: alle haben zu sprechen, in ihrem eignen Namen. Wessen Ansprüche gültig sind und wessen nicht, das wird man dann erst sehen. Und anders nicht. Ohne das gibt es keine Solidarität unter den Unterdrückten, und keine Aussicht auf Befreiung für sie.
Was wir statt dessen sehen, sieht aus wie Anmassung gegen die Menschen von ganz unten; eine Anmassung, die ganz gewöhnlich ist, seit es Gott und Staat gibt, und Prostitution.
Eine Linke, die nicht für die freie Rede eintritt, tritt für die Anmassung ein; für das Recht, den Unterdrückten den Mund zu verbieten; zu entscheiden, wer reden darf und wer nicht; für die Herrschaft. Eine solche Linke hat nicht das Recht, zu existieren; und sie existiert auch nicht als Linke, sie existiert als Anhängsel der Herrschaft.
Wir haben diese Dinge persönlich zu nehmen. Es gibt neben dem Recht, zu reden, auch das Recht, zu hören. Wer uns das nehmen will, versucht uns zu unterwerfen. Diese Leute müssen unsern Zorn kennenlernen, wenn wir freie Menschen sein wollen.
5. Wieder zum konkreten Vorgang. Es wäre einmal interessant zu sehen, wieviele Leute dem Aufruf dieser Gruppen wirklich folgen; ob sie, ausser dass sie sich hinter grossen Organisationen verstecken, denn wirklich so sehr von der allgemeinen Verdummung profitieren. Ob sie also mehr als ein Dutzend auf die Beine stellen, und welche. Vielleicht sieht man es demnächst einmal!
Dazu muss aber erst einmal ein Veranstalter standhaft genug sein. Wir haben das neulich schon bei den Vorfällen an der Humboldt-Universität gefragt; warum knicken denn die betreffenden Einrichtungen gar so schnell, so verdächtig schnell ein? Haben sie wirklich Angst vor einem grossen Mob?
Oder fürchtet man, dass der Mob nicht gar so gross sein würde wie erhofft? Das ganze schmutzige Spiel würde niemals funktionieren ohne die Komplizenschaft des Staats, der öffentlichen Einrichtungen und der „zivilgesellschaftlichen Institutionen“. Entweder aus Feigheit, oder durch aktive Zuarbeit. Was für Leute treffen denn die Entscheidungen in diesen Einrichtungen, wie kommen sie dahin und wem schulden sie Rechenschaft? Wir haben es hier ausserdem mit Berlin zu tun, und jeder weiss genug über dieses Staatsgebilde und die völlige Korruption aller seiner Institutionen.
Berlin wird beherrscht von denselben Parteien, die vor zwanzig Jahren das Bordellwesen dereguliert haben; und die fortschrittliche Politik dieser Leute hat vor wenigen Jahren diese Blüte getrieben:
Der Runde Tisch „Sexarbeit“ (nicht: Prostitution) – bestehend aus Senatsmitgliedern, Polizei, Beratungsstellen und „Sexarbeitenden“ – hatte die Aufgabe, die „Arbeitsbedingungen von Sexarbeiter*innen“ zu verbessern. … Die rettende Idee des Runden Tisches: Ein Klo-Häuschen! Natürlich! Auf „reine Vollzugsboxen“, die der Quartiersrat Schöneberg vorgeschlagen hatte, konnte sich der Runde Tisch nicht einigen. Aber: „Mit der Kombination Toilette, Verrichtungsbox sind wir auf dem richtigen Weg“, freute sich die Bezirksbürgermeisterin von Tempelhof-Schöneberg, Angelika Schöttler (SPD). Auch Barbara König (SPD), Staatssekretärin für Gesundheit und Gleichstellung, verkündete spritzig: „Die Bio-Toiletten im Kurfürstenkiez werden gut als Verrichtungsorte angenommen.“
Wir sehen, die IL ist in Berlin am Ende gar nicht so oppositionell! Das Nachbarschaftshaus in Kreuzberg ist, man kanns der Internetseite entnehmen, völlig von der Förderung durch diese Politik abhängig. Aber das alleine erklärt nicht die eiskalte Verachtung, die einer Referentin der Veranstaltung, einer ehemaligen Prostituierten dort durch das Personal entgegengebracht wird:
Sehr interessant sowas zu lesen. Die liebe Ulla setzt sich also aktiv dafür ein, dass #Prostituierte nicht sprechen dürfen. Das Nachbarschaftshaus habe ich im übrigen besucht. Wie man mich dort behandelt hat, möchte ich an der Stelle gar nicht sagen. pic.twitter.com/WKW6ekKIF1
— Mimi (Berlins basierteste Ex Sexworkerin) (@mimihochzwei) August 31, 2022
Sondern hier kommt noch etwas anderes dazu, eine ganz besondere Erbschaft der Schröder-Zeit. Es ist immer falsch gewesen, den Schröderismus als blossen „Neoliberalismus“ anzusehen. Schröder und seine Nachfolger haben nicht bloss den Unteren soziale Rechte genommen; sie haben auch einen neuen Flügel einer „fortschrittliche“ Bürokratie geschaffen, im Staatsapparat und im Vorfeld des Staats. Sie besteht aus einem unüberschaubaren Gewimmel von allerhand Demokratieförderungsinitiativen, Integrationspreisen und Stiftungen, nebst den staatlichen Stellen, aus derem Budget die Mittel kommen. Ihr Zweck ist der Staatszweck, aber der rotgrün definierte Staatszweck; ihr Personal kommt aus der studentischen Linken, und sie bietet erheblichen Teilen einer überflüssigen Akademikerklasse Lohn und Brot, und überhaupt eine gesellschaftliche Stellung.
Schröder, der damals ab 2000 geschafft hat, Teile der Antifa direkt aufzukaufen, hat es geschafft, einen erheblichen Teil dieses Milieus dauerhaft an Rot-Grün zu binden. Die Linke hat die Gefahr dieser Korruption damals sehr genau begriffen; man kanns in der „Phase 2“ von damals nachlesen. Aber das Misstrauen ist seither abgestumpft; zu verlockend die Aussicht, als Teil der Volksbeglückungsbürokratie an Einfluss zu kommen; zu abhängig ist eine Szene, die laut der „Kritik der Arbeit“ huldigt, von derartigem Einkommen.
Ganze Generationen sind in den Staatsapparat und sein Vorfeld hineingewachsen, die dieser Politik alles verdanken. Ein ganzes Milieu ist dadurch geprügt. Noch mehr, diese Schicht bildet die aktive Basis der Staatsparteien selbst. Für diem die sich minder privilegiert fühlen gibt es die Linksparteijugend, die diese Zurücksetzung durch doppelten Eifer kompensieren; und die radikale Linke, die sich aber bei alledem einbildet, mit ihr hätte das alles nichts zu tun, weil sie doch radikal sei. Man fragt ohnehin nicht oft, worin diese Radikalität denn besteht.
Was daraus aber wirklich gekommen ist, war ein diskreter Seitenwechsel. Ein gewisser Teil z.B. der Antifa-Szene begreift sich nicht mehr als Teil des Kampfes gegen die Herrschaft, sondern als Teil eines Reformprojekts von oben. Ein grösserer Teil begreift sich nicht so präzise, aber arbeitet genauso als Gesinnungswächter für das grün-liberale Bürgertum. Zusätzlich zerrüttet von dem Daueralarm der Jahre nach 2015, halten sie es für den einzigen Verbündeten gegen die, denen sie am meisten misstrauen: die gewöhnlichen Leute.
Aber diese waren es, die damals die AfD zurückgewiesen haben; nicht das grün-liberale Bürgertum hat diesen Kampf gewonnen, und nicht die „Bündnisse gegen Rechts“. Das Bündnis mit dem „fortschrittlichen“ Bürgertum bringt die Linke in Gegensatz zu ihnen. Es ist eine tödliche Gefahr. Wenn die Linke aus dieser Falle hinauswill, muss sie jetzt handeln; wer weiss, wann es zu spät ist. Es hat in Ungarn nicht anders angefangen.
6. Der Untergang der Linken im Ganzen ist auch in Deutschland heute eine reale Möglichkeit. Es wird ihr nichts helfen, dass sie in den letzten 10 Jahren begonnen hat, die „soziale Frage“ zu versuchen zu „besetzen“; jedenfalls, wenn sie sich weiter so benimmt, wie eine Besatzungsmacht.
Wir werden die nächsten Male ein bisschen darüber reden, wie eine solche „Besetzung“ dieses Themas funktioniert. Es gibt ja hier zwei sehr verschiedene Interessen: die ideologischen und Organisations-Interessen der linken Gruppen, und die Lebensinteressen der Bevölkerung, um die es geht. Natürlich gibt es dazwischen Konflikt. Es ist sehr spannend, zu sehen, wie in diesem bestimmte pseudo-linke Ideologeme benutzt werden, um die Herrschaft in der Debatte zu sichern. Die linken Aktivisten sind, sobald sie es mit einer ernsten sozialen Bewegung zu tun haben, in der Minderheit; sie haben diese Mittel nötig. Aber sie riskieren, die soziale Bewegung darüber abzuwürgen; sie hindern aktiv die Mehrheit, ihre Kraft zu entfalten. Aber das heisst, sie riskieren bewusst die Niederlage der Bewegung. Es wäre eine Niederlage für eine sehr lange Zeit.
Das ist sehr schön zu sehen dort, wo soziale Bewegungen mehr oder weniger gesteuert werden von den Aktivisten dieser Linken oder, je nachdem, Pseudo-Linken. Es sind hier, in klein, dieselben Mechanismen am Werk und zum Teil dieselben Akteure. Ob die Linke von innen zu retten ist, ob ihr Zustand sich ändern würde durch grosse gesellschftliche Bewegungen, das kann man alles nicht wissen.
Es hängt an vielen Dingen. Aber manche davon sind einfach. Und die Schlüsse, zu denen sie führen, sind auch einfach. Kann wer auch immer im Namen der Linken verhindern, dass Frauen aus der Prostitution über ihre Erfahrungen reden dürfen, ganz gleich welche Schlüsse sie daraus ziehen? Wenn nein, stellt man sich diesen Leuten entgegen? Vielleicht ist es auch zu unwichtig, es gibt ja immer etwas wichtigeres, aber wir reden hier über die Verfassung eurer Szene und wer entscheidet, wer den Mund auftun darf. Und auch ihr seid unwichtig, ehe ihr den Mund auftut.
Jörg Finkenberger