No one is innocent

Die internationalistischen Linke spürt, dass ihr die Perspektive der Veränderung fehlt. Die Rhetorik vom Genozid verstellt sie vollends. Die bisherige Kritik daran ist fehlgeschlagen. Niemand hat etwas gelernt, auch die Kritiker nicht.

1. Der Begriff Genozid kommt in die politische Debatte seit den 1990ern. Er geht zurück auf die Völkermordkonvention von 1951, die aber toter Buchstabe geblieben ist bis zu den jugoslawischen Kriegen. Die Diskussionen der 1990er liefen darauf hinaus, dass er eine Schutzverantwortung der „internationalen Gemeinschaft“ auslöst, d.h. das Recht und die Pflicht der Grossmächte, zu intervenieren (Bericht der Internationalen Kommission zu Intervention und Staatssouveränität, 2001). Auf diesen Linien wurde z.B. der Kosovo-Krieg begründet.

Der Begriff Genozid ist natürlich offen für Instrumentalisierung, selektive Anwendung usw. Die Linke hat das früher einmal auch kritisiert. Kritisiert wird es natürlich, wenn es gegen die eigenen Lieblingsregime geht. War der zweite Tschetschienkrieg genozidal? Die Umerziehung der Uighuren? Die Massnahmen gegen die Rohingya? Da bekommt man dann zu hören, man müsse genau hinschauen, wer das sagt und wessen Interessen das dient.

Und selbstverständlich werden ja umgekehrt solche Dinge nur zum Thema, wenn es irgendeiner Grossmacht zupass kommt. Beweis: Äthiopien. Das Vorgehen der äthiopischen Armee in Tigräa interessiert niemanden, weil Präsident Abiy keiner Grossmacht auf die Füsse tritt und keine ein Interesse hat, ihn loszuwerden.

Gäbe es eine Linke, dürfte die Stille nicht ganz so ohrenbetäubend sein. Eine solche Linke müsste auch einen Begriff von Genozid haben, der nicht fest an die Interessen der Grossmächte und ihrer Weltordnung gebunden ist. Er müsste davon ausgehen, dass die Form Staat die Wurzel des Genozids ist. Die bloss demokratischen Revolutionen der Vergangenheit haben das Problem nicht gelöst, sondern radikalisiert. Das Zeitalter des Genozids hat überhaupt erst begonnen mit dem Zeitalter der Volkssouveränität und des totalen Kriegs. Dass Staat und Volk identisch sein sollen, ist die ideologische Wurzel des Genozids.

Lemkin fand bei den Vorarbeiten zur Völkermordkonvention eine rechtliche Lage vor, in der der Genozid eigentlich zu den Souveränitätsrechten des Staats gehörte. Im Zeitalter des modernen Kriegs ist jeder einigermassen fortgeschrittene Krieg oder Bürgerkrieg von einem Genozid nicht mehr zu unterscheiden.

Einen analytischen Wert hat das Wort Genozid nicht, es macht keinen Weg auf, zu verstehen, wie die Dinge passieren, und auch nicht, wie es anders werden könnte. Es ist nur ein Appell zur Intervention, und sagt noch nicht einmal, zu Gunsten welcher politischen Kraft. Er reduziert Krieg und Bürgerkrieg auf eine Frage des internationalen Polizeirechts; es ist kein Zufall, dass er in den unipolaren 1990ern gross wurde, als von „Weltinnenpolitik“ gesprochen worden ist. Ob die „Multipolaren“ von heute voll begreifen, an was für eine Weltordnung sie mit dem Begriff appellieren, ist mir nicht klar.

2. Sie tun es auch nicht aus Überlegung. Mindestens die Hälfte ist Trotz. Die Rest-Linke grollt darüber, dass die westliche Propaganda ihnen China, Russland etc. vorhält, und ergreift dankbar die Gelegenheit, einer pro-westlichen Macht das gleiche nachzusagen. Es ist eigentlich eine sehr unpolitische Übung. Es ist eigentlich eine Art wie jede andere auch, sich in einer Welt aus Mord einzurichten.

Wenn man ihnen im Dezember oder Februar gesagt hätte, wenn du wirklich glauben würdest, dass das ein Genozid ist, müsstest du ganz andere Dinge tun, dann hätte man sie wahrscheinlich nur grummeln hören. Heute würde man sich diesen move vielleicht nicht mehr trauen; man fürchtet, sie auf Gedanken zu bringen.

Sogar die Auflösung des Palästinakongresses usw. war noch eine Gelegenheit, Partei zu ergreifen, ohne Partei zu ergreifen. Man kann gegen das Vorgehen der Behörden protestieren usw., ohne diekt Partei für die Hamas ergreifen zu müssen. Ihnen vorzuhalten, dass sie das wollten, ist unehrlich. Sie empfinden sehr genau den Mangel einer Seite, deren Partei sie ergreifen könnten, und versuchen, diese Empfindung zu übertönen.

Das kann anders werden, wenn die Proteste an den amerikanischen Universitäten sich ausweiten, u.a. nach Europa. Bei steigender Temparatur werden sich hier Gelegenheiten finden, bei denen Aussichtslosigkeit in Wahn umschlägt. Der genannte Mangel drängt auf eine illusorische Kompensation, und die Aussicht auf „Studentenproteste“ ist für die machtlose Linke eine grosse Verführung. Es klingt so schön nach 1968.

Man wird hier sehen, wie bei vielen Bedenken in den Wind geschlagen werden. Der Vorgang wird denen völlig entgehen, die nicht wahrhaben wollen, dass es diese Bedenken reell jemals gab. Ihre daraufhin fällige Kritik wird, weil sie nicht treffen wird, auf taube Ohren stossen. Es wird niemand klüger werden, und alles so weitergehen wie bisher.

3. Die amerikanischen Proteste zeigen die Auffälligkeit, dass sie bisher auf die Elite-Unis beschränkt bleiben. Sie zeigen alle Anzeichen dessen, was wir Pseudo-Linke genannt haben. An diesen Unis studiert der kleinste Teil der am. Studenten, die meisten (und die aus den working classes) dagegen an den Community Colleges, wo es bisher fast völlig windstill geblieben ist. Es wird schwer, das zu einem proletarischen Aufstand aufzublasen.

Die Proteste zeigen eine derartige Wahllosigkeit in ihrer Solidarisierung (zB. Hizbullah), dass man schliessen muss, dass ihnen diese Leute eigentlich egal sind. Sie sehen nicht aus wie ein Flügel einer grösseren gesellschaftlichen Bewegung, wie in den 1960ern; sie haben gesellschaftliche wohl eine sehr geringe Tiefe, sie sind nicht die Spitze auf einer grossen Welle, sondern sie sind die überkippende Welle, die sich totgelaufen hat, am Strand, wo sie sich bricht.

Das Treiben der Pseudo-Linken sind bisher die Exzesse einer Staatsklasse gewesen, deren gesellschaftlicher Führungsanspruch in die Krise gekommen ist. Ihr Extremismus erweckt den Eindruck von neu gewonnener Macht, und er ist genau dazu da.

Der Eindruck trügt. Ihre Vorgänger haben die Hochmoderne organisiert, haben das Proletariat in den Staat integriert. Diese hier haben die Frauentoilletten abgeschafft. Die moderne Staatsklasse hat niemandem mehr etwas anzubieten, und alle wissen es. Sie sind eine Plage und werden als solche wahrgenommen; sie wenden sich in einem finalen Verzweiflungskampf gegen ihre eigene Existenzgrundlage, den Staat. Sie werden untergehen, und niemanden wird sie vermissen.

Eine Allianz mit denen ist niemandem zu empfehlen. Man kennt sie, und man weiss, mit wem man es zu tun hat. Der Kern dieses Milieus ist für die Linke korrosiv. Man sieht die Linke zögern; es gibt mehr Anzeichen für dieses Zögern, als man glauben möchte, und man versteht genau, warum. Aber einige werden sich nicht abhalten lassen; in den nächsten Wochen werden wir sehen, wieviele.

Die Verlegenheit war gross, wie man gegen Israel und gleichzeitig gegen die Hamas sein wollte. Es fehlte eine dritte Bezugsgrösse. Eine reelle palästinensische Linke besteht zur Zeit nicht; auf eine Massenbewegung zurückzugreifen, ist nur unter Verrenkungen möglich. Man ersetzt diese dritte Bezugsgrösse eigentlich durch einen im Kern entpolitisierenden Begriff. Der Begriff Genozid, zuerst eine Trotzreaktion, hat aber eine eigene radikalisierende Wirkung. Muss man nicht mit jedem zusammengehen, wenn es um einen Genozid geht? Sind die Bedenken, die man hat, nicht schäbig und klein, ja reine Befindlichkeiten?

Daraus kann, aber muss nicht, eine zerstörerische Dynamik werden, wie wir sie von früher kennen. Dann wird es einige über die Grenzen, die sie sich normalerweise selbst setzen würden, wegtragen. Andere werden versuchen, besonnener zu sein, aber sich der sozialen Szenedynamik ergeben müssen. Eine dritte Sorte wird ganz aus der Szene gedrängt werden.

Dem Problem an die Wurzel zu gehen dagegen wird niemand ein Motiv haben, so dass sich das Elend in die nächste Epoche weiterschleppen wird. Wir sind nicht sicher, ob es wahr ist, was die Postmodernen sagen („das Prolatariat hat kein Gedächtnis“), aber die Linke hat anscheinend keines und vergisst regelmässig alles, was sie mühsam gelernt hatte.

4. In der Realität wird alles weitergehen wie gehabt. Von der internationalen Logik des Kriegs macht man sich so wenig einen Begriff wie von der der Krise.

Die Begriffe, die man sich stattdessen macht, sind anachronistisch, eine neue nakbah werden die arabischen Mächte nicht zulassen, und die sind de facto die Verbündeten Israels. Der iranische Angriff hat ein informelles arabisch-israelisches Verteidigungssystem gezeigt. Dieses Bündnissystem ist die reelle Sicherheitsgarantie das Landes. Die Integration Israels in die arabische Welt wird nicht unterbrochen werden. Auch ein Umsturz in den arabischen Staaten würde das nicht mehr ändern. Wir wissen es, weil wir es gesehen haben.

Die Illusion einer Zwei-Staaten-Lösung wird aufrechterhalten werden, notfalls durch eine bosnische Lösung unter Führung der arabischen Liga. Die Sackgasse, in die die palästinensische Nationalbewegung vor langer Zeit gelaufen ist, wird dann von den Mächten des status quo gemeinschaftlich verwaltet werden.

Eine grundlegende Veränderung würde einen anderen Weg gehen müssen. Die heutige palästinensische Führung wird ihn nicht gehen, er würde den Verlust ihrer Macht bedeuten. Die „palästinensische Linke“ der 1960er, bis heute die offizielle Führung der PLO, sind nicht nur die Erben der traditionellen Oberschicht, sie sind meistens real ihre Nachkommen (das Hockommen einer neuen Führung in den 1980ern haben sie erfolreich verhindert). Sie haben von ihnen die Selbsttäuschungen und die strategischen Fehler geerbt. Sie sind genau an demselben Problem gescheitert: sie haben nicht begriffen, dass die Juden im Land bleiben werden, weil sie nirgendwo anders haben, um hinzugehen.

Ein ums andere Mal hat die westliche Linke die verhängnsivolle Rolle gespielt, sie genau in diesem Irrtum zu bestätigen. Und ihre Bestätigung hat Gewicht gehabt. Ihre Zuneigung entscheidet darüber, welche palästinensischen Stimmen gehört werden und welche untergehen. Und die westliche Linke hat keine Idee ausser der, dass der Westen das einzige ist, was handelt.

Hier ergänzen sich zwei Dummheiten und führen zur Katastrophe. Die palästinensische Bewegung hatte immer zwei Möglichkeiten, sie hat die eine davon nie genutzt und nie nutzen können, weil sie von der anderen übertönt wurde, die mit westlicher Unterstützung den Sieg davongetragen hat. (Ja, mit westlicher Unterstützung. Die westliche Linke ist ein Teil des Westens. Gewöhnt euch dran.)

Das letzte Mal vor 20 Jahren, nach dem Scheitern der sogenannten „zweiten Intifada“, dieser zentral geführten Mordkampagne, die mit der ersten Intifada nur den Namen gemeinsam hat. Nach dem Scheitern dieser sinnlosen Mörderei hörte man eine Weile, erst leise, dann lauter, Stimmen, die eine von Grund auf andere Strategie verlangten: eine gewaltlose Bewegung für Bürgerrecht und Wahlrecht im israelischen Staat.

Es hat nicht lang gedauert, bis dieser Gedanke übertönt worden ist von der neu entwickelten neuen genialen Idee der alten Führer: BDS. Diese Strategie lebt von genau denselben falschen Annahmen wie die alte Gewaltstrategie: von der Annahme, dass Israel im Kern ein Projekt des Imperialismus sei. Die Idee, die der BDS-Kampagne zu Grunde liegt, ist, den „Westen“ zur Aufgabe seines „siedlerkolonialistischen“ Projekts zu bewegen. Das ist nichts anderes als die neueste Stufe des alten Missverständnisses. Wenn Israel eine westliche Kolonie ist, wo ist das Mutterland? Ich kann mir nichts eurozentrischeres Denken.

Die BDS-Kampagne spielt wieder, bewusst oder unbewusst, den Ball zum Westen. Man tut, als ob der Westen die handelnde, sogar die einzig handelnde Instanz wäre. Man nimmt damit der palästinensischen Bevölkerung jeden Einfluss auf ihr eigenes Schicksal. Im Westen dürfen dann die dortigen Parteien den Konflikt als Stellvertreterkampf unter einander ausfechten: die immer gleiche alte Geisterschlacht. Es wird nichts dabei herauskommen.

Die westliche Linke, der nichts anderes einfallen will, ist mitschuldig an dieser Misere. No one is innocent. Im Grunde stützen sich zwei gescheiterte Führungen gegenseitig, die palästinensische und die der westlichen Linken. Beide sind mitschuldig an diesem Desaster.

Das Scheitern der Linken des 20. Jahrhunderts reisst immer noch ganze Völker in den Abgrund.

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