Neues von der Pseudo-Linken (II)

Wir sagen, der gegenwärtige Aktivismus der Linken ist bis zur Ununterscheidbarkeit von etwas durchzogen, was wir Pseudo-Linke nennen. Was gibt uns das Recht dazu? Die Hohlheit und innere Unwahrheit einer speziellen Sorte linker Agitation und Praxis. Diese Unwahrheit ist aber vorerst nur ein erster Eindruck; man könnte uns vorwerfen, unser Urteil sei nur ein Geschmacksurteil. Oder vielleicht sind wir Reaktionäre geworden, ohne es zu wissen? „Man kann sich nit gegen die Zeit stell‘ „, sagt man in Unterfranken. Aber mir scheint, die Arbeit eines Revolutionärs ist genau, sich gegen die Zeit zu stellen.

Leerheit und innere Unwahrheit, sagen wir! Schauen wir uns doch einmal ein neueres Ereignis an, das so leer und unwahr gewesen ist, wie nur je eins. Eine Farce, wie sie im Buch steht. Die äusseren Ereignisse sind an sich rein unbegreiflich; sie werden aber nur immer absurder, je näher man sie ansieht. Und genau um die Absurdität geht es uns. An ihr kann man die Frage, um die es uns geht, entfalten: was ist in einer Linken falsch gelaufen, wenn folgendes gar nicht so ungewöhnlich ausschaut?

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Am 2. Juli 2022 veranstaltete die Humboldt-Universität in Berlin die „Lange Nacht der Wissenschaften“, man kennt die Prozedur, wo akademisches Personal der interessierten Bevölkerung allerhand wissenswerte Dinge erzählt. So weit, so gut. „Die Welt ist von Krisen geschüttelt. Pandemie, Krieg, Zerfall der Demokratie… Auf der Langen Nacht der Wissenschaften zeigt die Humboldt-Universität am 2. Juli 2022, wie sich verschiedene Disziplinen aktuellen Probleme stellen und welche Lösungsbeiträge sie anbieten“, hiess es auf der Homepage der Uni. So weit, so gut.

Angekündigt war auch ein Vortrag über „Sex, Gender und warum es in der Biologie zwei Geschlchter gibt“. Unzweifelhaft relevant, weil es da ja anscheinend grosse gesellschaftliche Diskussion darüber gibt. Die Referentin ist eine mittlearweile namhafte Feministin; sie hat sich in der Debatte schon zu Wort gemeldet, worüber man hier im Interview mit dem nürnberger Autonomie-Magazin nachlesen kann.

So weit, so gut, vier Stunden vor dem Vortrag begann der Wahnsinn, der exakt so unvermeidlich und absehbar war, wie man sich das denkt. Und er war exakt die Farce, die herauskommt, wenn sich berliner „Linke“ vornehmen, die Angelegenheit Kathleen Stock mit eigenen Mitteln nachzuspielen. Zuerst kam ein Aufruf zum Protest, von dem „Arbeitskreis kritischer Jurist*innen“ an der Humboldt-Universität. Der ging als Rundmail an alle Studierenden über den Verteiler des AStA, der dort RefRat heisst. Dann sagte die Hochschule den Vortrag „aus Sicherheitsgründen“ ab; aber auf dem Aushang liess man offenbar drüberschreiben „entfällt krankheitsbedingt“.

Nach den Fotos zu urteilen, waren ein Dutzend Gefolgsleute der „kritischen Jurist*innen“ auf dem Protest; warum sollten es auch viel mehr sein? 30.000 Studierende hat die HU; an den letzten Uniwahlen teilgenommen haben 627. Einen Massenanhang hat die Politik dieser Grüppchen nirgendwo. Wie auch, niemand versteht sie. Sie haben Einfluss, ohne Frage; aber den Einfluss, den sie haben, haben sie definitv nicht „von unten“. Sie haben ihn geliehen; von dem Flügel des liberalen Bürgertums, der heute den Ton angibt.

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Offenbar ist es in der momentanen Debatte um „Gender“ schon nicht mehr möglich, eine evolutionsbiologische Sicht auf die allgemein bekannte Zweigeschlechtlichkeit bei mehrzelligen Tieren zu werfen, zu denen unbestätigten ersten Meldungen zufolge auch wir armen Menschenkinder gehören sollen. Dass christliche Fundamentalisten ein Problem mit der Evolutionsbiologie haben, war uns schon bekannt. Aber warum „Aktivisten aus der linken Szene“? Und warum ein Teil des liberalen Bürgertums?

Bei N-TV nannte man die Referentin eine „umstrittene Biologin“, was mich sehr neidisch macht, denn ich hab als Kind ein verrückter Wissenschaftler werden wollen, hab es aber nur zur kritischen Gesellschaftstheorie gebracht. Marie Vollbrecht arbeitet, hört man, an Wassertieren, aber zu meiner Enttäuschung gehts dabei gar nicht darum, Monsterkraken zu züchten, sondern um das crazy sex life der Seeanemonen. Immerhin war auch Charles Darwin ein „umstrittener Biologe“.

Überhaupt ist die Wissenschaft niemals so unstrittig, dass sie Schiedsrichterin in gesellschaftlichen Dingen spielen kann; ihre Gültigkeit ist selbst eine gesellschaftliche Frage. Die wissenschaftliche Methode ist ihr Kern; ein Satz von Regeln, nach denen sich der Wissenschaftler dem Urteil andrer Wissenschaftler unterwirft. Dass derselbe Satz von Regeln für alle gelten soll, ist viel verlangt. Gesellschaften in Krisenzeiten bringen deswegen Pseudowissenschaften hervor, meistens an den sog. „Rändern“; während die behäbige Mitte sich im Wahn wiegt, „die Wissenschaft“ fertig in der Tasche und sowieso auf der eigenen Seite zu haben. Die „Ränder“ sind leicht als das erkenntlich, was aus dieser Mitte wird, sobald sie sich radikalisiert. Oder ist es etwa nicht auffällig, wie viele plötzlich der Meinung sind, „die Wissenschaft“ habe die Zweigeschlechtlichkeit längst „überholt“, nur weil man einmal etwas in der „Nature“ gelesen hat? Und wie leicht man das glaubt, weil man es glauben will, und wie schnell das geht, dass dann abweichende Lehre unterbunden werden muss. Aber wer hat je gehört, dass die Anhänger einer besseren neuen Theorie lärmend die Vorträge einer älteren „überholten“ Theorie stören?

Der Vortrag wurde dann doch gehalten, und man kann ihn hier ansehen. Das haben mittlerweile fast 80.000 Leute auch getan. Bisher hat nur Attenborough so viele Menschen fürs Geschlechtsleben der Seeanemonen interessieren können. Ich bin mir gar nicht so sicher, ob unsre „kritischen Jurist*innen“ gewusst haben, was sie da tun. Vor allem nicht das völlige PR-Desaster, das daraus folgen würde. Und ein PR-Desaster für die Götter war es, eine Blamage von epischen Ausmassen. Seit langem hat nichts die radikalfeministische Szene in Deutschland so elektrisiert. Sie hat von einem Tag auf den anderen ein Gesicht, eine anerkannte gesellschaftliche Existenz bekommen und ist jetzt auf dem Sprung dazu, so aktiv und organisiert zu werden wie schon in Grossbritannien; man wird an diesen Tag noch lange denken. Ganz unabhängig davon wird auch die universitäre Wissenschaft, die lange still geblieben ist, bei aller ihrer unaustreibbaren Lausigkeit doch irgendwann aus Eigeninteresse gezwungen sein, zu handeln. Und die bürgerliche Presse, die über den Konflikt bisher grossenteils schamhaft geschwiegen hat, hat angefangen zu berichten. Sie wird so bald nicht aufhören, so wie auch das Interesse der Publikums nicht nachlassen wird.

War das den guten Leuten von den „kritischen Jurist*innen“ nicht klar, dass es so kommen würde? Zumindest ihre Gruppe an der Humboldt-Universität scheint, wenn man ihr Twitterfeed anschaut, nicht viel anderes zu treiben als Transrechts-Aktivismus. Man sollte meinen, sie hätten in den letzten zwei Jahren bemerken müssen, dass sich der Wind zu drehen angefangen hat und eine Gegenbewegung entstanden ist, die augenscheinlich immer grösser grösser wird.

Nein, es war ihnen nicht klar. Diese ganze Szene hat sich über dieselben zwei Jahre nur immer weiter in den Glauben hineingesteigert, dass sie es nur mit ein paar Relikten der Vergangenheit zu tun hat; ein paar missgünstige alte Frauen, die bald wegsterben, und deren Abgang aus der Öffentlichkeit man mit solchen Taktiken beschleunigen muss. Sie selber, das ist die glühende, aber grundfalsche Überzeugung, die sie mit allen Pseudo-Linken teilen: sie selber sind die neue Zeit. Sie stehen „auf der richtigen Seite der Geschichte“. Sie müssen nicht begründen, müssen nicht argumentieren: sie müssen sich nur durchsetzen, dem dummen Rest wird nichts übrigbleiben, als zu folgen.

Aber die Radikalfeministinnen sind heute zu 80% Frauen in ihren 20ern, die vor 3 Jahren noch aktive Queerfeministinnen waren. Das hätte ein Alarmzeichen sein sollen. Die eigene Bewegung zerfällt, und erzeugt aus sich selbst die Gegenbewegung. Man hat diese Realität nicht wahrhaben wollen; wie auch? Man hätte sich fragen müssen, ob man vielleicht Unrecht hat. Für diese Dummheit und Verstocktheit wird ein Preis zu zahlen sein.

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Wie hat eine Frage der Naturwissenschaft überhaupt so politisiert werden können? Vor wenigen Jahren hätte niemand sich öffentlich getraut, zu behaupten, es gäbe mehr als zwei Geschlechter. Man wäre ausgelacht worden. Erstaunliche Radikalisierung! Aber auf welcher Seite und warum?

Der Unterschied der Geschlechter, und seine gesellschaftlichen Folgen, war das Hauptthema des älteren Feminismus. Die Gründe für dessen Niedergang untersuchen wir nicht hier, sondern hier. Eine neuere Richtung übernahm im Feminismus die Führung in den 1990er Jahren, nennen wir sie vereinfacht den Queerfeminismus. Seine verschiednen Varianten haben miteinander jedenfalls gemeinsam, dass sie die Begriffe relativierte, die die ältere Bewegung vom Geschlechterunterschied hatte; aber bis vor kurzem hauptsächlich nach der sozialen Seite dieses Unterschieds hin. Die Biologie ist erst ein ideologisches Kampffeld geworden, weil die gemässigte Richtung des Feminismus ein Rückzugsgefecht gegen eine radikalere führt.

Der Queerfeminismus war vor 5 oder 10 Jahren vermutlich die vorherrschende feministische Strömung. Jede Bewegung kann so eine Vorherrschaft nur behaupten, solange sie glaubwürdig bleibt. Und der Queerfeminismus hatte seine Erfolge (vermutlich). Aber er hat auch gewaltige Leerstellen. Den führenden amerikanischen Organisationen ist in ihren Verlautbarungen nach der Abschaffung des Abtreibungsrechts das Wort Frau nicht mehr eingefallen, wenn es darum geht, wer davon „negativ betroffen“ sein könnte: man kann sich ausrechnen, dass so etwas bemerkt wird. Um so mehr, wenn man die Gelegenheit bedenkt: die Abschaffung des Abtreibungsrechts, die Niederlage des neueren Feminismus auf seinem Hauptkampffeld. Wer wird danach denken: genau unter dieser Führung wollen wir nochmal in den Kampf ziehen?

Der Queerfeminismus ist nie eine Massenbewegung gewesen und konnte nie eine Massenbewegung sein. Er ist, wie jede Bewegung, eine Koalition unterschiedlicher Interessen. Das Gleichgewicht dieser Koalition ist empfindlich: gesellschaftlich sind die Frauen erdrückend zahlreicher als die verschiednen sexuellen Minderheiten, und ihre Interessen sind öfter entgegengesetzt, als man zugeben will. Also mussten Mechanismen her, die den Zugang zur queerfeministischen Bewegung regulierten: Sprachregelungen, die im Effekt als Bildungsmerkmale dienen; das Bekenntnis zu bestimmten Anschauungen. So hält man die ungewaschenen Massen fern; an den Universitäten kommt dazu noch ein Kanon von unverstehbarer postmoderner Literatur, der zu meistern ist und ohne den man nicht ernstgenommen wird. So hat sich die Bewegung homogen gehalten; aber das ganze funktioniert dann nicht mehr, wenn der Bedarf nach feministischer Bewegung grösser wird.

Wie hat man auf diese Situation reagiert? Man hat die Opposition in Bann getan. Überall in der westlichen Welt wurden mit einer solchen Vehemenz die rätselhafte neue Sekte der „TERF“ bekämpft, dass man sich fragen musste, woher die denn plötzlich alle kamen. „Von rechts“, hiess es, aber das war offenbarer Unsinn. Sie kommen offensichtlich von links, und sie gedenken, dort zu bleiben und die Führung zu übernehmen. Die völlige Hilflosigkeit der Abwehr sagt viel, fast alles: man kann sich gar nicht denken, dass man selbst etwas falsch gemacht hat, es muss ein Angriff von aussen gewesen sein.

Die Kollision ist zwangsläufig und von aussen vollkommen vorhersehbar. Für eine der beiden Seiten ist sie dagegen unbegreiflich und völlig überraschend. Auch das ist ein Vorzeichen darauf, wie sie ausgehen wird. Man kann nicht gewinnen, wenn man den Gegner nicht begreift, ja von dessen Existenz selbst immer wieder überrascht ist; wenn man ihm Motive unterschieben muss, weil man seine eignen nicht kennt. Die Radikalisierung der Pseudo-Linken bis hin zur Lächerlichkeit ist ein Teil dieses Prozesses. Sie spürt, dass ihr Sturz bevorsteht.

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Was am 2. Juli geschehen ist, sieht aus wie eine Farce. Und gleichzeitig ist es die konsequente und eigentlich unausweichliche Folge von Entwicklungen, die seit Jahren im Gang sind. Die Kräfteverhältnisse haben sich längst verschoben, ohne dass jemand es richtig wahrhaben wollte. Innerhalb eines Nachmittags zusammengedrängt alles, was in Grossbritannien 3 Jahren gedauert hat: der Protestaufruf, die Absage, die Presse, die Stellungnahme der Wissenschaftsministerin.

Die „kritischen Jurist*innen“ der Humboldt-Uni feiern ihre absurde Aktion in der üblichen selbst-gratulatorischen Weise, mit ihrem Häufchen Leuten; sie glauben wirklich, dass sie gleichzeitig einen grossen Erfolg errungen und vom Schweinesystem brutal unterdrückt worden sind. Sie haben nicht die leiseste Ahnung davon, dass sie und ihre ganze Strömung ihren Einfluss, den sie unbestreitbar haben, vor allem der Protektion der Mächtigen verdanken; und dass diese Protektion zurückgenommen werden wird, wenn der Wind sich dreht.

Sicherlich, die Humboldt-Universität liess später verlauten, die Ansichten der Referentin entsprächen auch nicht den „Werten“, der der Universität nämlich; als ob unsere Universitäten übrigens „Werte“ hätten. Die Scheinheiligkeit, die aus solchen Äusserungen spricht, ist schon von vorneherein demontiert durch die Absage „aus Sicherheitsgründen“. Niemand glaubt der Universität ein Wort, und sie weiss es.

Unser Thema ist hier nicht die Debatte um „Sex und Gender“. Dazu haben wir schon anderswo geschrieben. Unsre Frage an diese Farce ist eine andere. Warum gelten solche Leute als „Aktivisten aus der linken Szene“? Zu was ist die Linke geworden, dass solche Aktionen gar nicht einmal als besonders absurd aussehen, sondern eher als etwas, das man erwarten muss?

Die Linke war immer voll mit verrückter Scheisse, das ist nichts Neues. Es gibt praktisch nichts dort, was es nicht gibt. Die Linke ist auch, vor allem nicht für uns Linke, etwas, über das wir mit viel Liebe reden können. Sie ist nicht besser oder auch nur klüger als der Rest der Gesellschaft. Sie ist ein Produkt der Gesellschaft. Alle ihre Vorstellungen und Ideen bezieht sie von der Gesellschaft; die Verrückheiten der Gesellschaft sind ihre Verrücktheiten.

Die Linke, gleich welcher Fraktion, ist nicht gewohnt, sich so zu betrachten. Sie hält sich für das Subjekt, nicht nur ihrer selbst, sondern der Geschichte. Vermutlich liegt diese Wahnidee den meisten ihrer Exzesse zu Grunde. In Wahrheit setzt sich die Linke in jeder Periode neu zusammen, aus den gesellschaftlichen Konflikten ihrer Zeit. Und jetzt, wo neue Kämpfe aufziehen, sehen wir auch eine Linke sich neu zusammensetzen.

So war es immer. Aber wird sie besser? Es wäre zu wünschen. So, wie sie jetzt ist, gewinnt sie keine Schlachten mehr. Die heutige Linke ist verbraucht, ihre Ideen sind leer geworden wie ihr Aktivismus. Was von ihr übrig ist, verteidigt verbissen seinen Platz: verhängnisvoll, wenn es gelingt.

Wir nennen diese leere Form vorerst die Pseudo-Linke. Wir haben an dieser Stelle noch nichts darüber sagen können, woher sie kommt; ob in dieser Form einmal Leben war, ob sie also einmal Recht hatten. Sie selbst beziehen sich, wo sie von ihrer eigenen Geschichte überhaupt Reden, auf die Bewegungen von 2011 und den Jahren seither. Nehmen wir sie beim Wort und betrachten die letzten 10 Jahre und einiges von dem Treiben der heutigen Pseudo-Linken; sehen wir, in welchem Verhältnis sie zur wirklichen Bewegung steht.

Fortsetzung folgt

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