Das Streikrecht

Das hier ist etwas spät, es blieb wie vieles liegen. Es ist eine neue Entwicklung eingetreten, die zwar vorhersehbar war und vorhergesehen wurde, die aber trotzdem in ihren Folgen, vor allem in den kommenden Monaten, noch nicht überschaut werden kann.

Nach der bisher vorherrschenden Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts ist die Ausübung des Streikrechts eng beschränkt. Es war zu erwarten, dass diese Rechtsprechung sich ändert. Wir hatten z.B. geschrieben:

Das Recht der EU, ob EMRK oder ESC, enthalten keine Grundlage für viele der problematischsten Grundbegriffe des deutschen Arbeitsrechts. Das An­fordernis der sozialen Mächtigkeit, die Bindung des Streikrechts an dauer­hafte Vereinigungen, der Grundsatze der Tarifeinheit, die Kampfparität fin­den hier keine Stütze. Es ist nicht klar, wie lange das BAG diese Grundsät­ze aufrechterhalten kann; und auch nicht, auf welchem Weg der langsame Rückzug verlaufen wird. Die langsame Aufweichung dieser Rechtsprechung zeichnet sich schon ab.

Diese Entwicklung wird weder automatisch noch glatt verlaufen, und sie wird auch nicht unaufhaltsam sein. Sie wird nur so schnell vor sich gehen, wie die jetzige Praxis des Arbeitskampfs von neueren Kampfformen überholt wird.

In den letzten Monaten hat einiges neue angefangen. Die Streiks bei den Lieferdiensten, vor allem Gorillaz Berlin, sind von Ad-hoc-Koalitionen getragen und organisiert. Keine bestehende und verfasste Gewerkschaft hat den Arbeitskampf dort auf eigne Faust initiiert; auch übrigens nicht die FAU Berlin, auch wenn diese als einzige Gewerkschaft in dem Laden tatsächlich vertreten war. Die Initiative ging wohl, soweit man es von aussen sagen kann, nicht von einer satzungsmässig dafür gegründeten Organisation aus. Wir wollen uns übrigens nicht des sog. Spontaneismus bezichtigen lassen; wir behaupten gar nicht, dass er quasi vom Himmel fiel und ohne mühsame Vorbereitung und Unterstützung gelungen ist. Aber diese Vorbereitung und Unterstützung ging, so haben wir es gehört, in Kreisen vor sich, die man nicht ohne weiteres zu den üblichen Verdächtigen gerechnet hätte. Jede wirklich neue Bewegung scheint sich so zu verhalten, dass sie von überraschenden Allianzen ihren Ausgang nimmt. Vielleicht kann jede neue Bewegung sogar erst entstehen, wenn sie die bestehenden Allianzen überschreitet.

Zurück zum Arbeitsrecht, es gibt seit März ein Urteil des ArbG Berlin über die Kündigungen, die wegen dieses wilden Streiks ausgesprochen worden sind (ArbG Berlin, U. v. 07.03.2022, Az. 19 Ca 10127/21). Gross gefeiert wurden folgende Sätze:

21.1.2.3. Darüber hinaus ist darauf hinzuweisen, dass das Streikrecht nicht kodifiziert ist und somit auch die propagierte Notwendigkeit, dass ein Streik gewerkschaftlich organisiert sein muss, keine gesetzliche Grundlage hat. Dementsprechend vertritt die Literatur (Däubler/Heuschmidt, Arbeitskampfrecht, Seite 172 Randnummer 51) auch die Auffassung, dass das ganze Spektrum von Handlungsmöglichkeiten, die Artikel 28 EU-GRC eröffnet, jeder Gewerkschaft, aber auch jeder gemeinsam handelnden Arbeitnehmergruppe zustehe. Artikel 28 EU-GRC schütze daher auch den nicht gewerkschaftlichen „wilden“ Streik. Entsprechende Bedenken wurden auch in der Tagespresse geäußert (Tagesspiegel vom 02.10.2021, Seite 8).

Mithin ist es keineswegs gesichertes Recht, dass ein Aufruf zu einem sogenannten wilden Streik einen Verstoß gegen arbeitsvertragliche Pflichten darstellt. Die Frage, ob die Teilnahme hieran einen Kündigungsgrund darstellt, stellt sich somit heute grundlegend anders als vor dem Inkrafttreten der Europäischen Grundrechtecharter (vergleiche zur früheren Rechtslage Lorenz, AiB 1998, 655).“

Das ist noch kein obergerichtliches Urteil; und noch weniger ist es ein Grundsatzurteil über das Streikrecht als solches. Das BAG wird das letzte Wort sprechen; und es wird sich neue Kriterien ausdenken müssen, wie das Streikrecht dann doch beschränkt sein soll. Auch der Gesetzgeber wird sich ohne Zweifel etwas dummes und unpraktikables einfallen lassen. Das Urteil des ArbG Berlin ist aber insoweit eine reale Sache, als es nach EU-Recht nicht anders hat gefällt werden können; und einstweilen kann „jede gemeinsam handelnde Arbeitnehmergruppe“ so argumentieren.

Ob es in den Betrieben dieses Landes noch genug organisatorische Kerne von „gemeinsam handelnden Arbeitnehmergruppen“ gibt, wird sich in diesem Winter vielleicht zeigen. Nach unsrer Erfahrung sind diese Kerne zwar vor langer Zeit zerfallen, aber es können sich überraschend schnell wieder neue zusammenfinden. Nachdem die organisierte Linke entweder zusammengebrochen, oder zum Gegner übergelaufen ist, werden diese als einzige es sein, die überhaupt noch eine Zukunft haben können. Und wir gestehen, dass wir das für eine beträchtliche Verbesserung halten würden.

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