Im achten Monat des Putinschen Blitzkriegs gegen die Ukraine habe ich mir gedacht, es wäre vielleicht doch mal wieder angebracht, mir einige Sachverhalte anzuschauen und Spekulationen anzustellen, die von der aktuellen Berichterstattung in den Öffentlich-Rechtlichen einerseits und der „strikten kommunistischen Wissenschaftlichkeit“ der pseudo-linken Idealisten andererseits nicht erfasst werden. Und – noch einmal die Gelegenheit nutzen, zu betonen, man könnte der Redaktion alles Mögliche vorwerfen, aber nicht, dass wir jemals für „konkret“ geschrieben hätten. Aber der Reihe nach.
Die Gesellschaft ist, ganz abstrakt gesprochen, sehr konkret. Es wurde hier einmal – rhetorisch, versteht sich, – die Frage gestellt, wer denn die russländische Gesellschaft „reparieren“ würde, wenn das mittlerweile 21 Jahre andauernde Schlamassel namens das Regime Putin zu Ende sein wird. Das Ende ist nah, das ist abzusehen. Die Massenteilmobilsierung bzw. Teilmassenmobilisierung in Russland, oder wie auch immer man diese Hekatombe noch nennen mag, mit der Putin die Büchse von Pandora wieder versiegeln möchte, wird das nicht mehr aufhalten. Ob Lukaschenka jetzt doch noch eine Beteiligung am Krieg riskiert, ist momentan nicht sicher. Er hat immerhin einen Job, durch seinen in periodischen Abständen verkündeten Kriegsbeitritt Teile der ukrainischen Streitkräfte an der belarussischen Grenze zu binden. Darum geht es hier nicht. Es geht ums „danach“. Wer traut sich?
Ich glaube, es ist ein offenes Geheimnis, dass man das sogenannte Aktionskommittee um Kasparow und Chodorkowskij in der Pfeife rauchen kann. Letztens, ein paar Tage nach dem Anschlag mitten in Moskau, bei dem Darja Dugina umgekommen ist, meldete sich eine Stimme zu Wort, von der man bis dahin nichts gewusst hatte: die Nationale Republikanische Armee. Vorgestellt hat sie allerdings eine bekannte – und eine zwielichtige – Person, Ilja Ponomarjow. Niemand kann genau sagen, was so einer überhaupt im Leben treibt, der mal von der KPRF und Linksfront zu „Gerechtes Russland“ wechselt, einer „sozialistischen“ Partei, der seit 2021 u.A. der bekannte Literaturfascho Sachar Prilepin vorsteht; im Staatsduma mal für staatliche Internetzensur, mal als einziger Abgeordneter gegen die Annexion der Krim stimmt; 2011 zusammen mit Nawalny den Koordinationsstab der Opposition gründet und sich 2013 am kremltreuen Waldai-Forum beteiligt.
Nun gründet der Mann angeblich einen Gegenpol zum liberal-pazifistischen Aktionskommittee, um die bewaffneten, militanten Kämpfe gegen das Regime Putin zu bündeln und beansprucht für die NRA nicht nur Dugina, sondern den Anschlag auf die Krim-Brücke und einige kleinere Aktionen mehr. Die mitvertretene Legion „Freiheit für Russland“ ist wohl eine TikTok-Gegenveranstaltung zu den Kadyrows Truppen, die bis jetzt auch nur noch auf TikTok militärisch geglänzt haben. Die einzige Kampfeinheit im Bund, die man tatsächlich ernst nehmen kann, ist die Russische Freiwilligencorps, die unter der historischen Fahne der Russischen Befreiungsarmee (ROA) kämpft, der waschechten Nazikollaborateure also, und über die man inzwischen ganz interessante Sachen weiß. Und die famose Veranstaltung Ponomarjows haben sie nach einem Tag bereits wieder verlassen. Ich glaube, es lag nicht nur daran, dass sie die weiß-blau-weiße Fahne der liberalen Opposition nicht akzeptieren konnten, sondern dass sie ganz einfach für solchen Blödsinn keine Zeit haben.
Indes zerstreitet sich die Opposition im Exil an der Frage, ob man den offensichtlichen Stuss doch noch nicht unterstützen sollte. Wer weiß, vielleicht inspirieren die Fakes über den bewaffneten Untergrund jemand so weit, dass so etwas in Russland wirklich entsteht. Irgendjemand sabotiert doch die Gleise bereits, vielleicht nimmt auch jemand eines Tages die Waffe in die Hand. Hmmm, vielleicht… Was aber jetzt schon sicher ist, ihr werdet keine Herren über so jemand sein. Eine im wahrsten Sinne des Wortes faschistische Rechte, die das Regime für seine katastrophalen imperialen Eskapaden immer offener kritisiert und angreift, kann ich mir vorstellen. Ob sie in Gestalt von Prigoschin, Malofejew und Dugin daher kommt – steht noch in den Sternen. Wie wichtig Dugin ist, fragt bitte Alex Gruber oder sonst noch jemand. Public intellectuals neigen dazu, einander zu überschätzen.
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Also dann, droogs, wie man bei uns in „Clockwork Orange“ sagt, zum zweiten Teil der News. Ich fürchte, jemand spielt unseren Linken Streiche und die gefallen ihnen ganz ausgezeichnet. Die Redaktion des GT leugnet zwar bis zum heutigen Tag hartnäckig, jemals eine „konkret“-Ausgabe angefasst zu haben, scheint aber immer ganz gut Bescheid zu wissen darüber, was in einem Heft so steht, uns manchmal sogar besser als die „konkret“-Redaktion.
Wie auch immer, das Interview mit einem russischen Anarcho-Syndikalisten namens Hektor Schpree in der September-Ausgabe war vollends entzückend. Demzufolge steht das Land auf der Kippe und stürzt sich schon heute oder morgen in die soziale Revolution, schnallt euch an. Als jemand, der im russischen Sektenwesen (sei es links oder religiös) ein wenig durchblickt, über die KRAS, die „sich belebt“ haben soll, muss ich lachen. Es gibt Gründe, warum die KRAS die Konföderation DES revolutionären Anarcho-Syndikalisten genannt wird, nach der alten Eiterbeule und gelehrtem Historiker Vadim Damier, der zumindest früher ab und zu seine wertvolle Ansichten in der GWR verbreitet hat und heute es immer noch nicht schafft, die Schuld am aktuellen Krieg dem russischen Staat zuzuweisen. Der Mann habe sich also belebt, das ist an sich nicht schlecht. Die folgenden Ausführungen über einen „sowjetischen“ und einen „europäischen“ Anarchismus sind blanker Stuss: Nachrichten über Antikriegsstreiks sind wohl an mir vorbeigegangen, aber die „Europäischen“ stellen sich nicht auf die Kyivs (ja, so heißt die Stadt btw) Seite, sie stellen sich gegen den Vernichtungskrieg, den Russland eingebrockt hat und den Damier nicht bei Namen nennen vermag. Gigantische Beteiligungszahlen der Bewegung, diese ominösen „Zellen der revolutionären Syndikalisten … die aus mehreren Hundert Personen bestehen“ usw., sind wohl einem Missverständnis oder einem Übersetzungsfehler zuzuschreiben, dazu aber später. Über die Liberalen in den Oppositionsmedien und den „roten“ Nationalismus wird Schpree vermutlich Recht haben, kommt mir aber insgesamt wie jemand vor, der sich ganz gerne die Arbeit von Basisbewegungen oder lokalen anarchistischen Grüppchen aneignen würde. Fast wie ein gewisser Ponomarjow.
Warum? Schauen wir uns das mal an, was und wo der liebe Hektor treibt. Auf seinem Youtube-Kanal ist nichts von dieser revolutionären Magma unter der gesellschaftlichen Oberfläche zu sehen, das bisschen Rojava, ein bisschen dies und das, was die Linke in Abwesenheit der eigenen Bewegung so treibt. Das ebenfalls eigene vk-Kanal ist auch mit allem denkbar Möglichen, mit Kriegsreportagen z.B. gefüllt, nur nicht mit der anarcho-syndikalistischer Betriebsarbeit. Apropos Kriegsreportagen: Unter Anarchisten, die angeblich aktiv Kriegsberichterstatter (woenkor genannt) werden, um zu Soldaten an der Front zu gelangen, meint Schpree offensichtlich sich selbst. Ist an sich keine schlechte Sache, die allerdings bedeutet, dass er unter russischen Fittichen in der Ostukraine „embeded journalism“ betreibt. Und tatsächlich: Nirgends ein Wort davon, dass an diesem Krieg irgendwas falsch sein könnte. Wie viele „Soldaten“ und wofür Hektor Schpree bereits agitiert hat, werden wir, fürchte ich, zumindest in „konkret“ nicht mehr erfahren: Hier beklagt er sich, dass die Redaktion seine Aussagen falsch und verkürzt wiedergegeben hätte –
Wie kommt‘s, bei aller Pluralität im Anarchismus, diese seltsame Haltung zum Krieg und Mobilisierung? Hektor Schpree ist unter anderem ein Mitglied von rabkor.ru, einem Sprachrohr für Kremltreue Linke, deren Chefdenker marxistischer Autor Boris Kagarlitsky ist. Über den Onkel wusste man 2014 Folgendes zu berichten:
On April 22, Boris Kagarlitsky affirmed (here, Russian original here) that “the successful uprising of hundreds of thousands (and perhaps millions) of people in eastern Ukraine is not to be explained on the basis of Russian interference”. An uprising of hundreds of thousands, even millions? Even the propaganda of the Russian regime aimed at people abroad, with the channel Russia Today in the forefront, is a thousand times more measured.
On the international left, almost nobody knows Russian, and even less Ukrainian; so when the left wants to know what is happening in Ukraine, it finds itself in a catastrophic situation. So as not to depend on the Western media, it is condemned to have recourse to the English-language propaganda of the Putin regime and to that of the so-called “anti-imperialist networks” which are pro-Russian (often “red-brown” or downright brown) as well as what is translated into English by the journal Links – a site, to be precise, which has provided publicity for Kagarlitsky’s writings concerning this great mass uprising that does not exist.
Much of the left has let itself be taken in by these writings; just as it had believed, previously, in the existence of a “fascist putsch,” a “fascist junta” and a “fascist terror” in Ukraine. Part of the left has done this out of disorientation, for which, besides, it is itself responsible. For another part, quite considerable, the “uprising” in eastern Ukraine has served as a fig leaf to hide its passage with arms and baggage – neo-campists or simply post-Stalinists – to the side of Russian imperialism. (…)
During the Crimean crisis Kagarlitsky distinguished himself by a thesis that was as original as it was clownish. Namely that “there were no insidious schemes or imperial ambitions involved”. It was the Crimea itself, by force of the will of the local Russian people and the wisdom of its leaders, that imposed on Vladimir Putin, who resisted, the annexation of Crimea to Russia; or rather “it is Crimea that has annexed Russia”. Links reproduced these words under the heading “Crimea annexes Russia”.
Jemand, dessen Job es war, den europäischen und den Linken weltweit eine nach Sozialimperialismus riechende Nebelkerze vor die Nase zu werfen. Seine verlässlichen Zeitgenossen auf der Extremrechten wurden offenbar mit einer ähnlichen Aufgabe betraut, deswegen hat man Kagarlitsky damals öfters in einer merkwürdigen Gesellschaft angetroffen:
„In Russia, however, Kagarlitsky prefers a different company. I have already mentioned that Kagarlitsky took part in a meeting of the Russian far right „Florian Geyer“ club headed by Russian right-wing Islamist Geydar Dzhemal and frequented by Russian fascists such as Aleksandr Dugin, Maksim Kalashnikov and Mikhail Leontyev, Swedish anti-Semite Israel Shamir and Italian Nazi-Maoist Claudio Mutti among others.
Kagarlitsky (and Richard Brenner) also took part in the conference „The world crisis and the conflict in Ukraine“ held in annexed Yalta on 6-7 July 2014 and co-organised by his Institute for Globalization Studies and Social Movements. Other co-organisers of this conference – the ultranationalist „Novaya Rus“ (New Russia) headed by Aleksey Anpilogov – held a second conference titled „Russia, Ukraine, New Russia: global problems and challenges„, to which they invited international fascists such as Frank Creyelman (Vlaams Belang), Luc Michel (Parti Communautaire National-Européen), Márton Gyöngyösi (Jobbik), Roberto Fiore (Forza Nuova), Mateusz Piskorski (Samooborona) and Nick Griffin (British National Party). (Only Piskorski and Fiore, however, were able to come.)“
Das ist derselbe Onkel, den „konkret“ in der Oktober-Ausgabe einen Nachruf auf Gorbatschow schreiben lässt.
Hier, droogs, sehen wir ein dialektisches Verhältnis von Arsch und Eimer, wie wir marxismusaffine „sowjetische“ Anarchisten sagen. Ich jedenfalls hoffe auf eine fruchtbare Synthesis und würde mich über seine Reportagen von der Front freuen, und „konkret“ hätte dann auch eine authentischere Fake-Schleuder als Ulrich Heyden in „unsere zeit“ für sich gewonnen. Nächstes Mal suchen wir vielleicht nach Kräften, die die ebenfalls demolierte ukrainische Gesellschaft „reparieren“ könnten. Stay tuned,
– spf