Buchbesprechnung: (Hrsg.) Horst-Stowasser-Institut e.V., „Das Projekt A“, 2019, Bodenburg

[Aus der Ausgabe #15 – das GT]

Diese Buch kann ruhig ein moderner Klassiker des bundesdeutschen Anarchismus bezeichnen. Kaum jemand, der oder die heutzutage in irgendwelchen alternativen bzw. Kollektivbetrieben und Hausprojekten herumwerkelt, hat es gelesen, ist aber gewissermaßen ein Nachkomme des „Projekts A“, ohne es zu wissen. Zu einer umfassenden Reflexion durch den damaligen Initiator, Horst Stowasser, ist es leider nie gekommen, aber man kann sich ein Bild machen, wie es gedacht, diskutiert und umgesetzt wurde. Mitte der 80er Jahre startete nach einer bundesweiten Diskussion an drei Standorten in Oberhessen, Ostfriesland und Pfalz etwas Ambitioniertes, was mehr sein wollte als Hippi-Kommune, Verbund alternativer Betriebe oder der historische Sozialistische Bund Gustav Landauers – eine Föderation aus „dualen Projekten“, langfristig auf Ausweitung und Revolutionierung der Gesellschaft ausgerichtet. Der Gedanke ist trotzdem ein ziemlich Landauerscher. Wann die nächste Krise kommt, wissen Berufsrevolutionäre genauso wenig wie VWL-Professoren, aber sie pflegt diese immer wieder zu überraschen und einiges objektiv und subjektiv umzuwerfen. Dann haben Vorstellungen vom anderen Leben und Arbeiten wieder Konjunktur. „Solche Prozesse der Ernüchterung mögen generationsbedingt zusammenfallen mit der individuellen Midlife-crisis eines jeden, was seine kollektive Wirkung nur verstärkt und ihr Auftreten in den nächsten 10 bis 20 Jahren wahrscheinlich macht. Sie mögen zusätzlich verstärkt werden durch äußere Erschütterungen in Weltpolitik und Weltökonomie, die dazu beitragen, dass große Bevölkerungsschichten in tiefgreifende Wertkrisen fallen, etwa dann, wenn ihr Wohlstand gefährdet ist, ihr ökologischer Lebensraum bis zur Unerträglichkeit verkommt, oder ihr Ersatzgott ‚Geld‘ plötzlich nichts mehr wert sein sollte… Niemand kann solche Ereignisse voraussagen, aber es sind allesamt Dinge, die passiert sind, passieren und passieren werden – Dinge übrigens, mit denen die Linke in einer Art von ‚Katastrophentheorie‘ auch gelegentlich spekuliert (für die sie aber leider kaum brauchbare Strategien einer angemessenen Reaktion entwickelt und sich stattdessen von ihnen auf wundersame Weise eine ‚neue Welt‘ und einen ‚neuen Menschen‘ erhofft…). Spontan fallen mir dazu Szenarien ein wie ein internationaler ‚Dominoeffekt‘ unter Banken nach dem Bankrott von US-amerikanischen Sparkassen, der von Fachleuten erwartet wird, oder eine Verschärfung des Nord-Süd-Konflikts, der etwa mit dem finanziellen Bankrott eines Lands wie Mexiko, Brasilien oder Argentinien eingeläutet werden könnte oder einer forcierten Massenflucht der Armen in die Metropolen der Rechen… und vieles mehr“, sinnierte darüber Stowasser 1992. Die Leute, die das Projekt damals gestartet haben, wollten nicht nur wie auch immer emanzipatorisch leben und arbeiten, sondern unbedingt auch ökologisch wirtschaften – etwas, was man im Stowassers Plan nicht findet. Und eine Idee, ein Betrieb an eine politische Initiative wirtschaftlich zu koppeln, muss streng genommen ein durchdachter Businessplan sein, schlimmstenfalls versucht man z.B. die Sanierung und den Unterhalt eines Wohnprojekts bzw. eines Kulturzentrums mit Verkauf von Billigbier zu finanzieren. Der sorgsam ausgearbeitete Plan wird in der Regel von der Praxis revidiert oder gänzlich durchgestrichen: Finanznot, Arbeitsmoral, politische Differenzen, Transparenzprobleme, Wohnungsmangel, inzestuöse Abkapselung in der Subkultur, persönliche Sinn- und Beziehungskrisen, Eitelkeit und Eifersucht, das Fehlen von „langem Atem“. So kam es auch, so ist es heute immer noch. Wenn in Deutschland von diesen Strukturen wenig übriggeblieben ist, in Spanien erwies sich die Idee als erfolgreicher und lebensfähiger. Wie auch immer: praktisch nützlich am Buch ist so gut wie nichts mehr, es wollte im Übrigen auch damals keine „Projekt-Bilbel“ sein. Der Ausnahmezustand wird bekanntlich von der Linken nur in romantischen Phantasien herbeigeführt. Aber die wichtigste Frage darf die Linke gerne beantworten: Was hat sie vor zu tun, wenn es kracht? Und wenn es kracht, ist es nicht eh zu spät?

– von ndejra

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Ein Nachruf auf Helmut Thielen

von ndejra

Helmut Thielen war ein Soziologe und Agrarwissenschaftler, der an der Universität Porto Alegre in Brasilien gelehrt und sich für die Weiterführung der Kritischen Theorie gemäß der Horkheimerschen Maxime: „Das einzige Mittel, der Natur beizustehen, ist die Entfesselung ihres scheinbaren Gegenteils: der kritischen Vernunft“, stark gemacht hat. Für den letzteren Zweck hat er das ICIBOLA (Institut für Bildung, Publikation und Forschung im Interesse einer lateinamerikanischen, bolivarianischen Bürgergesellschaft) mitbegründet. Zufällig erfahre ich, dass er August 2020 gestorben ist, und bei keinem der Verlage, wo er veröffentlicht hat, findet man nur ein einziges Wort dazu. Was soll‘s, ich kenne drei-vier Bücher von ihm, die waren mal für mich wichtig, dann mach ich das halt. „Befreiung. Perspektiven jenseits der Moderne“ (1994) und „Die Wüste lebt. Jenseits von Staat und Kapital“ (2001) waren immerhin mein – durchaus verhunzter, muss ich sagen – Zugang zur Kritischen Theorie, die ich vor etwa Dutzend Jahren wenn nicht gegen Adorno, dann gegen die Adorniten zu halten meinte. (Würde ich heute zwar nicht mehr so machen, aber einen rationalen Kern hatte der Angriff damals).

Für „IdeologiekritikerInnen“ war Thielen wohl zu anarchistisch, für AnarchistInnen wohl zu marxologisch und theorielastig, dazu noch mit der 3. Welt-Perspektive und den seltsamen Anleihen aus der Befreiungstheologie. Und last but not least – er war noch an einem für linke Intellektuelle typischen Leiden erkrankt: an der sogenannten Israelkritik, die sich in einen emanzipatorischen Jargon kleidet. Unwahrscheinlich, dass er deswegen seit 2007 nichts mehr auf Deutsch veröffentlicht hat. Denn so gut kann man die linke „Gegenöffentlichkeit“ in der BRD kennen, um zu wissen, dass weder tendenziell anarchistische oder tendenziell marxistische Verlage, noch Zusammenschlüsse wie etwa die Nürnberger Literaturmesse oder dergleichen am linken Antizionismus stören würden.

Thielen wollte partout nicht wissen, was den Antisemitismus von links ausmacht. Was kann schon schief gehen, wenn man Finkielkraut, Zuckermann und Avneri eins zu eins nachplappert? Man gebe doch nur die berechtigte Staats- bzw. Militärkritik weiter, allerdings ist der kritische Theoretiker und Friedensfreund dabei fest entschlossen, die Tatsache zu übersehen, dass die besagten Herrschaften es mit den Fakten nicht so ernst nehmen und meistens nur Stuss von sich geben (im Falle Uri Avneri gaben, möge Allah mit ihm zufrieden sein). Der Stuss ist der deutschen Friedensbewegung bzw. „-Forschung“ sehr willkommen, also unterschreibt Thielen als einziger weder in Deutschland noch in Österreich ansässiger Politologe 2006 das „Manifest der 25“ mit, einen offenen Brief der Gelehrten, welche „die deutsche Verantwortung gegenüber Palästina“ proklamieren und das Ende der der „besonderen“ Beziehungen zu Israel fordern. Auch hier: wer dem israelischen Regierungspersonal die Hände schüttelt und mit der anderen Hand Handelsabkommen mit dem iranischen Regime unterzeichnet hat es wohl nie mit irgendeiner „besonderen“ Freundschaft erst gemeint, denn das würde immerhin ein reziprokes Verhältnis implizieren, sondern hat nur seine „besondere“ Rolle in der Welt vor Augen. Die Rolle, unter anderem und vielleicht als „Vergangenheitsbewältigungsweltmeister“ doch insbesondere Israel über seine Sicherheitspolitik belehren zu dürfen. Das hätten die gelehrten Damen und Herren wissen können, wollten sie offensichtlich nicht.

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Nawalny dies, Nawalny das

von seepferd

Noch vor ein paar Tagen hat es so ausgesehen, als würde Russland sich langsam aufrappeln und einen Aufstand gegen das langsam seinen letzten Reiz verlierende Regime Putin versuchen, und zwar so breit wie seit 2011/12 nicht mehr. Unmut wurde natürlich hier und da immer wieder in großen Städten bekundet: mal in St. Petersburg, mal in Jekaterinburg, mal in Moskau selbst wie vor etwa zwei Jahren. Nun macht auch die Provinz, was bis dato nur Chabarowsk seit etwa einem halben Jahr im Alleingang, dafür aber sehr konsequent gemacht hat: nämlich massenhaft auf die Straße gehen und nach Veränderungen verlangen.

FreundInnen wie GegnerInnen der Veränderungen gleichermaßen stellt sich die Sache so dar, als wäre sie allein von Alexej Nawalny und seinen Gefährten, die sich mit ihm gegen die zum Staatsprinzip gewordenen Korruption verschwören, ausgelöst und angeführt. Nawalny wagt es nicht nur, Putin herauszufordern, er scheint es auch  tatsächlich zu können. Man mag ihn und seine Sache für gut oder schlecht befinden, eins kann man ihm nicht nehmen: viele Tausende Menschen sind bei Minustemperaturen auf die Straße gegangen, um Gerechtigkeit für ihn – und sich selbst gleich mit – einzufordern. Man zeige nicht auf die Generation, die die „wilden“ 90er nicht erlebt hat, sprich – die letzten 20 Jahre im Reich der Putinschen „Stabilität“ gelebt hat. Für diese „Stabilität“ kann sie, rein logisch betrachtet, auch nicht dankbar sein. Es sind auch ältere dabei, die auch wesentlich schlimmere Zeiten gesehen haben und auf die Kreml-PropagandistInnen in erster Linie mit solchen Vergleichen zielen. Der Pharao ist verärgert und lässt seine Priester Lügen verbreiten und seine Untertanen seinen Zorn spüren.

Seine politische Karriere hat Alexej Nawalny eigentlich in der altehrwürdigen liberalen Partei „Jabloko“ angefangen. Aus dieser hat man ihn 2007 wegen „nationalistischer Umtriebe, die das Ansehen der Partei schädigen“, rausgeschmissen. 2007 hat er sich allerdings auch mit Neonazis angelegt und Maxim „Tesak“ Marzinkewitsch, der später zum medialen Gesicht der russischen Neonazis wird, zu einer einjährigen Freiheitsstrafe verholfen. D.h. auch nach seinem Rauswurf aus „Jabloko“, als er angefangen hat im damals noch sehr lebendigen nationalistischen Lager zu fischen und selbst als er zwischen 2011 und 2013 im Organisationskomitte des „Russischen Marsch“ – der bekanntesten Fascho-Veranstaltung in Russland – war, haben umtriebige JunghitleristInnen ihm gegenüber nur Misstrauen entgegengebracht. Er ließ auch keine Gelegenheit aus, die Nazis zu trollen. Die Zuneigung war wohl gegenseitig, entspricht im Übrigen der Teilung, die im „Russischen Marsch“ immer noch zwischen den Nationalisten, die halbwegs respektabel sein und in die große Politik einziehen wollen, und den „autonom-revolutionären“ NS-Kräften existiert. Etwa 2013 sagt er seine Teilnahme bzw. sein Mitwirken am „Marsch“ ab, weil es mit dem respektablen Politiker-Image langsam nicht mehr vereinbar wurde und daher für  kremltreue Medien ein gefundenes Fressen geworden wäre. Ob er von seinem „gemäßigten“ Nationalismus und xenophoben Äußerungen Abstand genommen hat oder nicht, lässt sich nur schwer sagen. Dafür ist sein populistisches Antikorruptions-Programm zu vage. Vermutlich einiges (Arbeitsmigration aus Zentralasien z.B. oder die sog. Islam-Kritik, die keine Kritik ist, sondern nur chauvinistischer Bullshit) wird einfach unter den Teppich gekehrt, in anderen Fragen vertritt er offensichtlich viel vernünftigere Positionen (in der leidigen „ukrainischen Frage“ pocht er auf das Einhalten des Minsk-Abkommen und ein „ehrliches“ Krim-Referendum) als der Rest des nationalistischen Lagers und der Kreml. Soviel zum „Nawalny ist nur ein Pendant Putins“. 

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Das Problem des Bodeneigentums

Buchbesprechung:

Werner Heinz und Bernd Belina, Die kommunale Bodenfrage, Hintergrund und Lösungsstrategien, Studien 2/2019, Hg. Rosa-Luxemburg-Stiftung
Peter Conradi, Hartmut Dieterich, Volker Hauff: Für ein soziales Bodenrecht, 2. Auflage, EVA, Frankfurt/Main 1973
Gerhard Senft (Hg.), Land und Freiheit, Zum Diskurs über das Eigentum von Grund und Boden in der Moderne, Kritische Geographie, 2. Auflage, Promedia, Wien 2014

Die Fragen der Grundrente und des Bodeneigentums werden von den heutigen Marxisten meistens nur unter dem Aspekt des städtischen Bodens und der Wohnraummiete untersucht. Die landwirtschaftliche und mineralische Produktion und die hier anfallende und auf allen Warenpreisen ungleichmässig liegende Grundrente wird bedeutend weniger untersucht. Insbesondere die Landwirtschaft wird anscheinend unter Marxisten von jeher nicht besonders ernst genommen.

Betrachten wir fürs erste einige ausgewählte Gedanken zu der Mietfrage und verfolgen wir sie danach weiter. Es wird nötig sein, bei einigen Gelegenheiten weit über dieses Thema hinauszugreifen. Denn die Frage sogar des städtischen Grundeigentums kann nicht gelöst werden von dem Zusammenhang gesellschaftlicher Produktion, und noch weniger von der Verfassung der städtischen Gemeinden.
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Die amerikanische Verfassungskrise IIX

Thomas v.d. Osten-Sacken schreibt auf der Seite der Jungle World:

War das ein Putsch oder gar Coup, wie viele die gestrigen Ereignisse nennen? Wenn, dann war das noch größerer Pfusch als Ding in der Türkei 2016. Und Coups werden normalerweise nicht vom obersten Repräsentanten einer Regierung, sondern gegen ihn organisiert.

Im 19. Jahrhundert, z.B. in den Schriften von Marx, hiess es ein Staatsstreich, wenn die Regierung das Parlament entmachtet. Wenn das Militär die Regierung entmachtet, nannte man das ein Pronunciamento. Heute sagt man self-coup oder autogolpe für einen Staatsstreich durch die Regierung.

Es erinnerte eher an Szenen, die aus der Antike beschrieben wurden, wenn Barbarenhorden römische Städte stürmten und plünderten

„Es erinnert“ mich, wenns schon römische Geschichte sein soll, „eher“ an Plut. Cat.Mi. 32,2 f. über die Methoden Caesars:

Zuerst wurde über den [Konsul] Bibulus selbst, als er aufs Forum ging, ein Korb Mist geschüttet; dann fiel der Mob über seine Liktoren her und zerbrach ihre Ruten. Schliesslich flogen Steine, und viele wurden verletzt. Alle anderen Senatoren flohen von dem Forum

Warum schreibt er den Schmarrn mit den Barbaren? Weil das Jungle-Publikum nur diese Sprache versteht. Um so schlimmer!

Ich gebe ausserdem zu bedenken:

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Die amerikanische Verfassungskrise VII

Es ist nicht viel zu den Vorgängen gestern an sich zu sagen, ausser dass sie vollkommen vorhersehbar waren.

Das interessanteste daran sind für uns diese zwei Dinge, erstens dass ein Teil der Partei von Trump abgefallen zu sein scheint. Es ist die Rede davon, ihn in den letzten Tagen des Amts zu entheben; daran wird sich messen, wie ernsthaft dieser Bruch ist.

Das zweite ist, dass die Demokraten durch die gestrigen Stichwahlen in Georgia die Mehrheit im Kongress haben; und diese Mehrheit nun auch zu entschiedenen Schritten benützen müssen, nachdem der Rubikon überschritten ist. Dieser letzte Wahlsieg selbst ist vermutlich ein Ergebnis der Spaltung der Republikaner: Trump hatte den republikanischen Gouverneur von Georgia der Wahlfälschung beschuldigt.

Die Vorherrschaft der Demokraten und die Spaltung der Republikaner sind das Zwischenergebnis der amerikanischen Verfassungskrise. Nun, da die Trumpisten als offene Hochverräter angesehen werden müssen, wird die Sache noch eine andere Dynamik bekommen. Nichts bringt derartige Dynamik in so etwas wie erfolgloser Hochverrat.

Trump ist nach jetzigem Stand noch 13 Tage die oberste Bundesgewalt, und er muss fürchten, danach angeklagt zu werden. Die Sache ist noch lange nicht vorbei.

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Nachträglich: Über die Situationisten

Die Strömungen und Gruppen, die das Erbe der SI beanspruchen, haben von ihren Ideen meistens die zu glatten, die verführerisch einfachen, die bloss theoretischen übernommen; die unebenen, schwierigen aber liegen lassen, in denen aber als einzige aber Leben war. Es ist eine schwierige Erbschaft. Die SI hat geschafft, mehrere Linien der modernen Revolutionsgeschichte zusammen; auf dem Grat dieser Einheit zu halten, war ihr nur um den Preis ständiger Anstrengung möglich. Das kommt, weil ihre Ideen getrennt von der Praxis zu bestehen hatten. Wer sie weiterführen will, muss sie verwerfen. Die sie einfach übernehmen, werden sie verderben.

Die Situationistische Internationale hat sich ohne Frage ungeheure Verdienste erworben. Aber zu Grunde gegangen ist sie zuletzt, und berechtigt, an ihrem Grundfehler, der alle ihre Praxis und jeden ihrer theoretischen Sätze durchzieht: der Ideologie der Avantgarde.

Merkwürdige Ironie: die radikale Kritik der Trennungen war nicht radikal genug. „Unsre Ideen sind bereits in allen Köpfen, es kommt darauf an, sie dort hervorzuholen“, ja, aber als sich das im Juni 1968 gezeigt hatte, war niemand unter den Situationisten mehr zu irgendeiner sinnvollen Handlung fähig. Die Ereignisse hatten diese Ideen verwirklicht, und damit überholt. Debord und Sanguinetti waren die nächsten fünf Jahre damit beschäftigt, ihre Organisation aufzulösen; in genau der Zeit, in der sich die Niederlage ihrer Bewegung entschied, waren sie nicht im Stande, irgend etwas beizutragen.

In den Jahren vor 1968 hatte ihnen die Existenz als Avantgarde-Gruppe notwendig geschienen, und man mag nicht einmal sagen mit Unrecht; sie hatten einen klareren Begriff als die meisten gewonnen von den Dingen, die anstanden. Überall sonst gab man sich überzeugt, dass keine grösseren Erschütterungen zu erwarten waren; niemand ausser ihnen schien das leise Zittern zu bemerken, das grösseren Erdstössen voranzugehen pflegt.

Die sogenannte Avantgarde ist aber eine Figur der Marginalisierung, eine erzwungene Isolation und ein Behelf, in der man sich sehr leicht einrichtet. Sie brütet die Überzeugung aus, man stünde in einem speziellen Bund mit einer inneren Tendenz der Geschichte; mit denjenigen Ideen, die die Gesellschaft nicht offen ausspricht. Und das ist nicht wahr. Dieser Bund, wenn er besteht, ist vorübergehend. In der Form der Avantgarde ist das Scheitern schon vorgezeichnet.

Die kleinen Manöver und Intrigen der Sektenpolitik, die niederen Künste der Verschlagenheit sind in einem solchen Milieu überlebensnotwendig; sie bilden Gewohnheiten, die nicht leicht abgelegt werden. Die Illusion ungeheurer Bedeutung, ohne die in solcher Lage niemand den Antrieb zum Handeln fände, prägt sich zu einer Politik der Selbstermächtigung.

Aber die Sache ist, man schuldet Rechenschaft. Man arbeitet keineswegs auf eigene Rechnung. Man handelt keineswegs auf eigene Faust. Das sind Illusionen, für die man teuer bezahlt.

Diese Avantgarde-Ideen stammen, soweit es die Situationisten betrifft, aus der Kunst. Sie stellten sich die Aufgabe, die Kunst aufzuheben; genauer die Trennung zwischen der Kunst und dem alltäglichen Leben, und zwischen Produktion und Konsum von Kunst. Man konnte nicht einfach Kunstwerke produzieren, selbständig neben den Schaffensakt tretende Gegenstände; die Illusion der Autonomie der Kunst war verflogen. Solche Kunst produzierte Waren. Sie fanden die Idee, Schönheit nicht in einem fertigen Werk, sondern in der flüchtigen Situation zu finden; in einem Akt, in dem diese gleichzeitig entsteht und sich verbraucht. Das ist schön empfunden.

Das interessanteste an der Kunst ist die freie Tätigkeit, Handhabung der Mittel des Ausdrucks. Das gerade die Wurzel der befreienden Bewegung. In der freien Tätigkeit erschaffen sich die einzelnen Menschen als die Urheber ihrer Tätigkeit. Die sogenannte Spontaneität, die Bewegung ohne Anleitung, ist das Gegenstück. Sie geht sowenig in der sorgfältigen Organisation auf wie die Kunst im Kunstbetrieb, sie erstickt in dieser. Massenhafte freie Tätigkeit, das ist Aufhebung und Verwirklichung der Kunst. Sie kann durchaus vorbereitet werden. Erfahrungen können gesammelt werden. Dazu bedarf es gesellschaftliche betriebener Kunst, die nicht als Ware betrieben wird.

Aber Situationen zu machen, wie man früher Kunstwerke zu machen pflegte: wo ist die Grenze zur Manipulation, zum Manöver? Zumal auf dem Feld der gesellschaftlichen Veränderung, dem sie diese aufgehobene Kunst dienstbar machen wollten. Katalysator kann man sein, aber nicht Urheber. Die eigene bevorzugte Stellung in dem Prozess muss sich auflösen. Die Parallele zur Kunst wäre nur gegeben, wenn die Kunst von allen gemacht würde, aber dann ist sie nicht mehr Kunst; diese Trennung aufzuheben, ist der Avantgarde nicht möglich, ehe sie sich nicht als Avantgarde aufhebt.

Das macht die Sätze der SI nicht wertlos. Aber sie müssten auf einer noch einmal neuen Grundlage neu erforscht werden. Sie müssen von einer anderen Position als der der avantgardistischen Subjektivität neu formuliert werden, uns es ist nicht unmittelbar klar, wie gut sie das vertragen. Einige lösen sich vielleicht in Banalitäten auf, andere werden vielleicht kaum anwendbar.

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Die amerikanische Verfassungskrise VI

Teil IIIIIIIVV

Ehe wir wieder darangehen, über die amerikanische Krise selbst weiter zu schreiben, in der Zwischenzeit noch ein zwei Sachen über ihre Wirkung auf die Gemüter überall. Die Literatur über die derzeitige Krise der Gesellschaften ist von der Krise selbst nicht gut zu trennen. Nehmen wir folgendes schöne Beispiel:

Die Agonie des US-Imperialismus
Die Herausbildung des multipolaren Weltmarktes auf den Trümmern des neoliberalen Weltmarktes
von Iwan Nikolajew

Mich interessiert grad weniger, was er beschreibt, sondern eher, wie. Man hat immerzu den Eindruck, dass die Leute den einzelnen politischen Kräften und sogar den Prozessen viel mehr an Bewusstheit und Organisiertheit zuschreiben, als diese haben können. Eine Krise, lehrte die Erfahrung, kann zu Diktatur führen. Dikatur, lehren die Klassiker, ist die am meisten brutale Herrschaft der herrschenden Klassen insgesamt. Die verfeindeten Parteien repräsentieren beides die herrschende Klasse. Ergo:

Die USA stehen nach der Wahl am Rande eines Bürgerkrieges. Verhindert werden kann ein Bürgerkrieg und ein Zerfall der USA unter kapitalistischen Bedingungen unter Umständen nur eine Diktatur, ob zivil oder militärisch, ist gleichgültig. Alternativ eine „Regierung der nationalen Einheit“. … Für die US-Bourgeoisie wird es sehr kompliziert werden, ihren Fraktionskampf untereinander zu mäßigen und sich auf einen Kompromiß im Sinne einer „Regierung der nationalen Einheit“ hinzubewegen. Auch eine „Regierung der nationalen Einheit“ ist ein Moment des bürgerlichen Ausnahmestaates und geht mit großer Repression gegen die Arbeiterklasse vor, denn beide Fraktionen des Kapitals einigen sich auf dem Rücken der Arbeiterklasse, wenn sie sich überhaupt einigen können. …

WTF? Niemand hat von so etwas gesprochen, wie kommt man überhaupt darauf? Die verschiednen Fraktionen der Herrschenden sind nicht zuerst von dem Bewusstsein angetrieben, dass sie sich untereinander einigen müssen. Die Weltgeschichte sähe recht anders aus sonst. Kurz vorher standen die verfeindeten Parteien am Rand, sich die Hälse abzuschneiden, ergo müssen sie eine Einheitsregierung bilden.

Solche heissgelaufene Logik findet sich überall in dem Text, völlig random gemischt mit eher realistischen Auffassungen. Aber die fixe Idee wird durchgehalten, dass überall jetzt schon die Kräfte der Diktatur am Werk sind; wenn doch, wie sie selbst einräumen, diese Kräfte im Laufe der Krise und der Konflikte sich erst konstituieren!

Dieselben Regierungen, denen die Krise einerseits die Handlungsfähigkeit nimm, entfalten andererseits sagenhafte Weitsicht und ungeheure Macht; die Krise, noch ehe sie voll entfaltet ist, ist eigentlich schon bewältigt; die Diktatur, die auf der einen Seite aus der Krise hervorzugehen droht, ist auf der anderen Seite schon an ihrem Beginn anwesend und vollauf Herrin der Lage. Überall derselbe rätselhafte Zeitsprung, wo die Lösung eines Konflikts schon anwesend ist vor dem Konflikt. Das aber geschieht in Wirklichkeit nur an einem einzigen Ort, im menschlichen Geist des Theoretikers; dies ist die grosse Zeit des auf dem Kopf stehenden Denkens. Und „die Massen“, das soll man nicht vergessen, bestehen geradesogut aus Theroetikern wie die „politische Avantgarde“ auch:

Wir sehen, daß das traditionelle Kleinbürgertum, welches von der Stilllegung von Branchen im „Corona-Notstand“ betroffen ist, nicht vom Kapital zur „Leistungsgemeinschaft/Volksgemeinschaft“ gezählt wird… das bisherige traditionelle Kleinbürgertum in seiner sozialen Zusammensetzung, behindert die Weltmarktkonkurrenz des deutschen Kapitals und muß wenn nötig auch, physisch vernichtet werden

Umgekehrt wird ein Schuh draus: das Kleinbürgertum fürchtet, dass es nicht zur „Leistungsgemeinschaft“ gezählt werden wird, wenn es wirklich darauf ankommt. Die Ahnung der Diktatur und der „physischen Vernichtung“ der Überflüssigen hat die grösste Macht auf diejenigen, die innerlich von ihrer eventuellen Notwendigkeit am ehesten überzeugt sind. Wer das Infektionsschutzgesetz mit dem Ermächtigungsgesetz vom 27.3.1933 vergleicht, handelt nicht einfach aus Sorge, dass derlei wieder passieren könnte, sondern aus Empörung, zu Unrecht zu den Unerwünschten gezählt zu werden. Der ganze Rest der Gesellschaft, die Regierungen eingeschlossen, haben nicht die leiseste Ahnung, warum so etwas überhaupt zur Debatte steht und wie man auf so etwas kommt.

Der argwöhnische Verstand der Theoretiker sieht allzuglattes Funktionieren, wo man genauer betrachtet eine Desintegration der Apparate und der Gesellschaften sähe. Wie laufen denn die Dinge im so gut organisierten Deutschland? Auf Twitter habe ich jemanden neuerdings von einer „völlig zerschossenen Krisenkommunikation“ schreiben sehen. Das ist vollkommen richtig. Die Regierungen sind keineswegs in der Lage, einen derart eisern-einheitlichen Willen zu bilden, wie man sie ihnen zuschreibt. Dabei haben sie es mit einer Lage zu tun, die im Kontext des Katastrophenschutzes noch nicht einmal überaus komplex ist.

Nach 1929 war nicht Heinrich Brünig der, der den Faschismus gemacht hat. Die Kommunisten haben es bekanntlich trotzdem behauptet. Wird man nicht sagen, dass das ein Fehler war? Das dicke Ende kommt am Ende, nicht am Anfang der Krise. Die Aufregung in manchen Kreisen über die Bekämpfung der Epidemie ist aber nicht irrelevant: sie sagt viel aus. Aber etwas anderes, als diese Leute selbst meinen.

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Gute Frage XIV

Stimmt es, dass „Rudolf Rocker“ der Name des weniger bekannten Vorgängers der Werner-Comics war?

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Die amerikanische Verfassungskrise V

Noch ein Nachtrag. Ein bedeutender Beitrag zur Erhellung der Situation findet sich in einer vor 2 Jahren erschienenen sozialwissenschaftlichen Untersuchung des bremer Soziologen Nils Kumkar: „The Tea Party, Occupy Wall Street, and the Great Recession“, Springer/Palgrave Macmillan 2018.

The presidential election of 2008 can serve as a kind of natural experi-
ment on the interests of different classes in the economic crisis. (42)

A look at the different employers of the donors to the different presi-
dential campaigns does indicate a similar split between the two petty bour-
geoisies… (45)

(i) First, it appears that the so-called middle class is split
into two camps. As will become clear in the next chapter, this split in
important regards already prefigures the political polarization that gave
rise to the TP and OWS. (ii) Second… the factions of capital are similarly
split: Obama’s campaign in 2008 was associated with interests in education
and high-tech industries, and… a move away from fossil-fuel-intensive
industries. McCain on the other hand was supported by oil and gas industries
and favored by companies active in construction. This indicates a confrontation
between industries that fits the expectations one would have from the diagnosis
of a Green New Deal being one possible solution to the crisis: The profiteers
of a shift in the productive cores toward a ‘green economy’ are donating
to Obama’s campaign, while the possible losers of such a development
donate to McCain’s campaign. The confrontation between the different
industries as it is documented in the different donor profiles of the politi-
cal parties only grew fiercer in the years that followed, contributing to
the rising political polarization which in turn contributed to the political
gridlock that hindered substantial reform. (46)

Die gesellschaftlichen Bewegungen der letzten zehn, zwölf Jahre können also verstanden werden von den Interessen verschiedener Zweige des Kapitals aus; die Träger dieser Bewegungen sind aus den middle classes, die von den einen oder anderen Zweigen das Kapitals abhängig sind. Zu den middle classes gehören, wird man annehmen, auch allerhand Lohnabhängige. (Man weiss, wie die Arbeiter von West Virginia, die vom Kohlebergbau abhängen, stimmen. Sie stimmen für die Kandidaten, die von ihren Chefs finanziert werden. Sie stimmen nicht mehr wie vor 15 Jahren für die Kandidaten, die z.B. ein Verbot von Methoden wie dem mountaintop removal fordern: also eine drastische Einschränkung der Maschinisierung. Sie stimmen für den Erhalt der ganz wenigen Arbeitsplätze, die noch übrig sind.)
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Die amerikanische Verfassungskrise IV

Zu dem Teil III dieser Reihe sind noch ein paar kleinere Überlegungen angebracht, bevor wir uns der Nachrichtenlage wieder zuwenden.

A. Grad jetzt ist der erste Band von Barack Obamas Memoiren erschienen. Sie behandeln die Zeit bis kurz vor der Wiederwahl 2012. Es ist ein merkwürdiges Gefühl, das zu lesen. Man schwankt dazwischen, einzelne Dinge, von denen er erzählt, fast unwirklich fern zu finden, wie aus einer anderen untergegangnen Welt; andere aber, aus demselben Zeitraum, wirken wie eine direkte Ankündigung dessen, was danach kam. In manchen Reflexionen des Präsidenten überkreuzen sich diese beiden Welten, am interessantesten in denen über die sogenannte Tea-Party-Bewegung von 2010, S. 410.

There had been a time – back when I was still a state senator driving around southern Illinois or, later, traveling through rural Iowa during the earliest days of the presidential campaign – when I could reach such voters. I wasn’t yet well known enough to be the target of caricature, which meant that whatever preconceptions people may have had about a Black guy from Chicago with a foreign name could be dispelled by a simple conversation, a small gesture of kindness. After sitting down with folks in a diner or hearing their complaints at a county fair, I might not get their vote or even agreement on most issues. But we would at least make a connection, and we’d come away from such encounters understanding that we had hopes, struggles, and values in common.
I wondered if any of that was still possible, now that I lived locked behind gates and guardsmen, my image filtered through Fox News and other media outlets whose entire business model depended on making their audience angry and fearful. I wanted to believe that the ability to connect was still there. My wife wasn’t so sure. One night toward the end of our road trip, after we’d tucked the girls in, Michelle caught a glimpse of a Tea Party rally on TV – with its enraged flag-waving and inflammatory slogans. She seized the remote and turned off the set, her expression hovering somewhere between rage and resignation. “It’s a trip, isn’t it?” she said. “What is?” “That they’re scared of you. Scared of us.” She shook her head and headed for bed.

Er versteht offenbar die gesellschaftliche Dynamik nicht, die solche Bewegungen hervorbringt; aber das ist kein Wunder. Sie ist auch ziemlich verrückt. Zwei Jahre vorher hatte er die Wahl gewonnen mit der Botschaft, die Gräben zwischen den politischen Lagern zu überwinden und die zerklüftete Gesellschaft zu heilen; und zwar auf einer breiten Welle von Enthusiasmus und von Frustration, aber die Gräben und Klüfte scheinen seit seiner Wahl immer nur tiefer und irrationaler geworden zu sein.
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Belarus: Diktatur-Demokratie-Debatte

(Ein weiterer Gastbeitrag zum Thema Wahlproteste in Belarus. – das GT)

von Alexander Amethystow

Zu dem Zeitpunkt, wo ich diese Zeilen schreibe, ist noch nicht klar, ob sich der belarussische Präsident Lukaschenko an der Macht halten wird oder ob die Proteste und Sanktionen ihn zur Amtsaufgabe zwingen. (1) Schon jetzt ist aber klar, dass die Proteste in Belarus einige Probleme der Linken in Deutschland in Bezug auf Analyse von Staat, Demokratie und Diktatur offenbaren.

Es ist wenig überraschend, dass friedliche Proteste gegen die offensichtlich manipulierten Wahlen (Ausschluss der Kandidaten, Fälschung der Ergebnisse) und massive Gewaltanwendung staatlicherseits in einem nicht befreundeten Land in Deutschland auf breite Sympathie stoßen. Fast alle, die sich positiv auf den Begriff der Demokratie berufen, zeigen eine solidarische Haltung. Die Bundestagsparteien – mit Ausnahme von Teilen der AfD und der Partei DIE LINKE – zeigen sich empört. Ist es ein Thema, bei dem es keine Linke und Rechte mehr gibt? Verläuft die Konfliktlinie einfach nur zwischen Demokratie und Diktatur, über deren weitere Einordnung man sich nicht mehr zu streiten braucht? Und wie sollen sich dazu diejenigen verhalten, die den Staat in jeder Form ablehnen? Wie viel Inhalt steckt bereits in der demokratischen Form?

„Diktatur“ – was erklärt dieses Wort?

Belarus reklamiert für sich ein demokratischer Staat zu sein, gleichzeitig sind die Unterscheide zur Bundesrepublik nicht zu übersehen. Der Präsident Alexander Lukaschenko beruft sich auf den „Volkswillen“ und meint damit vor allem, dass das Volk als Ganzes hinter ihm stehen würde. Bei so viel Einheit zwischen Führung und Geführten wird die Opposition, egal ob liberal, links oder nationalistisch, quasi als nicht zum Volk zugehörig betrachtet, ihr wird die Teilnahme an den politischen Prozessen faktisch unmöglich gemacht. Unmutsäußerungen, egal ob bei Demonstrationen oder Streiks, werden im Namen der Demokratie kriminalisiert, oppositionelle Medien marginalisiert. Das kann schon Verdacht wecken, dass in Belarus der Staat seinem viel gelobtem Volk mehr misstraut, als es in Deutschland der Fall ist. Die Zustimmung des Volkes zum politischen System wird nicht, wie es sich unter demokratischer Herrschaft gehört, durch freie Wahlen bestätigt. Das Herrschaftspersonal stellt sich nicht in regelmäßigen Abständen der Konkurrenz, sondern behauptet, es gäbe schlicht keine. Der Kritik wird abgesprochen ein konstruktiver Beitrag zum besseren Regieren zu sein – es wird mit Staatsfeindschaft gleichgesetzt. Wenn wir das alles wissen, wissen wir dann auch etwas über das Programm der herrschenden Kreise? Sollte Herrschaft einen Inhalt haben außer Selbsterhalt, dann ist es noch nicht mit ihrer Form (Diktatur oder Demokratie) erklärt. Klar ist, dass die Herrschaft, die behauptet, ein ganzes Volk hinter sich zu haben, unehrlich ist, denn wären alle einer Meinung, wäre ja ein übergeordneter Gewaltapparat überflüssig. Klar ist, dass bestimmte Inhalte unterdrückt werden, aber mit dem Verweis auf die diktatorische Form ist der inhaltliche Konflikt zwischen der Regierung und der Opposition nicht annähernd geklärt.

Das ist ein wichtiger Scheideweg: der demokratische Anstand verbietet bei einer Diktatur weitere Fragen nach dem Inhalt und verlangt den Zusammenhalt aller demokratischen Kräfte gegen die Verletzung der Regeln der guten Herrschaft. Umgekehrt ist für einen Teil der Linken die Form sekundär, solange der Inhalt stimmt. Lenins Theorie folgend, sehen sie keinen prinzipiellen Unterschied zwischen Diktatur und Demokratie, weil es nur darauf ankomme, welche Klasse über welche Diktatur ausübt. So gesehen ist jeder Staat eine Diktatur und richtige Demokratie wäre eine Diktatur der proletarischen Mehrheit über die Minderheit der ehemaligen Ausbeuter. Deswegen streiten sich verschiedene leninistische Strömungen in Belarus, Russland, aber auch in Deutschland, ob Lukaschenko nicht doch das kleinere Übel sei und wen er da eigentlich unterdrückt. Wie verhält sich in diesem Konflikt die antiautoritäre, die staatskritische, die libertär-sozialistische Linke? Können Leute, die „selbstorganisiert, gewaltfrei, mutig und ohne Führer“ agieren lediglich neue Führung wollen?

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Veröffentlicht unter Geschireben | Kommentare deaktiviert für Belarus: Diktatur-Demokratie-Debatte