Umrisse einer Kritik des Faschismus

I.
Nach dem vorprogrammierten Scheitern des Konzepts vom „revolutionären Antifaschismus“ der 90er Jahre, das in der Zuspitzung des demokratischen Kampfes gegen Nazis zum Kampf gegen das Kapital bestand, kam es zu einer Desillusionierung bei vielen Antifas. Der bundesdeutsche „Antifa-Sommer“ 2000 offenbarte vor aller Augen, dass der Staat, das Subjekt der bürgerlichen Herrschaft, nicht nur als Helfer von Faschisten fungieren muss, sondern auch in der Lage sein kann, gegen dieselben seine Gewalt einzusetzen. Statt die Erkenntnis der Unwirksamkeit jener theoretischen und praktischen Konzeption des Antifaschismus zum Anlass zu nehmen, die Kritik der politischen Ökonomie und der kapitalistischen Staatlichkeit weiterzutreiben und mit anderen (anti-)politischen Formen zu experimentieren, geht die alter Leier mehr oder weniger unverändert bis zum heutigen Tag weiter. Mit dem historisch glücklichen Verlust der Täuschung über den vermeintlich revolutionären Gehalt des Antifaschismus wurde dieser Gehalt jedoch nicht etwa aktualisiert, sondern auf unbestimmte Zeit zugunsten organisatorischer und ideologischer Kontinuität suspendiert. So setzte man sich nicht der Gefahr aus, die vermeintliche Sicherheit des Aktivismus zu verlieren und verdrängte die Notwendigkeit des Bruchs mit der politischen Vergangenheit, die vor der Gegenwart längst blamiert war. Die Berechtigung des autonomen Antifaschismus der 90er Jahre (als ein partikulares Politikfeld), zu dessen Zeiten die Gegenwehr gegen die aufkommenden neuen Nazis erst noch aufzubauen war, hat im Nachhinein seinen Grund darin, dass der Staat noch nicht ein Engagement gegen die Nazis entfaltete. Aus diesem Umstand kann wiederum die Illusion entstehen, dass der Antifaschismus generell obsolet sei und ein genuin affirmatives Verhältnis zur bürgerlichen Herrschaft unterhalte. Nicht zur Kenntnis genommen wird dabei schon allein die einfache Tatsache, dass die Staatsantifa nur dann zur Tat schreitet, wenn dies wiederum gemäß instrumenteller Vernunft einem staatlichen Interesse entspricht. Bekanntermaßen war es im Jahr 2000 vor allem das internationale Echo infolge eines Anschlages auf die Synagoge in Düsseldorf und der damit verbundene Misskredit, der Schröder zum Ausrufen des „Aufstandes der Anständigen“ veranlasste. Wenn jetzt dem zviligesellschaftlichen Engagement gegen rechte Gewalt die Subventionen gekürzt oder gestrichen werden, setzt sich nur die gegenläufige Tendenz im Rahmen eines staatlichen Kalküls durch. Folglich ist der bürgerliche, demokratische, staatlich konditionierte Antifaschismus immer ein hilfloser Antifaschismus, der nicht nur unzuverlässig bis tendenziell versöhnlerisch ist, sondern immer auch gleichzeitig mit den affirmativ aufgefassten Kategorien der bürgerlichen Herrschaft die basalen Grundlagen der Faschisierung reproduziert. Gerade deshalb muss die Niederkämpfung des Faschismus von seinen konsequentesten Feinden vorangetrieben werden, die um dessen Voraussetzungen im Bestehenden und damit auch um die Möglichkeit seiner historischen Zerstörung wissen.

II.
Der zentrale Mangel sowohl der desillusionierten Antifas, als auch der illusorischen Kritiker des Antifaschismus ist eine Auffassung vom Faschismus, die diesen verdinglicht mit der Abfolge historischer Regimes und einem bloßen Wechsel des Herrschaftspersonals identifiziert, der den gesellschaftlichen Inhalt der Herrschaft (der Staat als „ideeller Gesamtkapitalist“ und Garant des Privateigentums) unverändert fortwirken lasse. Der antisemitische Kern des Faschismus, dessen vergesellschaftende Wirkmächtigkeit und die daraus folgenden Konsequenzen für das kommunistische Projekt gehen diesem vulgär-ableitungslogischen Denken ab, das stets die Elemente, Verhältnisse und Prozesse der Wirklichkeit unter scholastische Axiome subsumiert. Als eine polit-ökonomische Konstellation analysiert, die der kapitalistischen Gesellschaft entsprungen ist, würde sich die faschisierte, vollends antisemitische Gesellschaft als barbarische Zertrümmerung zvilisatorischer Universalität, Auflösung der Bildungselemente kommunistischer Emanzipation und damit als Bruch mit der bisherigen Geschichte erweisen . Der objektive geschichtliche Fortschritt als zunehmende Beherrschung der Natur und wachsende Vermehrung der Produktivkräfte schlägt, aufgrund seiner Basis in der Herrschaft des Menschen über den Menschen (in kapitalistischer Form als sachlich-vermittelte und tendenziell rein gesellschaftliche) in Herrschaft der qua Natur ermächtigten Rasse durch Gewalt und Vernichtung um. Der ideologisch zugrunde liegende antisemitische Antikapitalismus projiziert die Zumutungen der Moderne auf der Grundlage verdinglicht erscheinender gesellschaftlicher Verhältnisse auf das Bild vom „Juden“ als Weltbeherrscher und Weltfeind, der zugunsten einer wiederherzustellenden Harmonie (einer romantischen Rückprojektion in die Vergangenheit), zu vernichten sei. Das volksgemeinschaftliche Kollektiv, das seine Identität über diese Gegenidentifikation zum „jüdischen Prinzip“ gewinnt, ist dabei nicht einfach Negation des Einzelnen, sondern die Fixierung von dessen partikularer Gestalt, dem erniedrigten und geknechteten Wesen als Resultat der Entfremdung, von dem Marx gesprochen hat. In der Volksgemeinschaft erhält der Vereinzelte als Arier vermeintliche Sicherheit und setzt sich scheinbar im klassenübergreifenden Mord an den Juden über seine untergeordnete und vom Scheitern bedrohte Existenz hinweg. Ohne die Produktionsbedingungen der Herrschaft und Ausbeutung aufzuheben, wird hier doch ein Widerspruch in eine Form gebracht, die diesen bis auf weiteres bannt.

III.
Gerade wegen der totalen Entfremdung wohnt dem Einzelnen die Möglichkeit inne sich auch total zu emanzipieren. Es ist herausgelöst aus den naturwüchsigen Blutsbanden vorbürgerlicher Gemeinschaftszusammenhänge und Mitglied der global vergesellschafteten Totalität des Weltmarktes, auf dessen Grundlage er sich befreien muss. Enteignet von allen Lebens- und Produktionsmitteln ist die Aufhebung der Entfremdung nur durch die vollständige Aneignung der Gattungskräfte und die Abschaffung der Klassenherrschaft möglich. Diese Bemächtigung der menschlichen Gattungsmäßigkeit (die in der kapitalistischen Moderne einen Stand erreicht hat, auf dem das Reich der Freiheit in seiner dialektischen Beziehung zum Reich der Notwendigkeit das übergreifende Moment werden kann) bedeutet die Herausbildung von Individualität und Freiheit. In der faschistischen Gesellschaft dagegen wird der Einzelne als partikularer dem staatlichen Kommando unterworfen, ihm wird absolute Opferbereitschaft abverlangt und er gilt als bloßes Partikel einer völkischen Gemeinschaft, die sich aus der Gattung heraussprengt und nach archaischen, über Natureigenschaften sich herstellenden menschlichen Beziehungen sehnt, die durch die moderne Vergesellschaftung aufgelöst wurden. Gleichwohl ist der Faschismus nicht einfach ein Rückfall hinter die bürgerliche Zivilisation, sondern deren genuines Resultat, wenn auch eines eigener Art. Die Gewalt, die als getrennte die Grundlage der Herrschaft des Menschen über den Menschen bildet, ist in der wertförmigen gesellschaftlichen Vermittlung aufgehoben, nicht abgeschafft und schlägt bei ihrer Freisetzung umso barbarischer aus. „Hier ist das Modernste auch das Archaischste.“ (Guy Debord) Dieser Doppelcharakter des Faschismus als modernisierte Barbarei entgeht jener angesprochenen verdinglichten Weltanschauung ebenso wie die hybride Konstellation zwischen bürgerlichen und faschisierten Verhältnissen, innerhalb derer der die deutsche NS-Gesellschaft glücklicherweise niedergekämpft wurde.

IV.
Der Antifaschismus erweist sich angesichts der tendenziellen Liquidation der Möglichkeitsbedignungen des Kommunismus als dessen conditio sine qua non. Es handelt sich um keine Addition eines neuen Politikfeldes, sondern tastet den Gehalt des Kommunismus als Theorie und Praxis einer wirklichen Bewegung selbst an. Wenn Marx sagte, dass das Proletariat revolutionär oder nichts sei, dann lässt sich daran nicht mehr festhalten oder zumindest dieses „nichts“ muss konkretisiert werden. Zweifellos bleibt der enteignete, ausgebeutete und unter das Kapital subsumierte Mensch weiterhin machtmäßig ein zur Ohnmacht verdammtes „nichts“. Als solches ist es aber ein bestimmtes Nichts, z.B. ein Deutscher und das verdrängte Bedürfnis nach Freiheit von historisch überflüssigen Zwängen und die Empörung über die eigene Nichtigkeit gegenüber dem Kapital erweisen sich selbst als Konfliktformen, die bestimmte Resultate zeitigen. Marx wurde oft wegen seiner angeblichen Teleologie gescholten, nach der er die Revolution mit der „Notwendigkeit eines Naturprozesses“ prophezeite. Die Grundlage dafür war die Theorie der Tendenz einer Vermehrung der „Masse des Elends, des Drucks, der Knechtschaft, der Entartung, der Ausbeutung“, aber auch gleichzeitig der daraus folgenden „Empörung“ der Arbeiterklasse, die sich in Klassenbewusstsein umsetzen sollte. Unselige Streits wurden über Wirklichkeit einer absoluten oder relativen Verelendung geführt. Die von Marx konstatierte Tendenz hat sich jedenfalls durchgesetzt, denn die Widersprüche zwischen den Produktivkräften und den Produktionsverhältnissen, zwischen den Ausgebeuteten und Ausbeutern haben sich weiter zugespitzt – das ist das moderne Elends des Kapitalismus, in dem wir alle leben. Wie dieser objektive Druck der Widersprüche ausgetragen wird, ist keine scholastische Frage, sondern eine der Geschichte, einer offener Prozess. Das Proletariat kann Bewusstsein über seine gesellschaftliche Situation erlangen und sich selbst aufheben oder das Nichts bleiben, was es jetzt ist. Aber wenn sich die Empörung nicht in rationalen Feindschaft, zur Waffe der Kritik sublimiert, dann kann sie zur ranzigen Ranküne werden, die sich um so stärker an das Bestehende klammert, auch wenn die Welt in Scherben fällt. Die „ihrem primären Ziel entfremdete Klassenkampfenergie“ (Adorno) fungiert so als Triebkraft der Regression, der Identifikation mit einer Untergangsbewegung und im Resultat des Endes der Geschichte im emphatischen Sinne. Damit wird auch die Auffassung der Geschichte als einer Geschichte von Klassenkämpfen hinfällig, nicht nur als Bild eines natürwüchsigen, irreversibel-kontinuierlichen Fortschritts, sondern auch des Klassenkampfes als Produzenten der Geschichte. Denn es war die Volksgemeinschaft als klassenübergreifendes und -aufhebendes Kollektiv, das Geschichte schrieb, und es war im wesentlichen die bürgerliche Zivilisation, die dieses Projekt stoppte. Und doch kann gleichzeitig die Geschichte nur eine Geschichte von Klassenkämpfen sein und werden, denn die bestehenden Gesellschaft kann nur auf Grundlage ihres fortwährend widersprüchlichen Charakters gesprengt werden, der in Form von Klassenkämpfen zu Tage tritt. Mit dem Bruch in der Kohärenz der Geschichte und der daraus folgenden paradoxen Fassung des historischen Materialismus hat man zu leben und umzugehen. Alles andere ist nur Verblendung.

V.
Der Antifaschismus als Praxis der Kritik und Vernichtung seines Gegenstandes lässt sich nicht aus dem Stegreif als eine Art Generalschlüssel formulieren. Die vorangegangene Analyse des Faschismus als eines gesellschaftlichen Modells soll eine Voraussetzung für diese Praxis sein. Zu sondieren wären im Weiteren die sich verändernden Formen und Konstellationen in denen Wirklichkeit und Möglichkeit der Faschisierung erscheint. Der gegenwärtig stärkste und gefährlichste Träger des eliminatorischen Antisemitismus ist bekanntlich die Bewegung des politischen Islam, die in Besitz einer Staatsmacht ist und ansonsten in Form mörderischer Rackets agiert. In deren Visier steht der zionistische Staat, als der antibarbarische Verbündete des Kommunismus, dessen Feinde sich aus allen Gegenden der Welt und allen politischen Lagern rekrutieren. Die Geschäftsführung des Kampfes gegen den Faschismus liegt offensichtlich gerade nicht in den Händen des Kommunismus. Deshalb sollte man davon absehen von einer Einheitsfront unter kommunistischer Führung zu träumen, wie es wohl viele linkradikale Antifaschisten heute machen. Realistisch und am wenigsten wirkungslos können Bündnisse mit den bürgerlich-fortschrittlichen Kräften sein, die sich aus verschiedenen Gründen gegen die weltweite Reaktion stellen und bestimmte zivilisatorische Formen vor deren Beseitigung bewahren wollen. Diese Formen (die formale Freiheit der Politik und Ökonomie) sind die besseren, günstigeren und deshalb verteigungswerten Bedingungen für eine revolutionäre (Anti-)Politik, müssen aber auch genutzt werden. Es steht keine chinesische Mauer zwischen den Möglichkeitsbedingungen der menschlichen Emanzipation und der Arbeit der Verwirklichung dieser Möglichkeit. Ansonsten bleibt nur leerer Maximalismus, der selig über den Konflikten der Welt schwebt und von einer anderen träumt, oder opportunistischen Realpolitik, die im Schlamm bürgerlicher Formen versinkt. Der Antifaschismus, der heute sehr notwendig ist, muss über sich selbst hinausgetrieben werden. Wenn ein solcher Prozess in Gang kommen soll, dann nur unter der Voraussetzung, zu wissen, dass man keine Sicherheiten hat und sich zunächst einmal auf niemanden verlassen kann, als auf sich selbst.

Felix

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Die dichroitischen Spiegel

Eine Annäherung

Der nüchterne Blick nach vorne ist durch ein Sammelsurium mannigfaltiger Trugbilder verwehrt. Unzählige Spiegel, von Menschenhand geschaffen, stellen sich dem Sehnsüchtigen entgegen, um ihm das Abbild seines eigenen Seins als ewig wahres und einzig vorstellbares entgegen zu werfen. Kein Blick geht an ihnen vorbei, und so ist einem jeden die klare Erfahrung des Selbst und Seinesgleichen verwehrt und mittels Kasuistik geschickter Lichtbrechung nur noch in Silhouetten ersichtlich. Jede Begegnung untereinander, jede menschliche Beziehung aktiviert sich lediglich mittels gemeinsam erschaffener Bilder, welche sich von Anbeginn ihrer, dem hohen Akkumulationsgrad geschuldeten Existenz vom Menschen erhoben, ihn sogleich umgarnten und letztlich durchdrangen. Die Physiognomie allen Seins ist verkehrte, welche sich als konkrete gebiert um ihr abstraktes Moment zu kaschieren. Doch ist es gerade die Suprematie des mit dem Konkreten „schlecht“ vermittelten, „unversöhnten“ Abstrakten, welche die Totalität allen Seins aufbereitet und dessen einzelne Momente miteinander in Beziehung und die einzig noch geltende qualitätslose Intention des Seienden, das Kalkül, ein Äquivalent zu erheischen, generiert. Das der Spiegelung geschuldete Zerrbild vermittelt den Schein von aus Willen und Trieb primär hervorgehendem Denken und Handeln und unterschlägt sogleich im selben Atemzuge deren Determiniertheit von gesellschaftshistorischen Umständen, die es zur Herausbildung einer befreiten Menschheit zu dechiffrieren gilt. Die Totalität des Tauschverhältnisses erfasst die Fähigkeiten und Emotionen eines jeden und bricht als universaler Abschleifungsprozess1 jegliche Begierden und Spontaneitäten auf den kleinsten gemeinsamen Nenner herunter, sodass sie mit steigender Quantifizierung und proportional sinkender Qualität zu derlei kommensurablen Gütern verkommen, welche sich in die Tabellen und Statistiken der Kybernetiker einreihen, messen und verwalten lassen.
Wüsste das gesellschaftliche Individuum um seine verzerrte Gestalt, hätte es mehr als verkehrtes Bewusstsein vom Sein, so würde sich dieses bewusste Sein dem falschen Ganzen unversöhnlich entgegenstellen, sich aufbäumen und das real gewordene Bild der eigenen Existenz und Daseinsform, als atomisierte Warenmonade, gleich einer hässlichen Fratze empfinden, deren Anblick es nicht länger standzuhalten willens wäre.

Ein gewisses Unbehagen lässt sich unter den Anhängseln der Maschinerie dieses Kabinetts bereits konstatieren, denn es müht sie, sich mit den sie umgebenden und durchdringenden Bildern abzufinden; doch die Empfindungen richten sich nicht gegen diese, sondern gegen sich selbst und ihresgleichen. So verdinglicht sich durch die Verbildlichung allen Seins auch die gemeinschaftliche Produktion zur asozialen Seite der Konkurrenz, an welcher man bei zeitweise eintretendem Erfolg gar Lust zu verspüren scheint und zugleich Antipathie gegen jene Mitstreiter, die sich als entfremdete Silhouetten zur Gefahr des eigenen ökonomischen Standes spiegeln und besonders zu Zeiten eintretenden Misserfolgs die Abstiegsangst in dem sich verfolgt Fühlenden evozieren. Die allgegenwärtigen Bilder trennen das Wahre und verbinden das Falsche, sodass sich der Mensch als Vereinzelter vorfindet und dennoch als Bestandteil eines Kollektivs Vereinzelter, welches mit anderen konkurriert und in dem man beständig konkurriert. Die Verbildlichung dient der Verschleierung und zementiert das quid pro quo, um die Gattung Mensch ihrer Kräfte zu berauben. So dümpeln und wetteifern die gesellschaftlichen Individuen in und mit ihren Grüppchen und halten somit das schauderhafte „Spiel“ aufrecht, welches sie mit Leib und Leben zu zahlen haben.

Es ist ihnen nicht ersichtlich, wie sehr sie sich selbst mit dem flüchtigen Blick auf das sie Umgebende täuschen. So formiert sich neben der rituellen Mimesis, als masochistischer, immer wieder aufs Neue durchexerzierter rastloser Arbeit an sich selbst2, das Unbehagen, qua falscher Projektion, zum blinden und wütenden Hass, der sich in einer Hetzjagd im Irrgarten zu artikulieren droht und all die als schädlich stigmatisierten Insassen zu vernichten trachtet, nicht damit die Bilder in den Spiegeln verschwinden, sondern damit die Bildwelt total und somit alles Lebendige vernichtet wird; denn was das Abstrakte an seiner totalen Entfaltung hindert, ist sein konkreter stofflicher Körper als Träger, dessen er sich überdrüssig fühlt. Wie gleichgültig sich das Abstrakte zu seinem „Wirt“ verhält, zeigt sich, wenn es das Lebendige als letzte Schranke des Spektakels zu durchbrechen trachtet. Die Geschichte des Kapitals ist der Versuch, sich selbst als Nullzeit zu setzen.3 Es ist dies das schrecklichste Schicksal, welches einen durch die Hand des blind wütenden Mobs ereilt, der nicht mehr in der Lage ist, abstrakt zu denken und derweil konkret zu fühlen. Denn dieser Fähigkeit wurde er noch vor seiner Konstituierung beraubt, sie wurde absorbiert von den Spiegeln, die keine Individualität zu kennen erlauben und alles dem Takt ihrer Maschinerie einebnen; es ist der Takt, der diese Maschine aufrecht erhält, und dieser Takt ist derjenige des Gleichschritts.
Was sich von Anbeginn seiner Entstehung bis heute als Sprengkraft zur Entfaltung der menschlichen Produktivkräfte darbietet, erweist sich vom ersten Moment an als in sich selbst verschränkt: Die Forderungen der bürgerlichen Aufklärung, mit welchen sich die Menschheit aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit hinauszumanövrieren suchte, verschränkten sich innerhalb des geschichtlichen Entwicklungsprozesses mit der verwalteten, strikt reglementierten Einrichtung des menschlichen Zusammenlebens und mutierten zu einem traurigen Abbild ihrer selbst. Als bloße Worthülsen verkommen sie nicht mehr nur innerhalb der gängigen Produktionsstätten von Ideologie zu hohlen Spielmarken, jeglichen Inhalts beraubt und dermaßen verkrustet, dass sie sich im Zustand ihrer Verhärtung als unfähig erweisen, dem Lauf der Geschichte noch standzuhalten.

Um sich der Resignation zu verwahren, ersehnt man sich das Opiat, welches den Lauf im Käfig, der jederzeit zum Amoklauf sich steigern kann, erträglich macht. Doch es ist nicht damit getan, den Geist zu vernebeln und den Körper zu lähmen; denn das begehrte Surrogat ist nicht in der Lage, die allseits umtreibende Malaise niederzuringen. Gerade diese gilt es bewusst zu artikulieren, um sich vor ihrem unbewussten Wüten zu schützen, sodass ihre reflektierte Artikulation endlich über das Bestehende hinausweist, anstatt weiterhin den sehnsüchtigen Blick ins Tal der Barbarei zu werfen.
Zugleich verschafft auch der genügsame Blick in die Spiegel keine Abhilfe, denn was sie versprechen und mit was sie locken, all den angepriesenen Wohlstand und das Glück, vermögen sie letztlich nicht zu erfüllen, denn sie sind Spiegel, und was sie darbieten ist Schein, und dieser Schein birgt einen tiefen Abgrund. „Der Animismus vorfindbarer Fratzen gleicht einer Beschwörung, in der man auf die Offenbarung der Spiegel hofft, doch diese schicken nur Bilder, in denen man sich endlos spiegeln kann.“4 Die affirmative Haltung zu den Trugbildern setzt die Unkenntnis ihres verkehrenden Moments voraus, und so wird das Konkrete begehrt, dessen abstrakte Seite aber sogleich verdammt und mittels pathischer Projektion in Form von Personalisierung pseudokonkretisiert und letztlich naturalisiert. Doch Tausch- und Gebrauchswert sind zwei Seiten ein und derselben Medaille, wodurch das einseitige, unreflektierte und fetischisierte Aufbegehren gegen den kapitalistischen Warenfetisch selbst keine adäquate Waffe im Kampf gegen das unvernünftig eingerichtete Jetzt darstellt, sondern sich gerade als Gipfel dieser Unvernunft erweist und sich selbst in seiner ausgefeiltesten Form nur gegen momentane Erscheinungsformen aufzurichten vermag. Der Gewalt ausgesetzt, wird diese verherrlicht, um an ihrer Macht zu partizipieren. In der erfolgreichen Anpassung an determinierte Abläufe scheint Freiheit sich zu bestätigen.5 Die dorfatheistische Antipathie bezüglich des Verlangens nach einer Verklärung und rosaroten Einfärbung des tristen Daseins nimmt einem die Mittel, aber nicht den Grund für die Sehnsucht nach dem betäubenden Äther. Kritik hat die „imaginären Blumen an der Kette“ zu zerpflücken, „nicht damit der Mensch die phantasielose, trostlose Kette trage, sondern damit er die Kette abwerfe und die lebendige Blume breche.“6
Einmal von Menschenhand geschaffen, scheint es schier unmöglich, dem Labyrinth der Selbstverblendung zu entrinnen; egal wie sehr man sich abmüht, der hastige Schritt durch die unendlichen und verwinkelten Gänge und Schächte dieses schauderhaften diabolischen Irrgartens vermag es nicht, die in den unzähligen Spiegeln vorbeirauschende Fratze abzuschütteln, die sich letztlich als die eigene erweist. Doch was ist es, das uns dazu verleitet, rastlos in diesem Kabinett umherzuirren? Es weist Fehler auf; Fehler, die bei günstiger Sonneneinstrahlung zu gegebenem Zeitpunkt als Risse in den unzähligen Spiegeln erscheinen, Risse, die einen grob erahnen lassen, was sich hinter den Trugbildern verbergen könnte. Doch um zu erfahren, was sich hinter den Spiegeln verbirgt, ist es notwendig, einen Augenblick zu verweilen und dem Zerrbild des Selbst entgegenzutreten. So scheußlich und grauenhaft dieser Anblick bei genauerer Betrachtung auch sein mag, ist es gerade der mutige und furchtlose Schritt auf den Spiegel, der diesen letztlich zum Bersten bringt.
Die Suprematie des im mutigen Blick erfahrenen Leids birgt die Gefahr der Resignation vor dem falschen Ganzen, welches nichts anderes neben sich erfahren lässt und bisweilen nicht nur seine hegemoniale, sondern seine totale, da singulare Stellung, zu behaupten weiß. Es liegt in dessen Wesen, jegliche Zeit, jedes Gedächtnis und jede wahre Erfahrung in sich aufzuheben.
Was die Ware nicht mehr einzulösen vermag, scheint das Jenseits zu versprechen, doch sind es gerade die Risse im Spiegel, welche einen vor der voreiligen Lösung unliebsamer Körperspannung zu bewahren vermögen. Sowohl dem aufs Jenseits verweisenden Thanatos als auch dem unreflektierten Frönen des Eros nach zugerichtetem und wahrem Glück spottendem Muster ist eine messianische Hoffnung entgegenzuhalten, welche zum Blick auf das verwaltete Falsche ermutigt und das Individuum der die Lebensfeindschaft implizierenden Todesverfallenheit entzieht. Diese Sehnsucht nach Erlösung ist das Vertrauen auf die Fähigkeit der Menschheit, sich als Gattung freier und selbstbestimmt produzierender Individuen zu organisieren. Sie vermag es, die menschliche Vorgeschichte unter dem Aspekt ihrer Abschaffbarkeit betrachten zu lassen, denn wo die Strahlen aus der Zukunft, dem Ort der Utopie, aufblitzen, scheinen sie zugleich auf das Reale, das Gewesene. Die Sehnsucht speist sich aus den Rissen, die das Mögliche zwar nicht greifbar machen, es aber doch erahnen lassen. Das dort offenbarte Licht verweist auf die reale Möglichkeit eines Lebens hinter den Spiegeln, ein bewusstes und selbstreflektiertes Leben jenseits reflektierenden Scheins. Die ungeheure Schönheit der durch die Risse dringenden Strahlen vermag den Blick auf das Elend zu stärken. Sie schenkt Hoffnung ohne den klebrigen Nebengeschmack von Äther, welcher den übrigen Lebenserhaltungsmaßnahmen für gewöhnlich anhängt und dessen Konsumenten Konsumenten sein lässt, indem er diese benebelt und zum Schweigen bringt. Es ist dies eine belebende Schönheit, die von den Strahlen ausgeht und ungeahnte Kräfte zu entfesseln im Stande ist. Diese abstrakten „messianischen Splitter“7, welche die Sehnsucht befeuern, dienen als Motivatoren für den Kampf, doch ihre abstrakte nicht-rationalisierte Gestalt muss konkretisiert, theoretisiert werden: Die Theorie muss die bloße Sehnsucht bewusst artikulieren, sie aufheben, um sie letztlich als real einklagbar aufzuweisen.
Je länger hierbei das Auge verweilt, desto unerträglicher die Fortexistenz im Kabinett des Wahnsinns; je schärfer die Beobachtung, desto klarer offenbaren sich die tiefen Furchen und Narben auf den Wangen des Ungetüms, welche von dem Leidensweg erzählen, den wir im Verlauf unserer Geschichte davongetragen. Zu deuten gilt es diese als Zeugnis des einstigen Aufbegehrens gegen das von uns selbst entworfene Kabinett, welches wir von innen heraus als unser eigenes Gefängnis erschufen und immer wieder aufs Neue reproduzieren. Ein Aufbegehren, welches wir mit dem Innehalten vor den Spiegeln aufs Neue initiieren und das, wie die offenbarten Wunden auf der Haut beweisen, unter Strafe steht. Der Rekurs auf die einstigen Erhebungen ermöglicht eine adäquate Analyse ihres Scheiterns, und dieser Sprung zurück verweist sogleich nach vorne. Denn den damaligen Begierden ist auch heute nicht Genüge getan, und so lässt sich ihr Klang auch gegenwärtig noch vernehmen, wenn man ihm nur zu lauschen beginnt. Den Opfern von einst muss Gerechtigkeit widerfahren, denn ihr Anspruch ist der unsrige und hat auch heute nicht an Gültigkeit verloren. „Nur dem Geschichtsschreiber wohnt die Gabe bei, im Vergangenen den Funken der Hoffnung anzufachen, der davon durchdrungen ist: auch die Toten werden vor dem Feind, wenn er siegt, nicht sicher sein. Und dieser Feind hat zu siegen nicht aufgehört“ 8
Prima conditio einer Assoziation freier und selbstbestimmter Individuen wäre die bewusste Absage an jegliche ideologische Weltverklärung, wie sie dem jetzigen Sein zu Grunde liegt. Der Fortschrittsglaube, sich mittels der Spiegel über diese selbst hinwegzusetzen, ist nicht haltbar, denn als Bestandteil des automatischen Subjekts haben sie zu keiner Zeit primär einer Verbesserung der Lebenssituation eines jeden gedient, was stets nur als ein Nebenprodukt ihres eigentlichen Zwecks zu begreifen ist, und frönen ein Dasein, in dem sie sich ihrer grundlegenden Funktion, mit der die im Hier und Jetzt unumstößliche Entfremdung der Gattung Mensch einhergeht, auch im weiteren Verlauf ihrer Entwicklung nicht entziehen lassen. Der Glaube an einen immanenten Prozess innerhalb des Systems der Unvernunft hin zu einer vernünftig eingerichteten Welt verlängert das Elend und begräbt alle Momente einstigen Aufbegehrens unter dem Trümmerhaufen der Geschichte, welcher sich hinter dem Rücken des nach vorne Gaffenden gen Himmel reckt. So gerät der einstige Schlag gegen die Spiegel nicht nur in Vergessenheit, nein, als rekuperierter wird er zu dessen Kitt verklärt, indem man ihm seiner kontinuum-sprengenden Tendenzen beraubt.
Es liegt daran, das Bewusstsein zu schärfen um über dieses Sein hinauszukommen und den Augenblick der Verwirklichung erstarrter Philosophie zu erreichen.9 Die Kritik darf nicht zum Zeitvertreib derer verkommen, welche es sich im falschen Ganzen einzurichten gedenken, denn „Kritik…ist das theoretische Leben der Revolution.“10 Und so drängt sie von Anbeginn ihrer Formulierung hin zu ihrer praktischen Verwirklichung. Es liegt an einem jeden Einzelnen, an jeder gequälten Seele, sich des falschen Ganzen bewusst zu werden. Doch die Versöhnung als Einheit des Vielen ohne Zwang, abseits der Reduktion und Abstraktion vom Besonderen aufs Allgemeine, kann nicht Aufgabe eines Messias sein, den es unter den Reihen der entfremdeten Wesen ausfindig zu machen gilt. Dies notwendige Bewusstsein muss schließlich ein gemeinsames sein, welches sich jeglicher avantgardistischer Formen verwehrt, die das Residuum der übrigen Sklaven nicht aus seinem Objektstatus zu befreien ersuchen, sondern diese zu einem weiteren Objekt, als das ihrer revolutionären Doktrin Hörigen, degradieren.
Damit die Anhängsel der Maschinerie und Objekte der durch sie produzierten Spiegel sich diesen entwinden, müssen sie sich ihres Menschseins erinnern und sich gemeinsam gegen die Entfremdung ihrer selbst, ihrer Natur, sowie der von ihnen gefertigten Gebrauchsgegenstände erheben. Die Aufhebung der Trennungen ermöglicht die Aufhebung des Seins als erniedrigtes, geknechtetes, verlassenes und verächtliches Wesen.
Auch der Kritiker kann sich seines Status als Warenmonade bis zur Situation einer revolutionären Aufhebung nicht ohne weiteres entziehen. Um eine solche Situation, die jede Umkehr unmöglich macht, zu initiieren, gilt es eine gegenwärtig nicht existente Kommunikation aufzurichten, eine Selbstkonstituierung, welche die Konstituierung aller entschiedenen Gegner der Unvernunft in die Wege zu leiten vermag. Um den nicht realisierbaren Glücksanspruch, den die Spiegel der Menschheit propagieren, sowie die destruktiven der Unvernunft geschuldeten Tendenzen dieser Gesellschaft aufzuzeigen, gilt es diese objektiven Begierden wie auch die herrschenden Lebensverhältnisse in Begriffe zu fassen, um eine Sprache der Kritik zu finden, die sich ihrer revolutionären Tendenzen nicht berauben lässt und einem jeden, der sie vernimmt, wie ein zäher Splitter sich ins Auge bohrt, denn „der Splitter in deinem Auge ist das beste Vergrößerungsglas.“11
Es gilt eine solch kohärente Kritik als Waffe gegen die Trugbilder der heutigen Gesellschaftsformation aufzubringen, um die Versprechen von Glück, Freiheit, Wohlstand, Versöhnung, von Identität, welche die Spiegel darbieten aber niemals einzulösen vermögen, sich endlich anzueignen. Diese Formation muss alles daran setzen, über dies Kabinett hinaus und nicht hinter es hinweg zu fallen, so also darauf bedacht sein, die Zerrbilder zu zerschmettern ohne sich selbst und seinesgleichen obendrein. Nur in der Aufhebung dieser Gesellschaft ist die Rettung der Menschheit vor ihrem Untergang zu finden:
„Marx sagt, die Revolutionen sind die Lokomotive der Weltgeschichte. Aber vielleicht ist dem gänzlich anders. Vielleicht sind die Revolutionen der Griff des in diesem Zug reisenden Menschengeschlechts nach der Notbremse.“12

Aquilah Chalid

1 Frank Böckelmann: Über Marx und Adorno. Schwierigkeiten der spätmarxistischen Theorie, Frankfurt am Main, 1971 , S. 29
2 Vgl.: Lars Quadfasel: Gottes Spektakel, S. 8
3 Joachim Bruhn
4 Lars Quadfasel: Gottes Spektakel, S. 9
5 Vgl. Böckelmann: Über Marx und Adorno. Schwierigkeiten der spätmarxistischen Theorie, S. 33
6 MEW: Bd. 1, S. 378
7 Walter Benjamin
8 Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte, These VI
9 Theodor W. Adorno: Negative Dialektik, Frankfurt am Main 1970, S. 15
10Hans-Jürgen Krahl: Konstitution und Klassenkampf, Frankfurt am Main 1971, S. 213
11Theodor W. Adorno: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben., Suhrkamp, Berlin und Frankfurt am Main 1951, S. 80
12Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte

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Verschiedenes

Die seltsamen Zeiten, in denen wir leben, bringen es mit sich, dass wir jetzt, wo sich tatsächlich Bruchlinien sich dort auftun, wo wir seit Jahren sagten, dass sie sich auftun, erschreckt und scheinbar hilflos vor diesen Abgründen stehen. Wir haben jahrelang die Spannung gefühlt, wie sie sich aufbaute, um uns herum und selbst noch in uns und durch uns hindurch, und wir haben vermutet, gehofft und gefürchtet, wann und wo sie aufbrechen würde. Der Druck, den wir auf uns selbst lasten gefühlt haben, hatte uns einen Begriff davon gegeben, dass wir Teil dieser Geschichte sind, wir mögen wollen oder nicht, und dass unsere Ohnmacht uns von den Pflichten nicht würde dispensieren, die damit kommen. Dass unsere Unruhe ein Vorzeichen kommender Unruhen ist: dieses Versprechen und seine flackernde, trügerische Schönheit gehören in andere Zeiten. Nun, da der Abgrund sich aufgetan hat, den wir irgendwo unter unseren Füssen wussten, sehen wir mit Entsetzen, was auf dem Spiel steht.

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Nach dem Angriff auf die israelische Botschaft in Ägypten schrieb Mahmoud Salem: jetzt beginne die zweite Fase. So lakonisch, wie es gesagt ist, will es verstanden sein: die Konterrevolution in Ägypten hat ihren Kopf gehoben, den abzuschlagen man im ersten Anlauf nicht im Stande war, und sie versucht mit aller Macht, die Veränderung zu hintertreiben. Sie wird jeden Schritt der Revolution mit einer – einstweilen – kalkulierten Eskalation zu beantworten wissen; und die Unterordnung unter die Parole der nationalen Einheit gegen den zionistischen Feind, auf die sie abzielt, das wäre der Sieg der alten Ordnung. – Salems Lakonismus ist weit entfernt, zynisch zu sein. Das ist der Feind, und man hat es gewusst; diesem Feind gilt es entgegenzutreten, mit den Mitteln, die bei der Hand sind; und es gilt ihn zu schlagen. Ohne Zweifel wird es solche geben, auch unter unseren Freunden, die es bevorzugen werden, bekanntzugeben, dass sich hier nun einmal die eigene innere Tendenz der arabischen Revolutionen zeige, dass es dabei nämlich immer gegen Israel gegangen sei. Solcherart Gerede, so sehr es sich mit dem angemassten Attribut der „Kritik“ schmücken wird, läuft darauf hinaus, den tatsächlichen und kämpfenden Gegenkräften gegen das Unheil in den Rücken zu fallen. Der Lakonismus des Mahmoud Salem, für den die Existenz dieses Moments höchster Gefahr ausser Frage steht und der aber ohne grosse Dramatik beschlossen hat, nun eben dagegen anzugehen, ist unendlich humaner als das Bescheidwissen derer, die schon immer vermutet hatten, dass es so ist, wie es nun einmal ist, und die es werden haben kommen sehen. – Die Praxis, so will es eine verbreitete Legende, bringt nichts als Verblendung hervor, vor welcher aber bewahrt bliebe, wer dem Ruf nach Praxis, die uns ja doch versperrt ist, sich entzöge und den „Standpunkt des Kritikers“ einnähme. Ganz etwas anderes ist der Fall: die Unmöglichkeit revolutionärer Praxis ist es gerade, was die Verblendung produziert, und diese schlägt auch die Kritik, wo diese sich nicht vorsieht. Auch die Kritik ist zuletzt eine Praxis, und teilt deren Schicksal.

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Unter dem Namen der „Kritik“, als entgegengesetzt sowohl politischer Praxis wie Theorie, kann heute in Deutschland ohnehin fast alles passieren; die schmerzliche Erkenntnis, die den bewussten Rückzug auf die Position der blossen Kritik einmal nötig gemacht hatte, muss diejenigen nicht kümmern, die sich entschlossen haben, den Titel der „Kritik“ für eine unbegrenzte Selbstermächtigung zu usurpieren, vermöge welcher sie es sich erlauben können, selbst noch hinter die mühsam antrainierten – und, wie scheint, tief gehassten – Ansprüche theoretischer Arbeit zurückzufallen. Müssig, jene Spezialisten einzeln namhaft machen zu wollen, denen sich nachsagen liesse, die kritische Theorie zu einem sekundären Analfabetismus radikalisiert zu haben; an ihnen zeigt sich nur, was allgemein der Fall ist. Viel zu oft ist dabei der Satz von Marx zitiert worden, für die Kritik im Handgemenge handele es sich darum, den Gegner zu treffen; als ob denjenigen, die ins Handgemenge ohnehin nur metaforisch sich zu begeben anschicken, dadurch nicht nur jede Niedertracht, sondern sogar noch die Ungenauigkeit plötzlich erlaubt wäre. Es handelte sich immerhin darum, den Gegner auch zu treffen, und nicht etwa zu verfehlen; wer es sich leichtmachen will, und hinter dem zu kritiserenden Gegenstand jedesmal ohne Umschweife gleich den vertrauten Gegner hervorzieht, täuscht nicht nur niemanden mit diesem Taschenspielertrick als sich selbst; sondern gleicht jenem Heerführer, der zu Gordion den berühmten Knoten mit dem Schwert zerhauen hat, bei dem es sich doch darum gehandelt hätte, ihn kunstvoll aufzulösen. – Diesem Gestus entspricht völlig die eingerissene Übung, den Gegner nicht etwa nur grob und durchsichtig missverstanden, sondern direkt gefälscht zu zitieren, um ihn desto gewisser zu überführen, ohne Rücksicht auf die eigene Lächerlichkeit; das souveräne Hinwegsetzen über störende Einzelheiten; das stets schon vorgefasste Urteil, zu dem man zuletzt kommen wird, unter dem Vorgeben, den Gegenstand eben aus „seinem Begriff“ zu entwickeln, welcher Begriff anscheinend von jeher da war und jeder Überprüfung entzogen ist; also insgesamt eine Kritik, die elend daran zu Grunde geht, ihre eigenen Bedingungen der Kritik selbst nicht zu unterziehen.

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Erkenntnis ist nicht zu haben, ohne sich auf den Gegenstand einzulassen auch auf die Gefahr, sich an ihn zu verlieren. Das ist ein Preis, um den der Gegenstand nicht betrogen werden kann. Er rächt bereits den versuchten Betrug, indem er den Betrüger mit Verblendung schlägt. Alles, was in noch so guter, kritischer, aufklärerischer Absicht gedacht und geschrieben wird und sich an diesem Gesetz vergeht, produziert nicht Erkenntnis, sondern blanke Ideologie. Der Gedanke geht namentlich den Polemikern nicht ein, dass dem Gegenstand Gerechtigkeit getan werden muss, nicht aus Konnivenz gegen den Feind, sondern um der Wahrheit der Kritik willen; der eilfertige Politikant wittert hier bereits Nachgeben, Einverständnis mit dem Gegner, jedenfalls Schwäche. Kritik müsste damit anfangen, die Kumpanei mit solcher schlecht politischen Logik aufzukündigen, um der Tyrannei des Allgemeinen zu entkommen, die die Strafe für den Verrat an den Einzeldingen ist. Der fürchterliche Zustand, in dem eine Szene ist, die sich doch der Ideologiekritik verschrieben hatte, müsste diese Überlegung plausibel machen. – Die Erfahrung alleine macht nicht wissend; aber den, der sich ihr verweigert, macht sie dumm.

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Das Versagen der bestehenden „ideologiekritischen“ Strömung zeigt sich auf merkwürdig auffällige Weise dort, wo sie auf ein Denken trifft, das zu Recht oder zu Unrecht im Verdacht steht, Ausdruck des gegenwärtigen Aufruhrs zu sein. Ob dieses Versagen die historischen Proportionen hat, die wir befürchten, muss sich erst zeigen; zu einem Versagen wie 1914 sind wir unstreitig gar nicht mehr in der Lage. Insbesondere die Versuche einer Kritik der Broschüre „Der kommende Aufstand“ zeigten eine derartige Unfähigkeit, mit dem Gegenstand fertig zu werden, das sie zur unfreiwilligen Enthüllung über den Stand der Dinge in der antideutschen Szene gerieten. Es scheint einigermassen aussichtslos, diese völlig missratenen Kritiken, wie sie es wohl verdienten, zu einem Ausgangspunkt einer selbstkritischen Besinnung zu machen, denn die Szene will und kann nicht über ihren Zustand belehrt werden; das ist das Geheimnis jeder „Szene“. Sich von ihr abzuwenden, wie es wohl am einfachsten scheint, kann noch weniger angehen. Auf bessere Einsicht zu hoffen war immer trostlos. – Umso schlimmer, als das Buch einfach und lehrreich zu kritisieren gewesen wäre, wenn man nicht vorab darauf bestanden hätte, die Autoren für das heimische Publikum gleich zu Faschisten herzurichten. Dass dieser stupide Trick versucht wurde, ist dabei noch minder beschämend, als dass er offensichtlich gelang. Dass damit aber der Anspruch der Kritik einer lärmenden Agitation des eigenen Publikums preisgegeben wurde, lässt Schlimmes ahnen. Die unbeirrte Selbstgewissheit, die Kritik schon längst in der Tasche zu haben, schlägt darin um, dass als wahr schliesslich akzeptiert wird, was als Konsens unter den Kritikern gilt; der Verlust der Kritik selbst aber geht inzwischen unbemerkt vonstatten.

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Das Buch vom „kommenden Aufstand ist auf mehr als eine Weise zu kritisieren, und keine davon ist in Deutschland versucht worden. Man müsste etwa ihre These beim Wort nehmen, dass die Gesellschaft nicht mehr existiert; dem entgegensetzen, dass das Geld, das sie zusammenhält, aber so wohl existiert als der Souverain; und dann die Eigenart dieser bürgerlichen Gesellschaft erörtern: dass sie die erste ist, die Gesellschaft heissen kann, und doch nicht anders existiert als durch die Abwesenheit von Gesellschaft; dann historisch nachzeichnen, wie die revolutionäre Linke seit den Jakobinern schwankte dazwischen, diese Gesellschaft zu stürzen, und sie erst noch recht zu gründen, und wie zuletzt durch die Hereinnahme des Proletariats in den Volksstaat die Gesellschaft tatsächlich faktisch errichtet und gleichzeitig zerstört wurde; wovon die weiteren Entwicklung zum Nationalsozialismus zeugt. Von hier aus würde sichtbar, wie wenig das Buch über die Gesellschaft zu sagen weiss, und wie sehr es den Wünschen derer entspricht, die es so genau gar nicht wissen wollen. Dass sie bewusstlos in den alten Widersprüchen der Linken sich verstricken, und nicht einmal die Kraft besitzen, vom schmalen Grat eines Begriffs, wenn sie denn einmal einen fassen, nach der einen oder nach der anderern Seite hinunterzustürzen; und dass ihre zerfahrene Analyse nicht besser wird dadurch, dass sie in der fortschreitenden Zerstörung krampfhaft nach Chancen suchen; das alles hätte man ja zeigen können. Man hat es bleiben lassen, und statt die direkte Konfrontation mit ihnen zu suchen, hat man sie ihrem jämmerlichem Ruhm überlassen, den man niemandem wünschen möchte; welche Konfrontation sie durchaus verdient hätten als welche, die allen Ernstes versuchen, die Postmoderne aufzuheben mit den Mitteln der Postmoderne. Und niemals wird irgendjemand verstehen, dass man nicht ihnen geschadet hat durch die Weigerung, ihnen Gerechtigkei widerfahren zu lasen, sondern sich selbst. – Die Chance ist vertan. Die Antideutschen fühlen mehr, als dass sie wissen, dass sie zu ihrer Aufgabe: die Peitsche des Begriffs über der internationalen Ultralinken zu schwingen, nicht gewachsen sind. Das wird sich bitter rächen, aber an anderen.

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Man will heute sich nicht mehr entsetzen; man will nicht mehr das erschrecken lernen. Es ist niemandem zu verdenken. Wer in unserer Welt lebt, darf entweder die Augen nicht zu weit aufmachen, oder aber das, was zu sehen ist, nicht zu nahe an sich heranlassen. Wer aber dem Entsetzen darüber, was ist, sich verweigert, wird kaum sich über den zynischen Konformismus der Zeitgenossen beklagen dürfen. Es gehört daher die Fähigkeit, sich schaudernd der Lage bewusst zu werden, zu dem, was unbedingt zu verteidigen ist; zu den unverzichtbaren Voraussetzungen des Fortbestehens der Menschheit, so sehr wie die Hoffnung und die Reflexion. Ihr Geschwister ist die Bereitschaft, sich auf den Gegenstand einzulassen. Auf alle diese Dinge kann, wie der neueste Schiffbruch lehrt, nie und nimmer eine Schule, eine Partei, eine Szene gegründet werden; die Sicherheit gegen Irrtum und Gefahr, die die Menge verspricht, trügt. Die Menge irrt seltener, dafür fataler. – Jeder Ratschlag ist nutzlos.

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Es will so scheinen, als habe sich die Welle gebrochen; als wäre die Spannung, die man Jahre lang sich aufbauen fühlte, verflogen; der erste Anlauf geschlagen, und so wie man vorher begriffslos weniger auf eine historische Veränderung wartete als darauf, dass nur die Spannung sich wieder löst, so verliert man heute allgemein die Hoffnung wie die Geduld. Die Ahnung verbreitet sich, dass da nie etwas war, auf das man hoffen konnte, und mit ihr kommt eine grosse Enttäuschung; wo doch stattdessen begriffen werden könnte, wie gross die Gefahr und wie dringend dagegen die Aufgabe, und das wir auf nichts zu hoffen haben als auf uns selbst. Die grosse und begriffslose Enttäuschung, das ist schon die Konterrevolution vor der Konterrevolution, und sie überliefert die Menschen der sich erneuernden Herrschaft; weil nicht begriffen worden ist, was geschieht.

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Eine gewisse Wendung ins Private, die wir selbst unter den Unruhigsten beobachten müssen, liegt ganz auf der Linie dieser Logik. Die Euforie, die noch der iranische Aufstand auszulösen vermochte, ist verflogen. Die Geschichte hat keinen Trost mehr. Mit einem Mal scheint alles so zu sein, wie es immer war. Die grosse Veränderung, die einmal tief ins eigene Leben greifen zu können schien, ist doch nicht gewesen. Solche Zeiten brüten den Versuch, die Veränderung selbst, im eigenen Leben herbeizuführen; welche Versuche zu idiotischen Basteleien verkommen müssen; leere Entscheidung ohne Inhalt. Die Autonomie des Privaten ist eine Funktion der Deprivation von der Geschichte, die selbst nur eine Geschichte der Deprivation ist. Ein Entkommen ist nicht, und die Wendung ins Private gesteht das ein, indem sie selbst die Male der Verbitterung und der Kälte trägt. Man kann eine Familie gründen, man kann sich treiben lassen und sich dem Augenblick hingeben; das Leben wäre viel mehr gewesen, und alle wissen es. Ob man, bei den Versuchen, nach diesem kurzen Frühling zu überwintern, sich dessen bewusst bleibt, daran wird sich entscheiden, ob das Versteinerte wieder flüssig werden kann. Besser wäre es, zu begreifen, was mit einem geschieht, und von der Hoffnung und der Perspektive, die nie anders als in uns selbst bestanden haben, nicht zu lassen; und nie zu vergessen, dass alle unsere Taten, jeder einzelne Schritt tatsächlich unfassbar wichtig sind, und, wie es jener Sänger glücklich ausgedrückt hat, dass obwohl unsere Versprechen für nichts gelten, wir sie trotzdem halten müssen.

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Die Krise ist unsere Krise; was in grosser Höhe und Entfernung an den Weltmärkten abläuft, ist der Krise in unserem Leben, das restlos denselben Gesetzen unterworfen ist, keineswegs äusserlich. Das Private hat selbst Konjunkturen, an deren kleinen Krisen man den Fortgang der grossen Krise unfehlbar ablesen kann. Darin gesteht es seine Bestimmtheit vom Lauf der Dinge ein. Autonomie hätte das Private erst, wenn die Einzelnen zu einer Resistenzkraft gegen das zermalmende Rad der Geschichte fänden; dann aber wäre es nicht länger Privates, sondern ernsthafter Einspruch gegen das falsche Allgemeine; und damit selbst schon ein wahres Allgemeines. Das so etwas in Umrissen etwa heute schon zu sehen wäre, ist ein Credo der Auguren und Agitatoren jeder, aber auch wirklich jeder Konfession, welche der alltäglichen Praxis ihrer prospektiven Gefolgschaft zu schmeicheln wissen; und neben allem eine Verleugnung der Einsamkeit, der Mühe und der Verzweiflung, die zu den Gestehungsbedingungen des privaten Lebens gehören, und ein Verrat an den einsamen, mühseligen und verzweifelten.

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Selbst die bessere Einsicht, dass gegen die Tyrannei des falschen Allgemeinen auf dem Glück der Einzelnen bestanden werden muss, wird unwahr, wenn sie dieses Glück als bereits gegeben hinstellt, das gegen den zerreisenden Weltlauf in Schutz genommen werden müsste. Das Glück, das doch erst zu erobern wäre, wird umstandslos mit dem privaten Stumpfsinn in eins gesetzt und damit erst recht dem Totalen, dessen Kiefern es doch entrissen werden sollte, ohnmächtig preisgegeben. Darüber täuscht die mittlerweile geläufige Formel von einer „Sehnsucht nach dem Ausnahmezustand“; sie unterstellt Kumpanei mit dem objektiven Prozess, ja Einverständnis mit der Katastrofe, und dient, gegen die bessere Einsicht ihrer Urheber, dazu, den Gedanken zu liquidieren, dass das Glück immer noch die „neue Idee“ ist, die Saint-Just es nannte, und damit in gewisser Weise selbst ein Ausnahmezustand.

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In allem Politischen wohnt etwas wahnhaftes. Dass die Politik das Schicksal ist, ist eine terribile realtá. Die Kritik, wo sie zum politischen verkommt, muss selber kritisiert werden: ohne Selbstkritik verliert sie ihren Stachel. Wo Anstiftung zur Selbstkritik als Illoyalität geahndet wird, wird es finster; und wo es finster geworden ist, muss man die vernagelten Fenster aufreissen. Dies ist ein offener Brief an die Szene. Eine Einladung zum Tanz.

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Keine Bewegung

Die Occupy-Bewegung in Deutschland ist ein Feind

von Jörg Finkenberger

Die globale Bewegung, die sich von der amerikanischen Kampagne „Occupy Wall Street“ inspirieren lässt, zeigt sehr eindrucksvoll, warum die Welt so beschissen ist, wie sie ist: die Opposition ist nämlich im besten Fall zu schwach, im schlimmsten Fall noch viel beschissener.

Insbesondere bei den Herren Deutschen. Wer hätte es gedacht? Hier nimmt eine Bewegung gegen die Banken sofort noch einmal ganz andere Formen an als in den USA, wo die Banken immerhin massenhafte Zwangsevictionen von Hypothekenschuldnern betreiben (und damit den Grundstücksmarkt erst recht zerstören). Hier bewegt sich gleich von Anfang an nur der irre Rand, angefangen von Attac-Aktivisten unter Einschluss aller derer, die noch schlimmer sind.

Hier ist Linksruck schon längst als aktivste Bewegung von Irren abgelöst worden durch das Zeitgeist-Movement. Hier hat sich aus einer Szene von Verschwörungstheoretikern bereits ein drittes Lager von Antisemiten etabliert, neben den Nationalsozialisten und den antiimperialistischen Linken.

Und dieses Lager ist rabiat geworden. Sie haben keine Scheu vor fysischer Gewalt mehr. Sie sind längt über die Fase der Nörgelei in Nebenzimmern hinaus, und stehen vor dem unmittelbaren Ansetzen dazu, zur Praxis überzugehen.

Es genügt für den Charakter dieser Bewegung vollkommen, sich genau zwei Plakate, die dbaie mitgeführt wurden, anzusehen. Und man werfe mir nicht ein, zwei Plakate seien für hunderte Demonstranten nicht repräsentativ. Dass diese Plakate überhaupt geduldet wurde, beweist schon alles.

Auf einem Plakat ist der Satz zu lesen: „Eine Welt ohne 1% ist nötig!“ Auf dem anderen steht zu lesen: „Zeit für einen Laternenumzug!“, und auf dem Bild dahinter sind die Leichen von Menschen zu sehen, die an den Händen gefesselt an Strassenlaternen erhängt worden waren.

Es kann hier überhaupt kein Widerspruch geduldet werden. Wer ein solches Foto so verwendet, heisst das Geschehen, das es abbildet, gut. Wessen Leichen es sind, die zu sehen sind, wer ihre Mörder sind und aus welchem Grund sie getötet wurden, erkennt der Betrachter nicht, und der Urheber des Plakats weiss es womöglich auch nicht. Die Gleichgültigkeit gegen das, was tatsächlich abgebildet wird, lässt tief blicken: es geht darum, zu töten. Schon der Grund dafür ist nebensächlich. Die Bewältigung der Krise schreit nach Mord. Und das zuerst zitierte Plakat sekundiert: 1% muss weg, eine völlig willkürliche Zahl, so willkürlich wie die Identität der Gestorbenen, deren hängende Leichen deutschen Demonstranten zur Bebilderung ihres Anliegens dienen müssen.

Es hat viel Scheisse gegeben in den Sozialbewegungen der letzten 10 Jahre in diesem Land. Hier hat es eine neue Qualität erreicht. Nach Mord um des Mordes willen ist öffentlich bisher nicht gerufen worden. Damit ist eine rote Linie überschritten worden. Eine Bewegung, die so etwas auch nur zulässt, ist eine Bewegung gegen die Humanität. Dagegen mit jedem tunlichen Mittel einzuschreiten wird zur unmittelbaren Pflicht. Wir sehen, zum ersten Mal, mit unseren Augen, was wir bisher nur geahnt haben: die Umrisse der nächsten Katastrofe. Vielleicht muss man Antifa neu definieren.

Bilder zu sehen unter:
http://reflexion.blogsport.de/2011/10/17/die-maersche-der-demokraten/

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Society is Tearing itself Apart

Die Riots in England, die Krise und wir

von Jörg Finkenberger

Von den Riots in England im August 2011 wird gar nicht mehr viel geredet, kaum dass die rauchende Asche ein bisschen kalt geworden ist. Das ist kein gutes Zeichen, denn es gibt eine ganze Reihe Gründe, sich die sehr genau anzuschauen, wenn man denn wirklich an der Errichtung einer Gesellschaft der ganzen Menschheit ohne Klassen und Staaten interessiert wäre.

1. Viel kluges ist bisher noch nicht dazu geschrieben worden, und man soll nicht darauf warten, dass da noch viel nachkäme; soviele sind gar nicht mehr da, auf die zu warten sich lohnte. Es wird zwei Sorten geben: die einen, die niemals müden, werden sich bemühen, in den Ereignissen Spuren der endlich herannahenden wirklichen Bewegung zu erkennen, die den gegenwärtigen Zustand aufhebt; die anderen werden wütend nach der Republik rufen, die dem marodierenden Bandenwesen Einhalt und den Errungenschaften der Zivilisation einen Beistand tun sollte. An beiden wird uns nur ihre stur durchgehaltene Unfähigkeit überraschen, Dinge zu verstehen, die sich vor ihren Augen abspielen.

Unter den wenigen vernünftigen Stimmen, die sich unmittelbar während der Ereignisse schon hören liessen, schaffte es eine bisher nicht besonders aufgefallene britische Webloggerin wahrscheinlich ohne es auch nur zu ahnen, die Sache auf den Begriff zu bringen: Tonight, in London […] society is tearing itself apart.(1) Die Gesellschaft reisst sich selbst in Stücke – genau das ist der Sinn dessen, was man beobachten konnte, und es hätte, nachdem das offensichtliche ausgesprochen werden konnte, wenig bedurft, um eine ganze Reihe von Zusammenhängen herzustellen, die einen tiefen Blick in die Tendenzen der Zeit, in der wir leben, erlaubt hätten.

Denn tatsächlich, es ist die Gesellschaft selbst, und mittendrin das, was allenfalls noch Proletariat genannt werden könnte; von der Existenz einer herrschenden Klasse sehen wir, immer noch, aus Prinzip ab, und so ist uns vorderhand der Begriff des Proletariats mehr oder minder umstandslos das gleiche wie der der Menschheit im Stande ihrer Unfreiheit. Das Proletariat ist nicht eine Ansammlung von Menschen, die die geschichtliche Aufgabe hätte, im Kampf mit einer anderen Ansammlung von Menschen zu obsiegen, und ihr eigenes soziales Prinzip der Gesellschaft zu oktroyieren. Von einer solchen Revolution kommt nur die Verallgemeinerung des Mangels. Das Proletariat, das ist vielmehr die Klasse, und damit die Herrschaft, der die einzelnen Menschen untertan sind; die Selbstaufhebung des Proletariats, nicht dessen Triumf, und das heisst: die Auflösung der Massen in emanzipierte Einzelne machen erst den Weg frei für die Aneignung dieser Welt durch frei assozierte Menschen, ohne Zwang, Furcht und Gewalt.

2. Von solchen Möglichkeiten trennt unsere heutige Menschheit ein finsterer und unüberbrückbarer Abgrund. Diese Menschheit ist eine, in der die einen den anderen ihre Häuser anzünden, während die anderen mit Eisenstangen Jagd auf die ersten machen. Ein notwendiger Teil der Klasse, soweit man das Wort noch benutzen kann, tut einen illusorischen Griff nach dem gesellschaftlichen Reichtum, während der andere Teil derselben Klasse nach der Ordnung ruft, den Staat und seine eiserne Hand, die die Einheit der beiden Seiten der Ware garantieren soll.

Die wenigsten und klügeren Beobachter(2) haben versucht, diese Ereignisse unter dem Blickwinkel der Warenform des gesellschaftlichen Reichtums zu betrachten. Das ist lobenswert und vernünftig, aber die wenigsten haben von der völligen Negativität im inneren der Warenform, im inneren dieser Gesellschaft einen genügend klaren Begriff.(3) Auch folgender Gedanke erregt vielleicht Entsetzen: wenn es wirklich die Warenform selbst ist, die hier einfach auseinanderfällt, dann passiert hier vielleicht etwas, was gar nicht so unähnlich dem ist, was man die ökonomische Krise nennt. Etwas, das man auch gar verstehen könnte als eine blosse Verlängerung dieser Krise. Man störe sich nicht daran, dass die Krise ja scheinbar naturgesetzlich abläuft, während wir es hier mit Menschenwerk zu tun haben: alle gesellschaftlichen Naturgesetze entfalten sich nur durch die Handlungen der einzelnen Menschen hindurch, und auch die Krise ist Menschenwerk, unkenntlich gewordene menschliche Praxis, die ihnen als objektive Macht gegenübertritt.

Die Logik der Krise aber bringt uns nicht zur Befreiung, und das Auseinanderfallen der Warenform noch nicht zur freien Assoziation; sowenig die Rufe nach der Ordnung und dem Staat, der die Warenform zusammenzuzwingen hat, irgendetwas mit dem im Sinn haben, was einige unserer Freunde „das, was an der bürgerlichen Gesellschaft allenfalls verteidigenswert ist“ nennen werden.(4) Man sollte sich einmal anschauen, wie die daherreden, vor Hass schäumend, die nach der Ordnung gerufen haben: das häufigste Wort , das man von gesetzestreuen englischen Bürgern im Netz über die Plünderer zu lesen bekam, war „animals“.(5)

3. Auf diese Weise also enthüllt sich die innerste Tendenz dieses verhängnisvollen Jahres 2011; aber was für eine traurige Ironie, dass sie nichts anderes ist als das Auseinanderfallen der ojektiven Krise des Kapitals und derjenigen gesellschaftlichen Tat, die zu seinem Sturz wirklich notwendig wäre. Denn diese Tat geht aus jener Krise keineswegs hervor; sie bedarf derjenigen irreduziblen Tätigkeit der menschlichen Freiheit, die man Reflexion genannt hat, oder die man mit einem Zurücktreten und Innehalten verglichen hat, das den Einzelnen ermöglichte, das Elend und die Niedertracht, in deren ständige Produktion sie alle verstrickt sind, zu überschauen und zu beschliessen, dass es doch besser anders sein sollte. Man wird es nennen und vergleichen, wie man will, und wird es doch verfehlen: es ist wirklich irreduzibel, aus keiner Kategorie abzuleiten, in keiner Kategorie ganz aufgehoben, mit nichts identisch und trotzdem allgegenwärtig wie die Hoffnung, die aufzugeben uns um der Hoffnugslosen willen verboten ist.

Der liberale libanesische Weblogger Mustafa von beirutspring.com(6) hat als erster, soweit wir wissen, gewagt, das, was so lange beunruhigend in Luft lag, auszusprechen, indem er die Frage stellte: Was, wenn das Jahr 2011 das neue 1968 wäre? Diese Parallele zu ziehen ist undankbar, in dem Sinne, dass sie so lange allen auf den Sinn drückte, und niemand wagte, sie auszusprechen, auch nur als Frage; so dass dem, der den Schleier lüftet und fragt, niemand dankbar sein wird, ausser heimlich.

Die Lage ist fundamental und verhängnisvoll anders als 1968. Damals hing nicht die Möglichkeit über uns, dass die Weltmärkte zusammenbrechen könnten; die Krise, die sich damals langsam durch die Eingeweide des Kapitals biss, war eine leise, unterirdische, eine seismische Verschiebung der Kapitalzusammensetzung, ein leichtes Beben des Bodens, das aber diejenigen, die nahe am Epizentrum standen, in ungleich grössere Wallung brachte als die, die ferner davon standen; die von unten gewissermassen die Ordnung der Gesellschaft, aber nicht das Üüberleben in Frage stellte; so dass eine Reibung entstand, durch die bald die Grundlagen dieser Gesellschaft selbst zur Debatte stand; erleichtert durch einen schon vorhandenen, bereitstehenden Vorrat von Ideen, die aber noch nicht verdorben und verkommen waren; eine ganze Sfäre der Skepsis und des widerständigen Denkens, das noch nicht vom objektiven Prozess aufgesogen und assimiliert worden war. Nichts von alledem haben wir heute.

Da lehrten hier Adorno, anderswo Marcuse an den Universitäten. Da schienen Gedanken noch Folgen haben zu können, ja zu müssen. Es gab Bücher, deren Erscheinen den Boden beben liessen, nicht, weil die Werbemaschine so gut funktionierte (und jede verschissene kleine Theoriegruppe der Linken ist heute ein Teil davon), sondern weil sie wahr waren und negativ. Man versuche doch einmal, auch nur die kleinsten Skandale der Situationisten nachzustellen! Oder auch nur eine von Adornos Vorlesungen zur Negativen Dialektik! Überhaupt zeigt sich an der ganzen 1968er Maskerade der letzten Jahre, von einer neuen ApO bis hin zu einem neuen SDS, eindringlich die völlige Unwiederbringlichkeit der damaligen Situation. Und selbst aus dieser im Vergleich zu unserer heutigen Lage so viel günstigeren, was ist 1968 gutes daraus gekommen?

Sind die Bewegungen, deren Herannahen wir seit 4 Jahren, im „Letzten Hype“ und anderswo, beschrieben haben, von einem anderen Schlag als der objektive Prozess selbst? Kann man etwa hoffen, dass aus ihnen ohne weiteres etwas befreiendes kommen kann? Oder ist nicht das Entsetzen darüber, wie sich in ihnen gerade die vorherrschende und sich zuspitzende Auswegslosigkeit ausdrückt, das beste, was sie uns geben können? Müsste nicht diesem Entsetzen eine Stimme verliehen werden? Wäre nicht erst das Erschrecken darüber der Punkt, an dem etwas wie Reflexion, oder wie man es immer nennt, sich kristallisieren könnte?

Es liegt, wiederum, eine traurige Ironie darin, dass es ein libanesischer Liberaler war, der 2011 als neues 1968 zu bezeichnen wagte; im Libanon weiss man wohl noch, dass die Bewegung von 1968, nebst den Versuchen der alten Welt, sie einzudämmen, dasjenige in Gang setzte, was dann auf den libanesischen Bürgerkrieg zutrieb. Seine Worte sollten eine Warnung sein. Grund zur Freude gibt es nicht. Um so fürchterlicher, dass eine ganze Strömung, eine, die uns immer ein Grund zur Hoffnung zu sein schien, diejenigen, die am wenigsten verblendet zu sein schienen, sich, wie es aussieht, unfähig gemacht haben, die volle Höhe der Herausforderung, vor der sie wie wir alle stehen, zu verstehen, um sie stattdessen mit billigen Frasen bannen zu wollen; was wiederum eine traurige Ironie ist, weil das, was jetzt geschieht, nichts anderes als genau diese fürchterliche Aktualisierung ist, auf die sie sich all die Jahre vorbereitet haben.

Wir werden wohl, wie Kommunisten das zu tun pflegen, an dieser Herausforderung versagen. Nichts können wir besser. Wenn man sich, aus welchem Grund auch immer, dafür entscheidet, sich auch von der Dummheit der Selbstgewissen nicht ohnmächtig zu lassen, dann wird man, was man tut, ohne jede Rückversicherung tun müssen, im eigenen Namen, auf nicht kartierten Pfaden; auf die Gefahr hin, zu irren; näher am Rand, als es gut sein wird; verzweifelt, und allein; aber wenigstens wird man getan haben, was man konnte. Wie wenig das auch gewesen sein wird.

1 http://pennyred.blogspot.com/2011/08/panic-on-streets-of-london.html
2 http://socialismandorbarbarism.blogspot.com/2011/08/open-letter-to-those-who-condemn.html und http://socialismandorbarbarism.blogspot.com/2011/08/open-letter-to-those-who-condemn_10.html
3 Hierzu hört man sich besser diesen Vortrag von Bruhn an: http://www.freie-radios.net/2254 und http://www.freie-radios.net/2255
Es ist eine Schande, das so was nicht in eine lebende Sprache übersetzt wird.
4 Hier kämpft nicht „die Republik“ gegen „die Banden“, wie wir es zweifellos wieder zu hören bekommen werden von denjenigen Leuten, die auch meinen, Sätze wie „Die Bande ist muslimisch verfasst“ hätten einen Inhalt.
5 Anmerkung 1, in der Kommentarspalte. „Animals“, soweit würden selbst unseren nicht gehen; „savages“ gab es schon. Die Präjudizien sind gesetzt. Das Grauen kann seinen Lauf nehmen. – Wer will hier auf welcher Seite stehen, Hand hoch? Tretet vor und seid gerichtet!
6 Seinen Nachnamen weiss ich nicht.

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Der Stand der Dinge

von Jörg Finkenberger

Wir finden uns, heute, in unkartierten Gewässern. Da ist nichts, auf das wir uns verlassen können. Niemand kann uns, oder in der Tat irgendjemandem, helfen. Niemand wird uns hier auch nur schreien hören. Wir leben, muss man fürchten, in historischen Zeiten. In einer Zeit der Entscheidung; man tut gut, wachsam zu bleiben; die Gefahren sind gross, die Möglichkeiten wenige.

1. Zeiten der Entscheidung nennt man mit im alten Griechischen auch mit dem Wort Krisen, und in dieser Form erscheint uns der allzu zudringliche Gedanke, als gäbe es überhaupt noch etwas zu entscheiden, fast vertraut: die Krise, das ist eine Zeit der Entscheidung, nur scheint es, als hätten wir nicht viel mitzureden dabei, die Krise macht sich als ein rein äusseres Schicksal geltend, und wird allgemein auch genauso verstanden.

Die Krise kommt ohnehin, so meint der bürgerliche Verstand, von aussen, von den sogenannten Finanzmärkten, den Banken, den unfähigen und gierigen Managern, und befällt die Produktion, und die ganze Gesellschaft, wie ein infektiöses Virus. Das ist natürlich vollkommener Unsinn, aber die Insassen dieser Gesellschaft können das nicht anders denken, weil sie niemals begreifen dürfen, dass die Krise gerade aus der Gesellschaft kommt, aus der alltäglichen Praxis, aus der Lohnarbeit, der Familie und dem Staat, aus dem Verhältnis, in das sie zueinander gesetzt sind; dass, mit einem Wort, die Krise nichts anderes ist als die Wahrheit über den Stand der Dinge, und dass sie ausgebrochen ist, weil sie ausbrechen musste. Der bürgerliche Verstand endet hier.

Es ist nicht die Krise der Finanzmärkte, oder der Banken, oder des Weltwährungssystemes, sondern die Krise dessen, von dem die Finanzmärkte und die Wechselkurse nur der äusserste, abstrakteste Ausdruck sind, die Krise der Gesellschaft der Lohnarbeit und der Ware, und alle wissen das. Die Frage ist nur, was alle für Schlüsse daraus ziehen werden, wenn sie gezwungen sein werden, Schlüsse daraus zu ziehen. Und wir wissen, was für Schlüsse sie schon einmal daraus gezogen haben.

2. Wer sich darauf einliesse, die Krise als ein rein von aussen kommendes Ereignis aufzufassen, müsste ihr Ausmass und ihre Tragweite verkennen. Man wird daran festhalten müssen, dass die Menschen ihre Geschichte selbst machen, wenn auch, wie Marx meinte, nicht immer aus freien Stücken.

Die Praxis dieser Gesellschaft wäre genau daraufhin zu durchleuchten, dass die Menschen sie selbst machen, und zwar jeden Tag, und genau das alltäglichste, selbstverständlichste, vermeintlich natürlichste ist nichts anderes als das Produktionsverhältnis dieser Gesellschaft. In der Krise zeigt sich die so produzierte Gesellschaft als unmögliche, nicht einmal denkbare Gesellschaft, ja als das Gegenteil von Gesellschaft, ihr Reichtum als gleicher Ausschluss aller vom Reichtum, ihre Freiheit als blindes Verhängnis. Man soll nicht glauben, die Einzelnen wüssten das nicht insgeheim sehr genau. Sie können es aber nicht wissen wollen, sie müssen sich stattdessen einen anderen Reim darauf machen, wer schuld sein soll an der Krise; denn wer einmal A gesagt hat, muss auch B sagen, wenn B aus A folgt, oder aber er muss erkennen, das A falsch war.

Dass die Menschheit macht ihre Geschichte selbst macht, daran wird sie nur ungern erinnert, und fantasiert sich diese Geschichte gerne anders zusammen: als eine Geschichte der Intrigen und Manipulationen einer geringen Zahl von Mächtigen. Es fragt sich aber, wenn man sich unsere Proletarier so anschaut, wozu diese Leute noch Herrschende benötigen sollten…

3. Auch diese Krise kommt nicht von aussen in die Gesellschaft. Sie besteht ganz einfach darin, dass diese Gesellschaft und der Prozess, in dem sie sich produziert, an den Fugen auseinandergeht. Indem die Gesellschaft sich daran gewöhnt, sie als eine äusserliche Bedrohung anzusehen, übt sie bereits ihre so genannte Bewältigung ein; und das heisst nichts anderes als das gewaltsame Zusammenzwingen dessen, was auseinanderstrebt, durch den ausserhalb und überhalb der Gesellschaft stehenden Souverain, und getragen vom Willen des ganzen Volkes.

Nun wissen wir aus der Geschichte der Krisen, wie so etwas zu passieren pflegt. Und nachdem die Menschheit es versäumt hat, die Welt so einzurichten, das eine Wiederholung als ausgeschlossen gelten kann, zeigt sich das, was am Horizont zu sehen ist, als die Gefahr einer fürchterlichen Aktualisierung.

Dies gibt uns für das, was wir tun oder lassen, das Mass vor, nach dem es gemessen werden wird: ob es dem „Moment höchster Gefahr“, als den wir unsere Zeit betrachten müssen, angemessen ist. Nichts, was das Niveau dieser fürchterlichen Aktualisierung unterschreitet, hat Anspruch darauf, für eine Kritik des Bestehenden zu gelten; nichts, was das Entsetzen vor dem, was ist und was kommen kann, hintertreibt; nichts, was der Anstrengung und der Zumutung, das, dem wir ausgesetzt sind, wenigstens zu begreifen.

4. Wir sind, und wissen es, zum fürchten einsam. Das aber ist normal, und niemandem geht es heute anders. Die Aufgabe besteht darin, sich von der erdrückenden, unwiderleglichen Gewissheit, dass man ein einsames, verlassenes, verächtliches Wesen ist, nicht dumm machen, nicht in den Wahnsinn treiben, nicht hilflos oder schlimmeres machen zu lassen. Nicht mitzutun, ohne sich damit, nicht mit zu tun, selbstzufrieden zu bescheiden. Zu begreifen, wie gründlich der Ausweg der praktischen Veränderung der Umstände uns verstellt ist, ohne deswegen aufzuhören, ständig auf dieser Veränderung zu bestehen; der ganzen Tiefe jener Unmöglichkeit immer auf neue sich auszusetzen; und im Gegenteil diese Veränderung als eine drängende Tagesaufgabe zu fassen, von der allerdings niemand in der Lage ist, sie auch nur zu begreifen oder zu wollen.

Und so sehr diese Aufgabe darauf hinausläuft, jeder Regung, jeder Bewegung in dieser Gesellschaft zu misstrauen, die zur Emanzipation der Menschheit vom jetzigen Zustand sich zweideutig verhält, so sehr ist es uns verboten, die Hoffnung auf diese Emanzipation aufzugeben. Wenn diese Hoffnung erlischt, ist die Befreiung endgültig gescheitert. So wenig sich die Hoffnung begründen lässt, so zäh ist an ihr festzuhalten. Niemand, der sie kennt, hat das Recht, sie abzutun.

Die Hoffnung mag blind sein, und zuweilen blind machen. Das gehört zu den Risiken, die man auf sich zu nehmen hat. So wie das Risiko, zu irren, etwas ist, dem man nicht straflos entkommt. Niemand unter uns, die wir in diesem Blatt schreiben, der nicht geirrt hat und nicht hofft, klüger geworden zu sein. Niemand, der es geworden ist, ohne zu irren.

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Beiträge fürs nächste Heft

Her damit. Auch Leserbriefe. An die bekannte Adresse. Und zwar so bald wie möglich: 15.1. haben wir als Deadline festgelegt! Also, Autoren des Grossen Thieres: Schreiben sollt ihr, schreiben! Solange noch Zeit ist, for you know that time is short.

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So, macht mal langsam mit den Bestellungen

In den nächsten 7 Tagen nehmen wir erstmal keine Bestellungen mehr entgegen. Wir haben in 2 Tagen so ziemlich 80% der Auflage verpackt. Dafür, dass wir davon keine Einnahmen haben, ist das ein bisschen krass.

Es ist ja schmeichelhaft, aber den Rest der Ausgabe verwenden wir erstmal nach eigenem Ermessen.

Eingehende Bestellungen kommen auf eine Liste, die wir mit dem abarbeiten, was wir in 7 Tagen noch haben. Gut. Hoffe, das stösst auf allgemeine Billigung.

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Ausgabe I

Nun ist es soweit. Man hat euch gewarnt.
Hinweis: Es handelt sich bei der Ausgabe Null um zwei Pdfs, deren Inhalt nicht derselbe ist.
Katze &Tiger

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Das Grosse Thier erscheint

heute nacht.

Abonennten erhalten das Heft in den nächsten 7 Tagen mit der Post. Bestellungen bitte noch an:

dasgrossethier@gmx.de

So, man sieht sich.

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Die Postmoderne und einige ihrer Kritiker

Anhang zur „Wiederaufnahme der Geschichte“ (Das Grosse Thier I)

Jörg Finkenberger

1 Was bedeutet es eigentlich für den Begriff der Geschichte, wenn in der sog. Gegenwartsfilosofie offensichtlich Begriffe möglich sind wie die Begriffe Agambens, in denen ungeschieden Carl Schmitts Ausnahmezustand und Walter Benjamins „wirklicher Ausnahmezustand“ aufgehen können, ohne dass eine zerstörende Spannung dazwischen stattfindet? Und was bedeutet es für einen Begriff von Wahrheit?

Man könnte die Frage auch anders stellen: wie kommt jemand wie Deleuze dazu, denjenigen, die den Mai 1968 nicht vergessen können, als Perspektive tatsächlich seine „nomadische Kriegsmaschine“ anzubieten, mit der er ausgerechnet auf Carl Schmitts „Theorie des Partisanen“ zurückgreift? Was ist bei einem solchen Denken schiefgegangen, dass es von den offensichtlich bestehenden Unterschieden zwischen dem einen und dem anderen so völlig absieht, und auf diese Weise seinen Beitrag dazu leistet, dass die Unterschiede wirklich verschwinden? Und warum scheint sich niemand besonders daran zu stören?

2 Es zeigt sich in der ganzen Richtung, die wir die postmoderne nennen, ein eigenartig gelockertes Verhältnis zum Gegenstand des Denkens. Der Gegenstand tendiert ihnen dazu, in Zeichen, Diskurse, kurz in gedachte Dinge aufgelöst zu werden, d.h. er hört tatsächlich auf, ein Gegenstand zu sein, der unabhängig vom Denken existiert.

Deleuze etwa schreibt „Über die Bedingungen der Frage: Was ist Filosofie?“ Sätze wie: „Philosophie ist die Kunst, Begriffe zu bilden, zu erfinden und zu erzeugen.“ Dass diesen Begriffen eine Wirklichkeit auch zukommen muss, dass etwas ihnen entsprechen muss, ist nicht entscheidend. Ein Verhältnis von Sache und Begriff findet nicht statt. Der Gegenstand wird nur noch als zufällige Gelegenheit zum Denken vorgestellt, nicht als ein böses Rätsel, das zu lösen wäre. Mit der Gegnerschaft zum immer widersinnigen Gegenstand verschwindet aber die Vernunft als sein Gegner; das Programm, den cartesianischen Dualismus zu überwinden, ist hinterrücks tatsächlich eingelöst, indem das erkennende Subjekt und der Gegenstand aneinander zerschellen.

3 Dass es oberflächlich ganz im Gegenteil so erscheint, und das macht die Attraktion dieser Filosofie zum Teil aus, als wäre in dieser das Denken befreit von der Last eines umfassenden Systems und könne sich ganz auf die Einzeldinge einlassen, das ist die absurde Pointe dabei. Die postmoderne Filosofie endet nur scheinbar in nichts als fröhlicher Wissenschaft; ihre Begriffe sind keineswegs so völlig konkret, wie sie aussehen, ihre Konkretion ist in Wahrheit erschlichen, und die Begriffe von eine Willkür, ja Monstrosität, die schon für sich selbst erstaunlich wäre: als wäre das die Rache des widersinnigen Gegenstands, dem das Denken beim Versuch, sich ihm zu entziehen, verfällt. – Diese Filosofie hat sich im innersten vom Anspruch, ein System zu bilden, nie losgemacht; sie tut nur, als hätte sie; und betrügt noch dadurch den Gegenstand. Aus dem System, zu dem sie unter der Hand doch wird, ist aber alles geflohen, was für die Systemfilosofie einmal gesprochen hatte, nämlich der Anspruch auf Wahrheit, und die Vernunft. Dass dieser Verlust einfach hingenommen, zuweilen offen zum Programm erklärt wird, macht das lügenhafte dieser Filosofie aus: die zwar, und ganz parteiisch, die repressiven Gestehungsbedingungen der Vernunft genau aufzählt, aber über die keineswegs erfreulicheren Bedingungen, unter denen sie aus der Geschichte getrieben worden ist, schweigt.

5 Solch ein Denken hat eine verlockende Plausibilität in dieser Epoche, in der die Revolution kaum denkbar, und Vernunft wie Wahrheit abwesend sind. Denn die Partei, die zu ergreifen wäre, gibt es tatsächlich nicht mehr. Diese postmoderne Filosofie ist nach der einen Seite jener Epoche das ihr angemessene falsche Bewusstsein. Nach der anderen Seite ist es mehr als das, sie entfaltet nicht einfach eine spontane Denkform, sondern ist dieser fraglos voraus: den versteinerten Resten der leninistischen Linken gegenüber etwa sind Deleuze oder Agamben auf der Höhe der Zeit, i.e. nicht in anachronistischen Gefechten, denen die Realität längst entwichen ist, befangen. Als ihnen gegenüber fortgeschrittener wird man sie aber kaum bezeichnen wollen: sie ist nur energischer vom Elend dieses Zeitalters durchdrungen, und es ist genau jene fugenlose Aktualität, die das gewollte Vergessen anzeigt. – Die Macht von Ideologien wie der, für die Agamben steht, verhält sich zur Macht des Kommunismus umgekehrt proportional. Zwecklos, sie für etwas anderes zu halten als die immer aktuelle Filosofie der Konterrevolution, so wie unser Zeitalter das einer sich immer aktualisierenden Konterrevolution ist, eine never ending attack. – Jene Plausibilität anzugreifen, wäre nur möglich durch den Aufweis, dass den Begriffen des Kommunismus eine Realität zukommt, was aber mit Mitteln der Theorie kaum möglich ist; so wie jene Realität auch nicht mit Mitteln der Theorie versenkt worden ist.

6 Gegenwehr aber gab es keine, die der Erwähnung wert wäre. Man hat etwa Agamben seinen Betrug glatt durchgehen lassen, so als ob die Lüge wirklich wahr geworden wäre, und niemand versucht, den aneinandergeketteten Gegensätzen wieder Leben einzuhauchen, damit sie sich vielleicht aus ihrer Fessel befreien; wir haben zugesehen, wie unsere Filosofie gebunden dem Feind überliefert worden ist, weil wir keine Schande mehr kennen. Noch mehr: nachdem der Feind Benjamins Begriff des „wirklichen Ausnahmezustands“ einmal beschlagnahmt hatte, hat man sich herbeigelassen, diesen Akt zu ratifizieren. – Eine Kritik dieses Treibens findet nicht statt, nur ein so unwürdiges wie hilfloses stochern im Nebel, weil der Hauptpunkt verkannt wird. Und zuletzt befällt die Verblendung noch die, die beanspruchen, sie zu kritisieren.

7 Man fürchtet sich unter denen, die sich heute Ideologiekritiker nennen, vielleicht vor dem, was ich mit einer mathematischen Metafer Nullstellen des Begriffes nennen möchte; oder vielleicht SIngularitäten, oder Bifurkationen. Allgemein gesprochen, gibt es solche logischen Figuren, in denen zum Ausdruck kommt, dass die bestehende Logik der Dinge eben nicht nur aus einer erzwungenem Zusammenhang der Dinge, sondern auch aus freier menschlicher Tat herkommt, die aber allemal mit der Notwendigkeit verkettet erscheint. Dieser Widerspruch kann sich freilich nicht anders geltend machen, als indem der Gang der Dinge krisenhaft wird, welche Krisen jene Tat provozieren. Die Kategorie der freien menschlichen Tat ist dabei nicht von vorneherein bestimmt, sonder selber für sich irreduzibel. Das sollte eigentlich niemanden Wunders nehmen. – Dass der Lauf der Dinge Momente der Entscheidung kennt, ist ein Ausdruck davon, dass er immer noch und unaufhebbar durch menschliches Denken vermittelt ist, und dadurch von Menschen, wenn sie nur den Willen dazu haben, auch durchschaubar und veränderbar. (1)

Man tut der Kritik einen schlechten Dienst, wenn man zur Sicherheit die Nullstellen aus dem Denken, als zu gefährlich und irrational, eliminiert, und im übrigen Agitation gegen das entfaltet, was im Ruf steht, aufregend oder gefahrvoll oder unauslotbar zu sein. Nichts dergleichen ist irgendjemandem ohnehin jemals begegnet. Die Agitation gegen eine vermeinte „Sehnsucht nach dem Ausnahmezustand“ als Parole oder Überschrift für die gegenwärtig anstehende Auseinandersetzung zu nehmen, das ist nichts anderes anderes als ein Geständnis, dass man dem eigenen Denken misstraut und seiner Fähigkeit, richtig und falsch, oder wahr und falsch, überhaupt noch unterscheiden zu können. Man wende mir nicht ein, man misstraue doch lediglich dem Denken aller anderen; unsere Aufgabe ist nicht die Agitation, nicht die Intervention, sondern die Kritik, und das ist zuvörderst der Aufweis, dass überhaupt noch vernünftig gedacht werden kann; das ist die Voraussetzung jeder Kritik; von diesem Aufweis hängt alles ab, und er ist das einzige, was die Kritik tun kann, von dem überhaupt irgendetwas abhängt. Und die mehrheitliche antideutsch-kommunistische bzw. „ideologiekritische“ Praxis seit 2009 ein Misstrauensvotum gegen die Vernunft; auch gegen die eigene, denn es gibt nur eine.

8 Das, was als Ergebnisse der Konferenz über die „Sehnsucht nach dem Ausnahmezustand“ 2009 gelten muss, sieht heute, 2 Jahre später, wie die verhängnisvollste Idiotie aus, die die antideutsch-kommunistische Strömung jemals vollbracht hat. Wir können dieses Konzil unmöglich anerkennen. Seine Tragweite ist so ungeheuerlich, dass man es als Ausdruck einer wirklichen Spaltung nehmen muss.(2) Letzten Endes läuft, was von diesem Konzil herkommt, darauf hinaus, sich der Postmodernen auf Gnade und Ungnade ergeben. Zu einer solchen Kapitulation sind wir aber nicht befugt.

Als ob man keine Mittel an der Hand hätte, um den Ausnahmezustand, von dem Benjamin spricht, unterscheiden zu können von dem, von welchem Schmitt spricht. Als gäbe es genau alle diejenigen materiellen Kategorien nicht, an denen man sich doch so hartnäckig abarbeitet. Als folge aus alle dem nichts, als wären sie nicht die einzigen Kategorien, auf die man sich immer verlassen dürfte. Als wäre der logische Punkt, von dem aus solche Unterscheidungen noch gemacht werden können, nicht mehr in der Welt. Er ist aber in der Welt. Dass wir es auch nur denken können, beweist alles. Und das begründet für die, die denken, eine Verpflichtung, die man nicht straflos hintergehen kann. – Als ob also, in einem Satz, die Postmodernen recht hätten.

Indem man dem Feind den „wirklichen Ausnahmezustand“ überlässt, übergibt man sich schon vorweg seiner Entscheidung, liquidiert die Kritik im Angesicht der Krise, und kapituliert vor einem Geschehen, das im Rückblick so aussehen wird, als hätte die antideutsch-kommunistische Kritik an den Ereignissen des Jahres 2011 ihren Schiffbruch erlitten, und ihre Wahrheit gefunden. Man setzt damit das begriffslose Unwesen als legitimen Statthalter ein. Das ist empörend, aber wir sehen heute, dass der ganze Unsinn wie mit unwiderstehlicher Gewalt darauf schon lange zudrängte, und wir haben geschwiegen; diesen furchtbaren Fehler müssen wir jetzt einsehen; wir haben das alles ja geschehen lassen, und jetzt ist es zu spät, besonders rücksichtsvoll zu sein.

Anmerkungen

1 Und dieser Wille ist selbst irreduzibel, nicht ableitbar, ein freier Entschluss; eine creatio ex nihilo; ein Akt des Ausnahmezustands. Schon der Entschluss, statt des Mitmachens lieber kommunistische Kritik zu betreiben. Schon der Gedanke, jeder einzelne.

2 Es ist hierfür völlig irrelevant, was auf der Konferenz selbst gesprochen worden ist. Man muss schon sehr unbedarft sein, um das für den Hauptpunkt an einer antideutsch-kommunistischen Konferenz zu halten. Es sieht immer so aus, als ob Beschlüsse mit Bindungswirkung auf solchen Konferenzen nicht gefasst würden. Ergebnisse haben sie aber immer, sonst müsste man sie nicht einberufen. Sie ratifizieren Kursänderungen und Abspaltungen, genehmigen durch Akklamation vorläufig getroffene Entscheidungen der einflussreicheren Gruppen, demonstrieren Existenz und Kooperation der wichtigsten Fraktionen, die Hauptredner zeigen ihr bedeutsames Einverständnis mit alledem und den veranstaltenden Gruppen durch ihre blosse Teilnahme, und für das Fussvolk werden die neuen Parolen und Argumente ausgegeben, zu deren Gebrauch es sich für die Dauer der nächsten Periode ermächtigt fühlen darf. Die Vorträge sind meist nicht besonders originell, die Gemeinde reist ohnehin eher wie zum Familientreffen an, oder wie zu einem Festival. Man muss, wirklich, schon sehr naiv sein, um nicht zu sehen, dass hier sehr wohl Beschlüsse gefasst werden, die bindend sind; nur eben nicht verbatim, sondern concludenter, und wegen dieser Informalität erstens ganz und gar den Abmachungen der massgeblichen Gruppen anheimgestellt, sowie von allen Beteiligten jederzeit rundweg abstreitbar. Sehr viele gute Gründe also für ein Ende des Kongresskommunismus, übrigens: an so etwas nimmt man nicht teil. „Die Partei gibt es nicht mehr“, heisst es lakonisch bei Horkheimer, und wer auch immer sich heute schon benimmt, als hätte er sie wiedergegründet, ist daran schuld.

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Steine statt Brot

Die wirkliche Krise der Ideologie-Kritik

Jörg Finkenberger

Unter denjenigen ehemaligen antideutschen Kommunisten, die das seit 2009 nicht mehr sein wollen, sondern nur noch „ideologiekritisch“, geht die Rede von einer Krise der Ideologiekritik um; und man will gar nicht einmal widersprechen; aber was für ein bemerkenswertes Unglück, das sie befallen hat, dass ihnen in nicht 2 Jahren wie Staub durch die Finger rieselt, was doch so selbstsicher begonnen worden ist! Was für ein absurdes Unglück, noch dazu! Wenn man nicht soviel Pietät hätte, möchte man über diese unsinnige Fügung sogar misstrauisch werden und den Verdacht schöpfen, es ginge in Wirklichkeit um etwas anderes: denn warum sollte die Menschheit heute für Vernunft noch weniger zu erreichen sein als, sagen wir, 2003?

1 Ideologiekritik ist, was auch immer sie sonst ist, Arbeit; mühsame Disziplin; man kann sich nicht einen Ideologiekritiker nennen, wie man sich einen antideutschen Kommunisten nennen kann. Antideutscher Kommunist kann jeder Depp sein, und es gibt Gegenden, da ist es auch jeder Depp; man braucht dazu auch nur Gesinnung, und nicht so sehr Verstand. Gesinnung war aber hierzulande immer reichlich vorhanden, vor allem bei der Opposition, und wenn irgendjemand dazu beigetragen hat, Heinrich Heines Spott über die deutsche Linke (kein Verstand, dafür Gesinnung) gleichmässig aktuell zu halten, dann waren es diese Deppen, und die, die sie bedient haben. Es ist also gleich zweimal absurd, dass welche, die selbst den Kurzschluss von der womöglich billigenswerten Absicht zur indiskutablen Ausführung als Standardfigur etabliert haben, sich dann gerade von dem abwenden, was sie am besten, oder als einziges können. Man tat also allgemein Recht damit, die selbstsichere Durchsage der Bahamas-Redaktion auf der Ausnahmezustand-Konferenz 2009 mit genervt rollenden Augen zur Kenntnis zu nehmen: das sind tatsächlich genau die gewesen, die solche grossen Töne nötig haben. Ein paar der Höhepunkte ihres seitherigen Schaffens haben wir im letzten Heft schon kommentiert, genervt sind wir immer noch, und wozu dieses Heft noch gut sein soll, hat uns seither auch keiner erklären können. – Aber wir machen ja selber eins, das zu nichts nütze sein wird.

2 Vielleicht muss man noch einen Schritt weiter gehen und allgemein Misstrauen haben, wo man nur noch Ideologiekritik betreiben will. Es ist nämlich ein Risiko in diesem Begriff angelegt, das sich verwirklichen wird, sobald man es vergisst. Die landläufige Fassung einer antideutschen Carl-Schmitt-Kritik funktioniert z.B. so, dass man Schmitts Aussagen über Staat und Recht auf eine Weise behandelt, als hätte er sich die Problematik, an der seine Argumentation ansetzt, einfach selbst ausgedacht, aus einer Art faschistischer Tücke. Die Kritik endet dann regelmässig damit, ihm angestrengt seine Gesinnung aus diesen Ausführungen nachzuweisen. Als ob man Schmitt eigens seine Gesinnung noch nachweisen müsste! Aber die Aufgabe wäre eine ganz andere gewesen, und was man damit betreibt, sieht nicht zufällig aus wie das, was die Postmodernen Diskursanalyse nennen, sondern ist das auch: man redet über Schmitts Lehre so, als ob er den Gegenstand, den Staat und den Souverän, durch seine Lehre erst konstituiere, und nicht, als ob sie schon längst terribile realtá wären. – Solche eine Kritik ist schlimmer als nutzlos. Sie gewöhnt die Gehirne selbst derer, die gegen so etwas einmal aufgestanden waren, langsam daran, zu denken, als ob es den Gegenstand gar nicht gäbe; solch eine Kritik ist selbst das, was man einen Diskurs nennen muss; niemand auf unserer Seite hat irgendeinen Grund, über die Postmodernen zu spotten, solange im eigenen Haus so etwas möglich ist. Der Verzicht auf den Gegenstand geschieht dabei gar nicht aus bösem Willen, sondern aus schlichter Unfähigkeit; das macht es aber nicht besser. Ich nehme von dieser Kritik ausdrücklich nicht das Buch „Gegenaufklärung“ aus dem sonst unverzichtbaren ca ira-Verlag aus; im Gegenteil ist es eine der schönsten Quellen von Belegen für das, was ich meine.(1)

3 Es ist mit der Halb-Bildung in antideutschen Kreisen so weit gekommen, dass sogar solche, die zu besserem fähig wären, es sich damit genügen lassen, einen Gegenstand, den sie dem gängigen Kritik-Ersatz unterwerfen, irgendwie mit Heidegger, Nietzsche, Schmitt oder einem anderen bekannten Gegenaufklärer äusserlich in Verbindung bringen; freie Assoziation genügt; die Beispiele der sonst oft hervorragenden Machunsky und Klaue wurden im letzten Heft schon angeführt, zwei Beispiele, an denen man (Bahamas 1/2011) ablesen kann, mit was für einem verstörendem Mangel an Fingerfertigkeit und Eleganz solche hilflosen Versuche einhergehen müssen; zweimal Totalschaden, und am empörendsten: zweimal denen, die das Heft ratsuchend aufschlagen, Steine statt Brot gegeben. Dass es die Leserschaft gar nicht stört, macht es nicht besser, im Gegenteil: dass die Leserschaft nicht in der Lage ist, den Mangel überhaupt zu bemerken, ist ganz und gar entsetzlich. – Das Stichwort ist zum Ersatz für das Begreifen geworden, die Gedanken zu talking points heruntergebracht, und wo es kein Skandal mehr ist, dass es Kritik sein soll, in den kritisierten Text heideggerische Vokabeln hineinzumanipulieren, da ist es eine Dreistigkeit, von einer Krise der Ideologiekritik zu reden: diese Art von Ideologiekritik ist Krise genug.

4 Damit sind wir etwa beim erfreulichen Thema Heidegger. Es gilt ja als ungemein wichtig, sich mit Heidegger auseinanderzusetzen, und es werden nahezu ständig Texte dazu verfasst. Könnte der nächste, der einen schreibt, bitte auch ein paar Worte dazu verlieren, warum das so wichtig ist? Wenn man das nicht weiss, kommt es einem nämlich vor wie eine Obsession, oder eine Mode. Es ist aber tatsächlich notwendig, nur fragt man sich, ob die meisten, die schreiben, überhaupt wissen, warum. Man soll auch bitte aufhören, mit dem wissenden Hinweis um sich zu werfen, Schmitt und Heidegger und der Poststrukturalismus gehörten zusammen; wenn und soweit das so ist, ist es Aufgabe der Kritik, das zu zeigen, und nicht, es als allgemein bekannt vorauszusetzen. Es ist gar nichts allgemein bekannt, am wenigsten in dem Haufen verschissener Bauern, den man bis vor etwas mehr als 2 Jahren als die antideutsche Szene kannte.

5 Im Grunde ist die ganze Strömung (vielleicht mit Ausnahme Gerhart Scheits, der ganze Gebiete als erster kartiert hat) nie über das hinausgekommen, was vor Zeiten schon vom ISF Freiburg gedacht und geschrieben worden ist; und das war ja gut und verdienstvoll, nur weit davon entfernt, schon so fertig zu sein, wie die Szene heute tut; es hat sich über die Zeit eine Legende verfestigt, als gäbe es bereits eine mehr oder minder ausgearbeitete Heidegger- oder Poststrukturalismus-Kritik, auf die man nur einfach zurückgreifen müsse; es gibt aber tatsächlich keine, sondern nur einzelne Gedanken; das verdienstvollste zu dem Thema ist wohl eine kleine Schrift von Manfred Dahlmann von immerhin 1983, und bis vor ganz kurzem war das wirklich alles, was es gegeben hat. Das ist ja auch schön und gut, und vielleicht wäre das für das erste auch genug, aber wenn es von einer ganzen Strömung als Vorwand genommen wird dafür, grosszügig darauf zu verweisen und sich ansonsten die Miene zu geben, als sei die Arbeit schon gemacht, dann ist das zu wenig, und einer solche Strömung darf man keinen Augenblick der Selbstzufriedenheit und der Resignation gönnen. Wo alle immer so genau zu wissen scheinen, wovon sie reden, wenn sie einen missliebigen Autor genügend damit gezeichnet zu haben meinen, dass sie ihn seine Sätze „raunen“ lassen, da verwandelt sich das eigene Nichtwissen zu leicht in ein Argument, statt in eine Grund dafür, dem Nichtwissen abzuhelfen. Ein Ausgang aus der selbstverschuldeten Unfähigkeit schiene mir aber, wofern er gefunden würde, das erste Mittel gegen die vermeinte Krise der Ideologiekritik zu sein.

6 Es könnte sogar scheinen, als wäre unter den meisten, die sich einmal antideutsche Kommunisten nannten, der Begriff der Kritik abhandengekommen. Vielleicht ist er auch nie begriffen worden. Man fragt sich, wozu so lange Adorno gelesen worden ist. Und vielleicht ist das auch einen Gedanken wert: mit welchem Recht glaubt man eigentlich an die Aufklärung, wenn sie an ihren enthusiastischsten Proponenten so sehr versagt hat. – Carl Schmitt etwa drückt doch dem, der ihn liest, die Kategorien einer Kritik geradezu in die Hand; dieser Mann hat sich unfassbar manisch daran abgearbeitet, wie der kommunistischen Revolution Einhalt zu gebieten wäre; er sagt alles, was man über ihn wissen muss, klar und deutlich; aber trotzdem weigert man sich standhaft, ihn beim Wort zu nehmen; irgendetwas anderes muss dahinter stecken, mindestens Heidegger: und so sucht der Kritiker lieber Zuflucht in den Nebelregionen einer Heideggerkritik, um die Sätze Carl Schmitts zu beleuchten, anstatt diesen von der Flanke seines Materials her zu umgehen, was ganz einfach wäre. Seltsame Mathematik, ein prinzipiell lösbares Problem auf ein ungelöstes zurückzuführen! Aber wie bang muss es unserem Kritiker sein, wie sehr muss er seinen eigenen Gedanken misstrauen. Statt etwa den Schmitt mit dem Fehlschlagen der Revolution in Verhältnis zu setzen, wird er von der Revolution, dem Staat, der Geschichte, im Ganzen vom Gegenstand selbst abstrahieren, auf der blinden Flucht vor genau den Kategorien, die ihm gegen Schmitt einzig, aber unfehlbar und ganz und gar zu Diensten wären. Was eine solche turpis fuga aber irgendwem nütze sein soll, das sage mir, wer es weiss.

7 Das alles ist gesetzt, sobald man sich mit Ideologiekritik bescheidet; man läuft Gefahr, im Gestrüpp von nichts als Literatur zu enden. – Mag man mir diese Metafer übrigens für anti-intellektualistisch erklären! Vielleicht hilft das denen, die sich kritisiert fühlen müssen, zu glauben, sie seien für eine Überschätzung von Intellekt kritisiert worden, statt, wie es wirklich ist, für einem Mangel. – Zuletzt ist wohl der gängige Begriff von Kritik so mangelhaft wie der von Ideologie; aber es mag sein, dass der Begriff der Kritik seinen Sinn wandelt, oder verliert, wenn er nicht mehr in Beziehung zum Anspruch steht, die Krise damit zu provozieren, und ich gebe zu, dass danach nicht mehr allen der Sinn stehen wird. Eine Entschuldigung für den ganzen Unsinn ist das aber schon lange nicht mehr.

8 Es gibt heute längst die Voraussetzungen für eine ganz andere Art der Kritik. Man muss nicht mehr so tun, als hätte man eine Heidegger-Kritik fertig in der Tasche, und könnte leicht jeden anderen Autor kritisieren, indem man eine Parallele zu Heidegger zieht. Eine vermeinte oder wirkliche Parallele zu Heidegger ersetzt ohnehin kein Urteil. Es liesse sich z.B. leicht jeder beliebige Autor der Eigentlichkeit, der Sehnsucht nach dem Ausnahmezustand oder eines beliebigen anderen Tatbestandes des neuen antideutschen StGB überführen, E.T.A. Hoffmann, Thukydides, oder natürlich Dr. Oetker (“Schöner Backen“). Mit den Methoden, die man in diesem Filosofie-Repetitorium für Bummelstudenten gelernt hat, das die antideutsche Szene ja auch war, ist das tatsächlich möglich. (Es ist alles damit möglich. Das ist das erschreckende daran.) – Es reicht nicht aus, die Ideologie als Ideologie zu kritisieren, wenn man sie nicht als diejenige gesellschaftliche Praxis kritisiert, zu der jene Ideologie nur das Bewusstsein ist; Marx z.B. hat die politische Ökonomie der Smith und Ricardo kritisiert, ohne ein Psychogramm der beiden Autoren zu erarbeiten; er hat sich aber auch die Mühe gemacht, die Realität zu beachten, die den Begriffen der beiden Autoren zukommt, und sich dabei in endlose Versuche verrannt, deren notwendige Irrtümer erst zu berichtigen, bevor er sie kritisiert. Solche Mühe möchte man sich heute vielleicht nicht mehr machen; es gibt welche, die ziehen stattdessen z.B. zur Kritik von Carl Schmitt Anekdoten aus seinem Sexualleben heran;(2) so fortgeschritten war Marx ja nun nicht. – Von der antideutschen Literatur seit etwa 2005 gibt es wenig zu lernen; das meiste wird zu Recht vergessen werden, das beste ist ungeschrieben, und das, was da ist, nämlich die Szene, ist zum Lachen. Die Aufgabe einer Kritik wird z.B. an welche fallen müssen, die es nicht mehr nötig haben, immer und überall von „der Kritik“ zu reden, wenn sie sich selbst meinen. Der letzte Satz war vitalistisch. Und mit solchen schlechten Witzen geht ein dummes Kapitel zu Ende, und fängt ein neues an.

Anmerkungen

1 Etwa Gruber in: Gegenaufklärung, Frb. i. Br. 2011, S. 163; die Zeilen ab
„Wie Schmitt das Recht als abstrakte Allgemeinheit fasst“ sind unbezahlbar; das zweitschönste Beispiel dafür, wie man es nicht macht. Er verfehlt seinen Gegenstand mit staunenswerter Präzision. Man beachte, wie rührend hilflos er mit der Schuldefinition des Gesetzes als etwas abstrakt-allgemeinen umgeht, als mutmasse er halb oder ganz, dass sich Schmitt diese ausgedacht haben könnte, aus purer Rancune gegens Abstrakte. – Überflüssig, zu erwähnen, dass er nur glaubt, hier eine charakteristische Stelle zu behandeln. Er zitiert Schmitt, wo Schmitt einen juristischen Allgemeinplatz zitiert. Nur weiss Gruber das nicht, und versucht possierlich, aus dem Allgemeinplatz eine Faschismuskritik zu entwickeln; und bei Gott, es gelingt ihm fast auch noch; wenn er aber wüsste, was für ein Fang ihm gelungen wäre, wenn ihm dies gelungen wäre!

2 Blumentritt hält es für erwähnenswert, dass Carl Schmitt gerne Sex in Eisenbahnzügen hatte. Von den objektiven Problemen des Staates und des Rechts will er nichts wissen. Wenn man sich sagen lassen muss, dass man die Methode von Schmitt selbst, Glossarium S. 215, verwendet, dann hat man wohl irgendwas falsch gemacht.

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