Buchbesprechung: China

Jason M. Kelly, Market Maoists, the Communist Origins of China’s Capitalist Ascent, Harvard University Press, 2021

Ralf Ruckus, The Communist Road to Capitalism, How Social Unrest and Containment Have Pushed China’s (R)Evolution Since 1949, PM Press 2021

Manfred Elfström, Workers and Change in China: Resistance, Repression, Responsiveness, Cambridge University Press, 2021

Wu Zhongmin und He Jun, Essentials of Governance, Twelve Lectures on Social Contradictions in China, Brill, 2021

Steven Rolf, China’s Uneven and Combined Development, Palgrave Macmillan, 2021

Desmond Shum, Red Roulette, An Insider’s Story of Wealth, Power, Corruption and Vengeance in Today’s China, Scribner 2021

Shaojie Zhou und Angang Hu, China: Surpassing the „Middle Income Trap“, Palgrave Macmillan, 2021

Roger Garside, China Coup, The Great Leap to Freedom, University of California Press, 2021

Es gibt über China seit geraumer Zeit mehr Bücher pro Jahr als Augen, sie zu lesen, und das wird sich auch nicht mehr ändern. Die meisten sind nicht der Rede wert. Auch die hier besprochenen, alle aus dem Jahr 2021, sind nicht an sich selbst bemerkenswert. Man greift sich zuweilen, alle paar Jahre, so ein paar neu erschienene Sachen heraus und schaut sie sich an, meistens ist es alles das selbe. Die Sachen, um die es hier geht, sind untereinander so verschieden wir nur möglich, aber sie haben auf bestürzende Weise etwas gemeinsam, was derartige Bücher vor fünf Jahren, auch vor 2 Jahren noch nicht gemeinsam hatten.

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Nehmen wir mal eine Handvoll Titel aus den letzten Jahren; Sachen, um die es hier, ich wiederhole das, ausdrücklich nicht geht. Daniel F. Vukovich, Illiberal China, Palgrave Macmillan, 2019 etwa, ein Buch, das nebenbei auch Dienst tut als Beispiel, warum man Politikwissenschaftlern nie ein Wort glauben sollte. Vukovich interessiert sich für „Diskurse“, und redet ansonsten viel über die „entpolitisierte“ Art und Weise, wie Politik überall, z.B. auch in China, stattfindet. Es fällt ihm nicht ein, dass es da einen Zusammenhang gibt und dass sein verdinglichtes Geschwätz in einem weniger „entpolitisierten“ Umfeld dem Gespött verfiele.Ihn fasziniert natürlich die ebenfalls von Politikwissenschaftlern erfundne sogenanne chinesische „Neue Linke“, die so etwas lehrt wie eine Mischung von Wagenknecht, Melenchon und Dugin. Das hält er für sehr „politisch“ und für fast etwas bessres als Klassenkampf, und schreibt diesem neuen „Diskurs“ einige Erklärungskraft für die soziale Unruhe im gegenwärtigen China zu. Es ist ja bekanntlich undenkbar, dass das ungelehrte Volk sich zusammenrottet, ohne dass vorher ein Philosoph herausgefunden hat, was sie dabei denken können. Die Zeit für derartige Professorenphilosophie ist aber vor 10 Jahren abgelaufen. Das hat sich noch nicht überall herumgesprochen, aber es ist so.

Wenn es um China geht, verkaufen sich solche Sachen einstweilen noch. China ist bekanntlich unveränderlich, hier gelten andere Gesetze als sonst in der Geschichte. Daran glauben allerhand Leute in Westen fest. Sehr viel schmaler ist deshalb die Literatur z.B. über die immense Streikwelle, die um 2010 angefangen hatte; Ren, Li, Friedman, China on Strike, Haymarket Books, 2016 gehört dazu. Solche Arbeiten sind immens wichtig, aber nie zureichend. Sie sind die einzigen, die nicht aus der Herrschaftsperspektive geschrieben sind, aber genau deswegen sind die Einblicke, die sie erlauben, immer fragmentarisch. Sie werden auch nicht gelesen, und wenn, werden sie nicht verstanden, weil die Klasse, die solche Bücher liest, von Streiks soviel versteht wie von der Arbeitswelt überhaupt.

Oder Huang, Cracking the Chinese Conundrum, Oxford University Press, 2017. Eine nützliche Erinnerung daran, dass damals die Literatur bis neulich hauptsächlich gespalten war zwischen sogenannten Optimisten und Pessimisten, solchen also, die das „chinesische Modell“ für durchhaltbar hielten und solchen, die nicht. Das „chinesische Modell“ heisst übrigens mit bürgerlichem Namen „kapitalistische Produktionsweise“, womit alles über seine Durchhaltbarkeit gesagt ist; und alles darüber, wie verdreht diese Debatte geführt wird.

Huangs Buch ist vom Standpunkt der Optimisten, d.h. es enthält Perlen wie diese: „Der Ansteig der Verschuldung muss deswegen kein so ernstes Problem sein wie viele glauben, vorausgesetzt, das Niveau der Grundstückspreise ist durchhaltbar.“ Ich nehme an, der verehrte Lesepöbel hat die Nachrichten über die Immobilienfirma Evergrande gelesen. Man wird keinen Widerspruch erwarten müssen, wenn man die Schule der sogenannten Optimisten für erledigt hält.

Bei den 2021 erschienenen Büchern ist der Ton auf einmal völlig anders. Es gibt nicht mehr Optimisten und Pessimisten. Das liegt nicht einfach daran, dass die Optimisten dieses Jahr keine Bücher herausgebracht hätten; sondern ihre Position hat sich gegenüber der Realität verschoben. Man gewinnt, wenn man ein paar davon liest, den Eindruck, dass eine Krise angefangen hat von Proportionen, die über 2008 hinausgehen; und bei der in China die Decke mit herunterkommen könnte. Die Frage ist nicht mehr, ob das chinesische System die nächste Krise übersteht; die Frage ist, ob es einfach zusammenbricht oder es vorher auf einen Krieg ankommen lässt.

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Die Ursprünge des chinesischen Kapitalismus liegen natürlich im chinesischen Staatssozialismus. Das ist natürlich völlig unverständlich für alle die, die den Staatssozialismus für ein völlig anderes System als den Kapitalismus halten. Der chinesische Staatssozialismus gilt zu Unrecht als radikaler als der ältere russische; Mao hat seit 1957 eine Politik verfolgt, die „linker“, innerhalb des bolschewistischen Koordinatensystems, als die Chruschtschows gewesen ist. „Links“ bedeutet in diesem Zusammenhang Enteignung der Bauernwirtschaften und beschleunigter Aufbau der Industrie; die Sowjetunion hatte aber unter Stalin dieselbe Politik verfolgt. Diese „linke“ Politik im Staatssozialismus ist nicht das Gegenteil des Kapitalismus. Sie ist die Voraussetzung seiner Entwicklung.

1961 führt der Bruch Chinas mit der Sowjetunion zum Auseinanderbrechen der sogenannten „kommunistischen Weltbewegung“. China betreibt danach eine gegen die Sowjetunion gerichtete eigenständige Weltmachtpolitik. 1969 stehen beide Mächte am Rande eines Atomkriegs. Der „linke“ Kurs Maos, der dahin geführt hatte, macht den Weg frei für die Verständigung Chinas mit den USA 1972, und für die beschleunigte Integration in den kapitalistischen Welthandel. Nicht besonders tiefgehend, aber immerhin beschreibt den Vorgang Jason M. Kelly, Market Maoists, Harvard University Press 2021.

Die Veränderung zwischen der streng diktatorischen Wirtschaft unter Mao und der Förderung des Privateigentums unter seinen Nachfolgern hat ihren Grund und ihre Dynamik in der Veränderung der chinesischen Gesellschaft, die durch den Aufbau der grossen Industrie in Gang gesetzt worden sind. Der neue Staat reagierte auf die Bewegungen der neuen Klasse teils durch Repression, teils durch Entgegenkommen; der Versuch, diese Bewegungen durch gesteuerte Kampagnen zu kanalisieren, führte 1967 beinahe zum Zusammenbruch der Staatsmacht, aber die seit den 1970ern beschleunigte Steigerung der industriellen Produktivität machte es seither möglich, solche Situationen meistens zu vermeiden. Ralf Ruckus, The Communist Road to Capitalism, PM Press 2021, ist nicht entfernt so ausführlich wie sein Vorbild, Bettelheims Studie über die Klassenkämpfe in der Sowjetunion, aber ein guter Überblick.

Die Klassenkämpfe, nicht die staatliche Planung, sind der Motor der Entwicklung. Sie sind es, die dem Staat die Ziele seiner Planung aufzwingen. Nicht nur die Auseinandersetzungen in der Fabrik, dazu die hervorragende Arbeit von Manfred Elfström, Workers and Change in China, Cambridge University Press 2021; sondern die Ansprüche der arbeitenden Bevölkerung ausserhalb der Fabrik zwingen der Führung ihren Kurs auf; einen in sich widersprüchlichen Kurs, denn sie muss gleichzeitig Ausbeutung und Teilhabe am Wohlstand organisieren, ohne das Monopol ihrer Partei aufzugeben.

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Über die richtige Behandlung der Gegensätze innerhalb der Gesellschaft schreiben Zhongmin/Jun, Essentials of Governance, Brill 2021. Gesellschaftliche Gegensätze erzwingen gesellschaftliche Entwicklung, schreiben sie S. 44 ff. und greifen dazu weit in die neuere Geschichte der kapitalistischen Welt aus. Es ist richtig, führen sie S. 56 ff. aus, dass die bestehende Gesellschaft das Resultat von Klassenkämpfen ist, aber es besteht natürlich keine allgemeine Garantie, dass Klassenkämpfe von ihrer eigenen Natur aus danach streben, glatt in einem Fortschritt der bestehenden Gesellschaftordnung auszugehen. Unsre hiesigen Hegelianer vergessen das anscheinend öfters.

Damit die Klassenkämpfe die bestehende Ordnung nicht einfach über den Haufen werfen, sondern sich zu nichts als Fortschritt zusammenfügen, müssen für die gegensätzlichen Interessen „rationale“ Akteure bestehen; das heisst, sie müssen artikuliert werden von Instanzen, die ein bewusstes Interesse am Fortbestand der bestehenden Ordnung haben, aber dennoch autonom genung, dass sie als die authentischen Vertreter dieser Interessen angesehen werden können. Also zum Beispiel freie Gewerkschaften, aber solche, die es nicht übertreiben; sondern die so „verantwortungsbewusst“ sind wie der DGB. Wir haben hier gewissermassen das Gegenstück zu dem vor uns, was Johannes Agnoli die Transformation der Demokratie nannte. Wie man von der Demokratie aus zu so etwas kommt, wissen wir, aber wie kommt man dazu von der Diktatur aus?

Der Logik der Sache nach ist so etwas nur möglich in einer sogenannten pluralistischen Gesellschaft, oder genauer einem parlamentarischen Mehrparteien-Regime. Man sollte diesen Zustand eigentlich nicht „Demokratie“ nennen, solcher schlampige Sprachgebrauch führt in die Irre. Es handelt sich um freiere Konkurrenz verschiedener Oligarchien. Bis zu einem bestimmten Punkt kapitalistischer Entwicklung ist sie unmöglich, aber ab diesem Punkt wird sie nach geläufiger Weisheit unentbehrlich.

„In den nächsten zehn bis fünfzehn Jahren“, schreiben sie S. 167, „wird China in einen kritischen Zeitraum eintreten. Die gesellschaftlichen Gegensätze werden wahrscheinlich den Höhepunkt ihrer Entwicklung erreichen, wegen verschiedener Faktoren: eine langfristige Schwäche der Ökonomie, das schnelle Wachstum der Ansprüche und der Forderungen der Bevölkerung, und die Entwicklung der Gegensätze selbst. Werden die Gegensätze zu sozialer Unruhe führen, und wird die Entwicklung Chinas zum Stehen kommen? Das ist eine Frage von grosser Bedeutung.“

Im Ergebnis, sagen sie, ist die Wahrscheinlichkeit gering, weil die chinesische Gesellschaft stark genug ist, um einige heilsame Grundsätze einzuhalten, die sie dankenwerterweise S. 189 ff. noch einmal aufschreiben. Leider ist unter dieser anscheinend optimistischen Diagnose eine weitere, weit weniger günstige verborgen, wenn man diese Grundsätze aufmerksam durchliest. Sie sind nämlich in aller Kürze zusammengefasst das Gegenteil von dem, was zu tun die gegenwärtige Regierung sich anscheinend gezwungen sieht.

Z. B. „soziale Gerechtigkeit befördern“, S. 189, worunter verstanden wird namentlich die Anerkennung der Betätigungsfreiheit von Gewerkschaften, Koalitionen und Interessengruppen; Manfred Elfström hat in einem Interview neulich bemerkt, dass in einem System wie dem zaristischen Russland oder dem sozialistischen China zwischen der ökonomischen und der politischen Tätigkeit der Arbeiterbewegung ein Unterschied nicht besteht, jeder Lohnstreik richtet sich direkt gegen die staatliche Ordnung. Im Grunde läuft die Empfehlung von Zhongmin und Jun auf einen Systemwechsel hinaus.

Das wird S. 55 ff. gespenstisch erhellt, indem sie Ghaddhafis Libyen als Gegenbeispiel anbringen. Sie zählen unter den Fehlern, die zu seinem Sturz geführt haben, merkwürdigerweise genau diejenigen auf, die man auch Mao und Präsident Xi nachsagen wird, bis hin zur forcierten Verbreitung der „shoddy ideas“ des geliebten Führers, die in China ja neuerdings Verfassungsrang haben. Man kann es nicht anders lesen: die Aussage ist völlig klar, da sind brennende Buchstaben an der Wand; ah, das ist also aus der optimistischen Schule geworden.

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Steven Rolf, China’s Uneven and Combined Developement, Palgrave Macmillan 2021, beschreibt die neuere Entwicklung Chinas seit 2000; zunächst, bis 2008, eine stürmische Entwicklung des industriellen Exports, dann, nach der Krise, der Ersatz dieser exportgestützten Konjunktur durch eine investitionsgestützte. Die tragende Rolle spielen in der chinesischen Industriepolitik die staatseigenen Unternehmen; hier sitzen sowohl die produktiven Überkapazitäten, als auch sind sie die hauptsächlichen Hebel, mit denen der Staat nach 2008 die Stützungskredite in die Wirtschaft einbrachte. Die bedeutenden privaten Unternehmen sind aus dem staatlichen Sektor auf die eine oder andere Weise hinausgewachsen, sie öffnen neue Produktionsfelder, sie haben hauptsächlich den Boom und die Ausdehnung der Beschäftigung der 2000er Jahre getragen; aber die Preispolitik ihrer staalichen Zulieferer garantiert, dass die Profite hauptsächlich vom Staatssektor realisiert werden.

Das ist eine ganz gegenteilige Dynamik, als sie im Westen zu beobachten ist, wo die entprechenden Profite und Marktkapitalisierung von den neugegründeten sogenannten Tech-Firmen realisiert wird, wo also eine neue Fraktion des produzierenden Kapitals den alten industriellen Kapitalstock stückweise durchdringt und assimiliert, und neue Konglomerate entstehen, deren herrschende Unternehmen z.B. aus ausgearteten Werbeagenturen hervorgehen. In China verkaufen dagegen die neuen Tech-Oligarchen ihre Start-Ups, sobald sie strategisch werden, zurück an die Staatsunternehmen; vermutlich, nachdem die zuständigen Organe ihnen klargemacht haben, wie sinnvoll das aus Gründen des Strategic Asset Management ist.

Die Krise von 2008 hat, wie alle wissen, China kaum betroffen, diesen Stabilitätsanker des Weltsystems; ausser, dass die Führung, um dieses Ergebnis oder diesen Anschein zu erzeugen, ungeheure Mittel mobilisieren und in die Staatsunternehmen einspeisen musste; so ungeheure Mittel in der Tat, dass das ganze bisherige Akkumulationsmodell unmöglich wurde. „Überschüsse, die durch exportgestütztes Wachstum akkumuliert und vom Staatssektor angeeignet worden waren, haben zusammen mit dessen charakteristischer Kontrolle über den Finanzsektor der chinesischen Regierung ermöglicht, sich von der ungünstigen globalen Witterung lange Zeit abzuschirmen. Nachdem diese Überschüsse abgenommen hatten, hat das staatliche Management auf fiktive Kapitalschöpfung – Verschuldung – zurückgegriffen, um Wachstum und soziale Stabilität aufrechtzuerhalten. … Aber nur eine Rückkehr zur Profitabilität des Kapitals in den Kernsektoren des Exports kann China erlauben, seine hohen Wachstumsraten in Zukunft aufrechtzuerhalten“, Rolf S. 172. Die „chronischen Überkapazitäten“ der staatlichen Industrie haben die eigenen Profitmargen genauso aufgefressen wie die der internationalen Konkurrenz, S. 199. Der forcierte Export von Kapital, das unter dem Namen Belt and Road Initiative versucht wird strategisch anzulegen, hebt die ökonomische Konkurrenz zum Westen auf die Ebene einer geostrategischen Rivalität, S. 242 ff.

„Trotzdem.. halte ich es nicht mit denjenigen Pessimisten, die regelmässig den Untergang der chinesischen Ökonomie vorhersagen… eine Bereinigung der unproduktiven und zunehmend verschuldeten Unternehmen ist wahrscheinlich notwendig, ehe ein erneute Rund der Akkumulation plausibel ist, die Chinas Wachstum zu den früheren hohen Raten zurückbringt“, Rolf 223 f.; aber wenige Seiten später: „Der chinesische Staat ist dennoch aus strukturellen Gründen unfähig, seine Ökonomie voll zu öffnen (und damit definitiv unfähig, dem Verlangen der USA in dem Handelskrieg nachzugeben), weil das wahrscheinlich die Auflösung vieler Staatsunternehmen, ruinöse Kapitalflucht, und in der Folge eine Schwächung, wenn nicht Zerstörung, des Einparteienstaats in seiner bisherigen Form bedeuten würde. Es ist ausserdem unklar, ob solch ein Schritt der Wirtschaft viel helfen würde“, S. 232.

Aber wie soll denn die Bereinigung der unrentablen Kapitalien vor sich gehen? Die Staatshilfen und die Schuldenbelastung machen aus den Staatsunternehmen insgesamt einen zunehmend unrentablen Sektor. Die Staatsunternehmen sind aber die Machtstütze der Partei im Ganzen, ihre einzelnen Konglomerate die der einzelnen Fraktionen, und Gegenstand der oft tödlichen Intrigen innerhalb des Apparats. Welche Instanz soll einzelne Unternehmen auswählen, um sie untergehen zu lassen? Die politische Form, die dieser Vorgang in staatssozialistischen Systemen gewöhnlich annimmt, ist der Putsch und die Säuberung. Und es sind gerade diese Instrumente, mit denen der jetzige Präsident, Xi, seine Macht errungen hat und sie befestigt.

Auch dieses Jahr erschienen sind die Memoiren des hongkong-chinesischen Biznesmen Desmond Shum: Red Roulette, Scribner 2021, für die, die Larmoyanz nicht abschreckt und die es gern anschaulich haben. Stark geschönt, aber man erfährt allerhand über das Leben der chinesischen Oligarchen und Staasfunktionäre, und genug über die erwähnten Intrigen und Säuberungen.

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Zhou et al., China: Surpassing the Middle Income Trap, Springer Singapore, 2021 fassen, was vorhin mit dem „kritischen Zeitraum“ gemeint war, in einer anderen, neuerdings beliebten Weise: die sogenannte Middle Income Trap beschreibt die Schwierigkeit der sogenannten nachholenden Entwicklung, auf den Stand der alten Industrieländer aufzuschliessen. „Es wird erwartet, dass China 2025 in die Gruppe der Hocheinkommens-Ökonomien eintritt, vorausgesetzt, die Wachstumsrate des BIP pro capita bleibt über 5% während der Periode des 1. Fünfjahresplans. Zusätzlich wird… das BIP Chinas das der USA übersteigen“, Zhou et al. S. 193 f.

Das klingt optimistisch, bis man das Kleingedruckte liest: „Wenn China es nicht schafft, seine Totale Faktorproduktivität gegenüber der USA zu verbessern, oder einen Rückgang hinnehmen muss, wird China in die Middle Income Trap fallen“, S. 138 f. Nun fragen Sie, liebe Leserin, und Sie, lieber Leser, mich bitte nicht, was die Totale Faktorproduktivität ist! Ich werde es sonst versuchen müssen zu erklären, und das würde uns beide nicht glücklich machen.

Die totale Faktoproduktivität ist eine mystische Grösse aus derjenigen Pseudo-Wissenschaft, die man Ökonomie nennt. Das wirtschaftliche Output kommt zustande aus seinen Bestandteilen: Arbeit und Kapital. Das Output wächst aber in der Regel stärker als seine Produktionsfaktoren. Man berechnet das eine, und das andere, und den unerklärlichen Rest zu dem beobachteten Wachstum nennt man totale Faktorproduktivität. Warum es diesen Rest gibt, weiss man nicht; vermutlich, weil die ganze Rechnung völliger Unsinn ist, aber lassen Sie das die Ökonomen nicht hören! Die Gefahr besteht, dass die Ihnen Recht geben, ehe sie Ihnen lange Vorträge halten darüber, was in ihrem Fach noch alles vermutlich völliger Unsinn ist.

Man interpretiert die Grösse verlegenheitshalber manchmal als Effizienz, als technischen Fortschritt oder auch als Energienutzung. Das Ganze ist also hoch wissenschaftlich, sagt aber nicht viel mehr aus, als: unabhängig vom Kapital- und Arbeitseinsatz wächst die chinesische Wirtschaft nicht so stark, wie sie müsste, und zwar seit 2013. Und wenn das so bleibt, kommt China über den Stand eines sogenannten Schwellenlands nicht hinaus. Das klingt weniger tragisch, als es ist, aber es heisst, es wird weder die sozialen Ansprüche der Bevölkerung befriedigen können, noch wird sich ein Phänomen wie der jetzige Grundstückspreis halten können; den Namen Evergrande haben wir schon ausgeprochen. Die Grundstückspreise aber haben die doppelte Rolle, einerseits besichern sie alle Kreditströme; andererseits beruhen sie auf nichts anderem als auf der Naherwartung, dass die Entwicklung in vergleichbarer Geschwindigkeit weitergeht; und sie tut es nicht. Und das heisst: die Kreditströme schrumpfen, die Gütermenge schrumpft, die Preissumme schrumpft, das Investitionsvolumen und zuletzt die sogenannte Faktorenauslastung, etc.; also 2008 in klein, oder in gross, je nach Perspektive.

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Alle Zeiger weisen in dieselbe Richtung. Die neueren Nachrichten über Evergrande usw. waren dabei noch nicht in der Welt, als die meisten dieser Bücher in Druck gingen; man merkt es ihnen kaum an, so voraussehbar waren sie. Das chinesische System ist in der Klemme; seine Industrie ist unrentabel, die Arbeiterschaft aufsässig, und das Kreditsystem, das das alles abgefangen hat, ist am zusammenbrechen. Die Versuche, die Rentabilität durch Kapitalexport zu retten, machen die USA zum Feind; ebenso die Praktiken, mit denen man versucht, die Profite der staatlichen Industrie zu subventionieren.

Man kann nicht auf Dauer eine Wirtschaft in der WTO haben, die Massengüter mit subventionierten Preisen auf die Weltmärkte klopft. Wenn die chinesische Industrie reelle Preise berechnen, fliegen sie aus dem Rennen; oder aber die Arbeitsproduktivität steigt wieder. Dazu müssen entweder die Löhne sinken, was die Arbeiter nicht dulden werden; oder es muss neue Technik her, und zwar aus den USA, die aber keine mehr liefern wollen. Oder man machts wie die anderen Kapitalisten auch, man sattelt die Sünden der ganzen Brüderschaft auf zwei oder drei Konzerne und schickt die in die Pleite, dann ist auch saniert. Aber dazu muss man die dazugehörige Hälfte der Partei auch in die Wüste schicken. Stattdessen erdrosseln die verschiednen Fraktionen der Partei einstweilen gemeinschaftlich den privaten Sektor; aber der ist das einzige, was derzeit profitabel wäre.

Die Washington Post musste sich sehr über die letzte Neuerscheinung wundern, die ich hier bespreche, Roger Garside, China Coup, California University Press 2021. Den Autor kenne man doch als besonnenen und massvollen Mann, langjähriger britischer Diplomat in China schon zu Zeiten, ehe Mao ins Ewige Plenum einging; nicht jemand, der mit ungewöhnlichen Gedanken auffällt. Sein Gedanke ist an sich auch nicht ungewöhnlich, nicht für Leute, die um 1990 nicht unter einem Stein gelebt haben; um so wunderlicher muss er sich heute ausnehmen. Sein Gedanke ist nur falsch, das ist eine ganz andere Sache.

Garside entwirft ein Szenario für einen fundamentalen Wandel, und zwar einen von der Sorte, wie ein bürgerlicher Autor sich vorstellen wird, dass ein Wandel zum besseren aussehen wird. Anlass ist für ihn nicht eine chinesische Krise nach Art von 2008; sondern eine Eskalation der handelspolitischen Konfrontation. Massnahmen der US-Börsenaufsicht; Kriegsgefahr im südchinesischen Meer; alles Dinge, die morgen geschehen könnten und zur Folge hätten, dass China vom US-Kapitalmarkt abgeschnitten wäre oder schlimmstenfalls in einen Krieg hineinschlitterte.

Garside lässt nun das Politbüro der KP Chinas den Geliebten Führer absetzen (er nennt Namen möglicher Putschisten), aber der Coup bleibt dabei nicht stehen, sondern der Nachfolger macht den Jelzin, verkündet also grundlegenden Systemwandel, Ende der Alleinherrschaft der Partei, freie Wahlen, Abbruch der Eskalation gegenüber den USA, und auf den restlichen 150 Seiten begründet Garside, warum das das einzige ist, was der KP übrigbleibt. Er beschreibt dazu die chinesische Wirklichkeit der letzten Jahre, und er beschreibt sie ganz genau so wie alle anderen Bücher das auch tun; das ist das unheimliche daran. Mit einem Male bekommt man das Gefühl, dass eigentlich nur von dem Punkt aus, von Krise und Umsturz aus, das alles auch nur ansatzweise Sinn macht.

Zum Beispiel das Corona-Kapitel. Die meisten dieser neueren Bücher haben eins; und es steht eigentlich überall das gleiche darin. Aber bei den meisten endet die Darstellung des völlig zerrütteten Vertrauens in die Führung gewissermassen blind; Folgerungen verbieten sich die Autoren. „In China gibt es keine Wahrheit und kein Vertrauen“, hört man die Chinesen sagen; aber man sieht sie auch mit einer bisher ungekannten Erbitterung in einen Kleinkrieg mit den Internetzensoren eintreten. Kann man, was Menschen denken und sagen, sinnvoll darstellen ohne das, was sie danach zu tun bereit sind? Jeder denkbare künftige Zustand ist eine Auflösung des gegenwärtigen Zustands, jedes denkbare Szenario der Veränderung ist plausibler als das, was ist. Das ist an sich schon kein gutes Zeichen.

Oder was hat die Verfolgung der Uighuren mit der Stabilität der Grundstückspreise zu tun? An und für sich nichts, im gegenwärtigen Zustand aber alles; der gegenwärtige Zustand verlangt unbedingt beides, und er hängt unbedingt an beidem. China ist in eine Situation hineingeraten, in der diese und andere Dinge in einem Zwangszusammenhang miteinander verknüpft sind. Dieser Zusammenhang, der den gegenwärtigen Zustand ausmacht, ist an und für sich unbegreiflich und unsichtbar. Er kommt erst zu Bewusstsein unter dem Aspekt, dass der Zwang wegfällt.

7

Aber Garside ist sich seiner Sache viel zu sicher. Er vergisst, auf die Alternative einzugehen: dass China sich auf einen Krieg wirklich einlassen, und die kaputte Ökonomie durch die Kriegswirtschaft zu sanieren versuchen könnte. Ich habe genug über den pazifischen Krieg gearbeitet, um mich bei vielen Dingen, die man heute liest, an Japan 1941 erinnert zu fühlen. Alles, was Garside annimmt, hängt daran, dass das Personal der chinesischen Staatspartei ihre privates Interesse höher ansetzt als den Bestand des Systems. Das ist nicht an sich unwahrscheinlich, wird allerdings unwahrscheinlicher, je mehr die internationale Verflechtung des Kapitals zurückgedrängt wird durch die neuerdings in die Handelspolitik wieder eingeführten Methoden; der Krieg wird wahrscheinlicher, je weiter die Methoden der Kriegswirtschaft fortschreiten. „Kritischer Zeitraum“ indeed.

Das liberale Revolutionspanorama, das Garside zeichnet, ist an sich auch nicht unplausibel; die Entscheidung, ob es soweit kommt, wird das Politbüro treffen. Ein Satz, den man gehofft hat, nie wieder zu hören; what could possibly go wrong? Ohne einen Übergang zur parlamentarischen Demokratie „können wir niemals die mächtigen Interessen überwinden, die auf jeder Ebene die ökonomischen Reformen blockieren. Wir müssen die ‚Kommandohöhen‘ der Wirtschaft, die Banken, Energieversorgung und Transportwesen öffnen, damit die dynamischen, profitablen Privatunternehmen mit den korrupten, sklerotischen Staatsunternehmen konkurrieren können“, lässt er einen der Putschisten S. 18 sagen. Garside geht davon aus, dass die inneren Reformbedürfnisse des chinesischen Kapitals an und für sich identisch sind mit demjenigen, was der Welthandel und die USA von China verlangen, das ist keine selbstverständliche Voraussetzung, sondern sozusagen eine neoklassische. Kern der Sache ist die Überkapazität der staatlichen Industrie; ob das chinesische Kapital nicht vielleicht doch versucht sein könnte, den japanischen Weg von 1941 zu gehen, ist durch sein Räsonnement nicht beweisbar. Seine neoklassische Logik hat auf die kurze Frist keine anderen zwingenden Beweisgründe als die amerikanische Nuklearwaffe.

Garside lässt auch die Geschichte aufhören, wie man sie um 1990 auch aufhören hat sehen, und es gibt überhaupt keine Garantie, dass es so bleibt. Wie werden sich die Arbeiter verhalten? Das Ende der Herrschaft der Partei wäre nur der Anfang jahrelanger Klassenkämpfe mit völlig ungewissem Ausgang; wenn nicht die gestürzten Parteiflügel schon von Anfang an versuchen, die Arbeiter der staatlichen Industrie, die sich vor der Privatierung fürchten müssen, gegen die Ansprüche der veränderungswilligen Teile der Arbeiterschaft zu mobilisieren. Bo Xilai und Zhou Yongkan haben vor zehn Jahren vorgemacht, wie so etwas aussieht, es gibt keinen Grund, anzunehmen, dass es nicht öfter versucht werden wird.

Die Revolution in China kann dann leicht denselben Verlauf nehmen, den die syrische Revolution genommen hat. Vielleicht aber ist es auch das Rückspiel? Und das Rückspiel für 1990. Vielleicht übernehmen ja diesmal die Arbeiter die Fabriken, vielleicht wird ja diesmal „die Staatmaschine zerschlagen“, vielleicht reisst ja diesmal der Gesamtprozess dieser Gesellschaftsordnung in Stücke? Man ist aber nicht Hegelianer, dass man an solche Homöostasis der Geschichte glauben könnte. Sondern es wird alles schlimme passieren, das passieren kann.

„Bis die Krise kommt, dauert es länger, als man denkt; und dann geschieht sie schneller, als man gedacht hätte“, habe ich irgendwo neurdings gelesen, in einem Artikel über den chinesischen Immobilienmarkt. Und es kann gut geschehen, dass es genau andersherum kommt, als Garside es sich denkt; dass China auf die altmodische Methode zurückgreift, nach der man früher in Europa Bilanzen bereinigt hat; es gibt auf der Welt genug andere Regime, die sich gerne als Verbündete andienen und denen nach einem neuen 2008 auch nur noch mit Methoden der Kriegswirtschaft geholfen werden kann. Und gilt das nicht eigentlich auch für den „Westen“?

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