„Syrianization“

Vor Jahren hat Yasin al-Haj Saleh das Wort „Syrianization of th world“ geprägt. Der syrische Krieg, die Niederschlagung der syrischen Revolution werde dem Verlauf der kommenden Geschichte ihren Stempel aufdrücken. Die Welt hat die syrische Revolution im Stich gelassen, sie hat ihre Niederschlagung hingenommen (die Fassbomben, die Städtebelagerungen, den Artilleriebeschuss, die Aushungerung, das Sarin). Sie hat nicht nur so getan, als ginge es um „innere Angelegenheiten“; nein, sie hat dankbar die Lüge geglaubt von der abwechselns islamistischen oder imperialistischen Verschwörung, die hier niedergeschlagen werden müsste.

Je gewaltsamer die Konterrevolution, desto mehr musste die unplausible Lüge eingehämmert werden. Sie deformiert das Denken. Die stumpfe Wiederholung der Greuel erzeugt eine passive Gewöhnung. Eine Gleichgültigkeit kann aber, egal was die Bürger sich erhofft haben, niemals eintreten. Man konnte nicht einfach tun, als existierte das alles nicht. Wer es ignorieren wollte, musste sich und andere belügen; musste mittun.

Die „Syrianization of the world“ ist der Eintritt in eine Epoche, in der dieses und ähnliches geschehen kann und ständig geschehen wird. Wir erleben es täglich und werden noch mehr erleben.

Diejenigen, die sich damals belogen haben, haben mit dem Finger vage in die Richtung der Gotteskrieger gezeigt: schaut her, es sind also doch alles Islamisten. Sie haben angestrengt so getan, als wäre die syrische Opposition nichts anderes als al Nusra und Daesh. Aber wo die syrische Revolution heute noch nicht von Assads Waffen unterworfen ist, sieht man den Widerstand gegen al Nusrah noch heute, wenn man ihn denn sehen will.

Dieselben, die uns zuerst erzählt haben: die Proteste sind aus dem Westen gesteuert, haben uns danach erzählt: Amerika bezahlt und bewaffnet die FSA. Diese Lüge ist leicht zurückzuverfolgen zu einer gewissen Regionalmacht, die gleichzeitig Marionettenarmeen in Luhansk und Donetsk aufbaute und unmarkierte Uniformierte auf der Krim kommandierte. Aber geglaubt wurde die Lüge dankbar.

Die FSA, die ganz offensichtlich von niemandem bezahlt und bewaffnet worden war, ging sehr bald ruhmlos unter und wurde verdrängt von al Nusrah, die ganz offen von Qatar und der Türkei unterstützt worden ist, und später Daesh. Niemand kümmerte sich um das Geschwätz von gestern, und jetzt hatte man den Vorwand, zu sagen: schaut hin, etc.

Dass es in Syrien überhaupt so weit gekommen ist, dass die Islamisten den Gang der Dinge zumindestens militärisch beherrschten, ist eine Katastrophe. Alle die, denen die Revolution am Herzen liegt, hätten gut daran getan, hinzusehen. Jede heutige Revolution kann in eine ähnliche Richtung gehen; die Islamisten sind eine lokale Variante des Faschismus, aber vergleichbares wird sich überall zusammenfinden. (Ist das ein Argument gegen die Revolution? Man macht Revolutionen nicht aus Lust und Laune, sie geschehen nur da, wo sie unvermeidbar geworden sind, und sie kümmern sich wenig um Argumente. Wer anderes glaubt, soll einmal versuchen, durch Argumente eine herbeizuführen. Ich wüsste auch Argumente z.B. gegen die Schwerkraft. )

Das Zeitalter, in dem wir jetzt leben, ist duch den syrischen Krieg eröffnet worden. Alles, was dort geschehen ist, wird auch anderswo geschehen, der Reihe nach und immer wieder. Und die Bürger als blosse Beobachter sind darauf reduziert, unter den angebotenen Reaktionen diejenige auszuwählen, die am ehesten dem entspricht, was für Menschen sie gerne wären.

Wem von der Belagerung von Ghoutah nichts hören wollte, kann sich heute über die Belagerung von Rafah empört zeigen. Wer al Nusrah für ein Argument gegen die syrische Revolution hielt, kann heute die Schultern zucken, wenn es um den 7.Oktober letzten Jahres geht, und sagen: So sieht Dekolonisierung eben aus. Wer vor zehn Jahren Assad für einen grossen Staatsmann gehalten hat, kann heute Netanyahu für einen Schlächter halten.

Früher warf man der Gegenseite vor, Morde gegeneinander aufzurechnen, heute rechnet man noch nicht einmal mehr auf. Es wird geredet, als ob das alles gar nicht stattfände. (Die Dinge vor zehn Jahren sind sowieso vergessen.)

Künftige Historiker werden einmal an diesem Zeitalter studieren, wie aus niedergeschlagnen Revolutionen die Materie für Weltkriege entsteht. Der Zyklus von 2010 rächt sich. Es hätte alles anders sein können.

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