Im 1011. Tag des dreitägigen militärischen Vorstoßes der russischen Streitkräfte nach Kyiv passieren interessante Sachen. Halten wir sie kurz unter dem Vorbehalt fest, dass sie über Nacht bereits ganz anders sind. So was ist bekanntlich arg undankbar.
Am 21. November hat Russland die Produktionshallen von „Juschmasch“ in Dnipro mit einer Mittelstreckenrakete des Typs „Oreschnik“ angegriffen. So eine Rakete wird von Russland zum ersten Mal seit 36 Jahren eingesetzt. Der Einsatz hat allerdings weder die gegnerische Seite noch die eigenen Gefolgschaft beeindruckt: so neuartig ist die Rakete nicht, sondern aus den älteren Modellen zusammengebaut, vielmehr sind es die Satellitenbilder der vermeintlichen Schäden von „Juschmasch“, die beide Seiten „enttäuschten“. (Tief beeindruckt war anscheinend nur Scholz). Der chronisch fehlinformierte Putin spricht bereits von „Spaltung in Elementarteilchen“ und davon, dass bereits „der kinetische Einschlag gewaltig wie ein Meteoriteneinschlag“ sei und dass neue Angriffe auf Kyiv erfolgen könnten. Die Warnung ist jedenfalls ernst zu nehmen, immerhin konnte die ukrainische Luftabwehr die „Oreschnik“ nicht abfangen. Wie es im besser verteidigten Kyiv aussehen würde, würde mal lieber gar nicht herausfinden wollen, wird es aber eines Tagen tun müssen.
Denn damit gibt es ein Problem. In der kalten Jahreszeit greift Russland bekanntlich die zivile Infrastruktur der Ukraine an. Das stellt einen Akt des Terrors gegen die ukrainische Zivilbevölkerung und somit ein Kriegsverbrechen dar. Neu ist das nicht, die ukrainische Luftabwehr ist bereits den dritten Winter in Folge damit überfordert. Die vielgepriesene dezentrale und halbwegs demokratische (man möge mir dieses Wort verzeihen) „Kommando- und Fehlerkultur“ des ukrainischen Militärs unter Saluschnyj, die viele am Anfang des Krieges begeisterte, ist teilweise verfallen und zugunsten der gewohnten Entscheidungs- und Informationsweitergabe-Pyramiden abgebaut worden. Was vermutlich dazu führte, dass Kyiv lange Zeit über die äußerst kritische Lage am Donezker Frontabschnitt nicht im Bilde war. Das Problem ist vermutlich prinzipieller Art: das sind die ureigensten Probleme einer staatlichen Organisation bzw. eines neuzeitlichen stehenden Heeres. Bleibt es dabei, stehen sich hier zwei organisatorisch prinzipiell gleichen Heere gegenüber, bloß das russische ist in diesem Fall das größere und stärkere, d.h. die Ukraine hat keine Chance. Berichte von massenhafter Desertation und massivem Menschenmangel auf beiden Seiten sprechen dafür. Das Problem scheint langsam erkannt worden zu sein: mitten in der schweren Krise tauscht die ukrainische Führung die Generäle aus. Ein Lichtblick für den Winter ist, dass sich wenigstens Russland treu bleibt: auch hier werden Führungskader ausgetauscht und der stellvertretende Oberhaupt der Landesstreitkräfte ist General Muradow geworden, der wegen seiner katastrophalen Uhledar-Kampagne im letzten Winter sogar von der Z-Öffentlichkeit als „feige Bitch“ und „Metzger“ bezeichnet wird. Wünschen wir ihm weitere „Erfolge“ dieser Art!
Zwar ist die ukrainische Offensive bei Kursk nicht direkt für die bröckelnde Front am Donezker Frontabschnitt verantwortlich, aber sie scheint momentan auch nicht viel zu bringen. Beide Seiten preschen (fast im wörtlichen Sinne) an einander vorbei und spekulieren auf Trumps Inauguration Ende Januar, so absurd ist das Weltwetter heute. Sudscha kann für die Ukraine noch zum Verhandlungskapital werden. Der künftige Sondergesandter Kellog scheint einen Plan zu haben, Selenskyj signalisiert Bereitschaft für eine „land for peace“-Lösung. Zwar bin ich der Meinung, dass die Großmacht beide Seiten enttäuschen wird, lasse mich immer eines Besseren belehren. Mich würde vielmehr interessieren, wie die beiden Gesellschaften zu so einer Lösung stünden (egal, wie sie konkret aussehen würde). Ich kann mir schwer vorstellen, dass die blutberauschte Z-Öffentlichkeit es akzeptieren wird, dass „das alles“ nur für den zermalmten Donbass und die ramponierte Krim gewesen sein soll. „Das alles“ heißt u.A. eine komplett zerrüttete Gesellschaft, für die dieser Krieg immer noch nicht zu einem „vaterländischen“ geworden ist, die ihn aber weitgehend ohne nennenswertes Mucksen erträgt; ein tiefes demographisches Loch; akut werdende Konflikte zwischen verschiedenen Rackets (die zu Konflikten zwischen föderierten Teilrepubliken eskalieren können); eine schwer angeschlagene Wirtschaft, deren Trägheit man trotzdem nicht unterschätzen sollte. Eine gute Sache dabei: es ist viel Platz in den Gefängnissen frei geworden, da kann die besagte Z-Öffentlichkeit im Zweifelsfall auch hin. Beste Grüße an den Strelkow-Girkin!
Russland (Selbst-)Bild wird z.Z. auch in Syrien ramponiert. Die syrische Armee hat nach der weniger als zwei Tagen Aleppo an Jihadisten der Miliz Haiʾat Tahrir asch-Scham verloren. Das russische Sonderkontingent in Syrien dient seit geraumer Zeit als eine Kurort bzw. Abstellgleis für erfolglose Generäle, die von der sog. „Spezialoperation“ in der Ukraine abkommandiert wurden. Man schafft zwar, den anrückenden Jihadisten schwere Verluste durch Bombardements aus der Luft zuzufügen, verliert aber am Boden, weil die demotivierte syrische Armee flieht und die russische Luftwaffe warum auch immer nur stationäre Ziele angreifen kann. Mittlerweile wird bereits in Damaskus gekämpft. Noch lässt sich nicht Bestimmtes sagen, ebenso wenig warum die Türkei gerade dem russischen „Partner“ in die Stiefel pisst – außer, dass Assad is serously fucked und Russland einige Ressourcen von der ukrainischen Front abziehen müsste, um Assad zu helfen, und beide die schon länder vorbereitete Offensive der Jihadisten verpennt hatten. In ein paar Stunden wird das alles wohl noch mal ganz anders aussehen, man beachte aber eine Sache: HTS waren wohl die einzigen, die sich mit großer Aufmerksamkeit die TikToks von den ukrainischen Schlachtfeldern reingezogen hatten – dem geschickten Einsatz von FPV-Drohnen hatten die assadtreuen Kräfte null entgegenzusetzen. And for fucks sake, man höre doch bitte auf, die Jihadisten als „Opposition“ zu bezeichnen.
In Georgien gehen derzeit Menschen auf die Straße und legen sich mit der Polizei an. Der Hintergrund ist, dass die prorussische Partei „Der georgische Traum“ die sog. Eurointegration bis 2028 aussetzen wollte. Es fiel bereits Ende April die Drohung, dass der Oligarch Iwanischwili, der hinter der Partei steht, nicht Janukowitsch sei, d.h. er würde nicht so schnell aufgeben und fliehen. Die Gesetze gegen sog. „ausländische Agenten“ nach dem russischen Vorbild, die so schwammig sind, dass sie absolut beliebig gegen Unerwünschte im Land angewandt werden können, gab es auch in der Ukraine vor der „spontanen – ahäm! – Selbstentzündung“ auf dem Maidan 2014, sie haben Janukowitsch damals nicht viel genützt. Das belarussische Szenario von 2020 und das kasachische von 2022 gibt es auch als Option, just sayin‘.
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Zum Schluss, ihr wisst das alles bereits: helft, den zivilgesellschaftlichen Initiativen, den paramilitärischen und militärischen Verbänden in der Ukraine (es gibt auch Veteraninenorganisationen btw.), den eingeknasteten GenossenInnen in Russland, Belarus und sonst wo, den Selbstverwaltungszentren in Syrien. Ausgerechnet jetzt, wo es so finster und hoffnungslos ist. Widerruft wenigstens öffentlichkeitswirksam euren linksradikalen KDV für moralische Pluspunkte, wenn es nicht anders geht, schreibt tweets, wie euch die aktuelle Weltwetterlage das Herz zerreißt. Hauptsach‘ für die Sach‘. Stay tuned.
– spf