Jan Wacław Machajskis „Sozialismus und Intelligenz“

Droogs, meine Wenigkeit ist immer noch der Meinung, dass unsereiner besser und klüger über Jan Wacław Machajski (1866-1926) reden und schreiben können, dass er vor allem besseres verdient hätte als solche, jeglicher Kritik am Antiintellektualismus spottende „Nachrufe“ wie bei der „konkret“. Vielleicht tun wir das mal bei Gelegenheit. Lasst euch aber auch von Wikipedia keinen Scheiß erzählen, ein Anarchist war er nicht, er kam aus der Josef Pilsudskis Polnischen Sozialistischen Partei.

Die einzig diskutable Scherbentheorie m.E. wäre eine, die einen marxistischen Antimarxismus, einen anarchistischen Antiannarchismus und einen intellektuellen Antiintellektualismus zusammenführt. Kann sein, dass uns Machajski unter Umständen dahin verhelfen könnte. Nicht, dass ich an dieser Stelle zu pol-pot‘scher old ultraviolence gegen bücherlesende und brillentragende Menschen, aber… es finden sich in der Anarcho-Bibliothek die beiden 2008 übersetzen Kapitel aus „Der geistige Arbeiter“.

https://anarchistischebibliothek.org/library/jan-waclaw-machajski-sozialismus-und-intelligenz

Und nun, droogs, noch eine Kleinigkeit. Für meine Begriffe fehlt uns allen, um etwas glücklicher zu werden, der II. Teil von „Der geistige Arbeiter“ – eben der Teil mit marxologischer Kritik an staatskapitalistischen Auffassungen von Rodbertus und Marx selbst; auf den ersten Teil über die Evolution der deutschen (und ein bisschen der polnischen) Sozialdemokratie und die erste Abteilung des dritten Teils, wo es explizit um die russischen Sozialdemokraten (in erster Linie Plechanow – für Lenin war es damals noch zu früh, aber auch der Kropotkinkreis bekommt sein Fett weg, keine Sorge) geht, kann man m.E. heute getrost verzichten. Vielleicht würde es das Gesamtwerk Machajskis seines wichtigen Hintergrundes berauben: der damalige Streit zwischen allen möglichen revolutionären Richtungen ging darum, ob in Russland der Sozialismus ohne eine umfassende vorhergehende kapitalistische Modernisierung überhaupt gelingen kann. Plechanow sagt das, Kropotkin sagte dies, Machajski war der Meinung, dass sie auf die jeweils unterschiedliche Weise dasselbe sagten: Nein, kann nicht, aber nur wir kennen den besseren Weg (nur für uns, versteht sich). So viel sei an dieser Stelle verraten. Aber ist es wichtig, droogs, will das jemand lesen?

Also, die Hälfte des Jobs ist erledigt. Wer kann und traut sich, die andere, weit schwierigere, weil marxologische Hälfte anzugehen?

-spf

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Würzburg 10.9.: Clemens Schimmele

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Eine Anmerkung zum Begriff des Ekels

[Hmm, ein etwas in Vergessenheit gefallenes Artikelchen aus dem Heft#11, 2016. Da die Anlässe dazu immer noch gegebn sind, wird es hier nachgeschmissen in der Hoffnung, das der Autor nichts dagegen hat. Enjoy. – das GT]

von David Ricard

„Donald Trump, der skurrile Liebling der Hardcore-Republikaner, könnte mit seinen ekligen Parolen locker bei Pegida mitmarschieren.“

— Jörg Quoos, Berliner Morgenpost, 25.10.2105

„Die Bürger würden ein strengeres Vorgehen indes befürworten: ’Es ist eklig, wenn die Straßen voll von Zigarettenstummeln sind‘, beschwert sich die 18-jährige Katharina Rüderbei einer LN-Umfrage in Lübeck.“

— ln-online.de, 7.10.2015

„Sie sind eklig zu bespielen, ein unangenehmer Gegner. Es wird ein Kampfspiel werden.“

— liga3-online.de, 23.10.2015

Völlig verschiedene Szenen. Einmal rümpft sich Jörg Quoos über Donald Trump die Nase und gibt zu verstehen, dass seine Parolen so eklig seien das er bei Pegida sich einreihen könnte.* Eine 18-jährige beschwert sich über weggeworfene Zigarettenstummel auf der Straße, sie empfindet diese als eklig. Ein Fußballspieler rechtfertigt einen harten Zweikampf, nennt ihn eklig. Völlig beliebige Situationen, die nur eint den Ekel vor etwas zu empfinden.

Was ist denn überhaupt eklig? Oder besser: Was kann überhaupt Ekel hervorrufen? Scheinbar kann der Ekel an beliebig vielen Objekten erfahren werden. Man findet Neonazis so eklig wie man als Kind Gemüse eklig fand. Es fällt auf, dass den Ekel immer noch etwas anderes stillschweigend begleitet. Die Sache, die ein Ekel erzeugt, muss auch gebändigt werden. Der Fußballspieler weiß, wenn er sagt, dass es eklig wird, dass er durch den Schiedsrichter bestraft zu werden droht. Wenn sich die Frau über weggeworfene Zigarettenreste beschwert, fordert sie gleichzeitig höhere Bußgeldstrafen. Und wenn Jörg Quoos die Parolen eines Donald Trump eklig findet und ihn der Pegida-Bewegung zuordnet, dann weiß er, dass Pegida nicht restlos gesellschaftlichen Rückhalt genießt und möchte Trump diskreditieren.

Eine Sache eklig zu nennen, fordert also auch nach Strafe oder Züchtigung. Doch wer soll die Strafe eigentlich durchsetzen? Es ist auffällig, dass dabei gar keine Institution, so sinnfrei es ist, explizit angerufen wird. Trump soll der Mund verboten, auch sollen härtere Strafen gegen ’Umweltverschmutzer‘ gefunden werden. Weiterlesen

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Akkumulation und Krise

als Vorbereitung zu einem neuen Anlauf

1. Die materialistische Beschreibung der kapitalistischen Akkumulation hat zu ihrem Kernstück die Lehre von der Profitrate im dritten Band des Kapitals. Diese Beschreibung ist von den Marxisten so gut wie nicht rezipiert worden, sondern nach Belieben ergänzt, ersetzt oder zur Unkenntlichkeit verdorben, unter dem Vorwand, sie wäre unvollständig. Dabei ist sie so vollständig, wie man es sich nur wünschen kann; sie eignet sich nur nicht zu einer Herrschaftswissenschaft. Sie hat Grundannahmen, die nicht zu Unrecht als metaphysisch kritisiert worden sind; das heisst, ist „wahr“ nur unter ganz bestimmten Voraussetzungen.

2. Die Marxisten haben die Untersuchung der kapitalistischen Preisform völlig missverstanden. Zum Beweis bezeichnen sie sie als „Transformation der Werte in Preise“. Hier transformiert sich in Wahrheit gar nichts, und weil sie das bemerken, haben sie sich neue Rechenmethoden ausgedacht, wie man diese Transformation trotzdem zuwege bekommt. Aber hier soll gar nichts transformieren, sondern hier soll gezeigt werden, was die kapitalistische Preisbildung mit der Ausbeutungsbeziehnung macht. Man stelle sich mehrere Sektoren der Ökonomie vor, die ihre Produkte gegeneinander austauschen. Sie unterscheiden sich nach dem Grad, in dem sie menschliche Arbeit durch Maschine ersetzen. Zuletzt berechnen sie ihre Preise, nach ihren Kosten plus der allgemeinen Profitrate. Daraus folgt zwingend: der höher maschinisierte Sektor eignet sich unter der Form des gewöhnlichen Profits einen Teil des Mehrwerts an, der im geringer maschinisierten Sektor erzeugt worden ist.

Anmerkung: Hierin ist in perspektivischer Verkürzung alles enthalten, was diese Produktionsweise ausmacht. Alle Marxologie, die an diesem Punkt achtlos vorbeigeht, ist in Metaphysik zurückgefallen. Umgekehrt ist der Versuch, diesem Raisonnement die Metaphysik auszutreiben, zum Positivismus verurteilt (siehe später über Sraffa). Der Anschein der Metaphysik kommt daher, dass die Materie gesellschaftlicher Herrschaft in die Formen der Ökonomie eingewickelt ist. Sie dort herauszuwickeln, ist eine grundlegend anti-metaphysische, d.h. materialistische Arbeit, zu der man die Probleme der Metaphysik allerdings verstehen und als elementar gesellschaftliche Fragen benennen können muss.

3. Ob diese Sätze „richtig“ sein können, hängt allein davon ab, ob den Begriffen Mehrwert, Wertgrösse, Wertsubstanz irgendeine „gegenständliche Realität zukommt.“ Hier liegt der Angelpunkt an der marxischen Lehre. Diese Begriffe sind nur andere Namen für das Wesen des Reichtum aller bisherigen Gesellschaft: Herrschaft über das gesellschaftliche Arbeit, d.h. über gesellschaftliche Praxis. „Ausbeuten und Herrschen sind ein- und dasselbe“ (Bakunin), der Hauptsatz an der Kritik der politischen Ökonomie und ihre ganze Pointe. Diese Pointe ist diese, dass der Gegenstand der ökonomischen Betrachtung selbst keine bloss ökonomische Tatsache ist, sondern eine gesellschaftliche. Wenn das nicht verstanden ist, bleibt vom Marxismus nur eins von beidem: entweder ein umständlicherer Weg zur Neoklassik, wie ihn z.B: Sraffa gegangen ist. Oder die mystische Annahme, dass die Bewegung der Waren beherrscht wird nicht einfach von ihren Preisen, sondern von einem obskuren System von „Wertgrössen“, die hinter den Preisen einerseits komplett verborgen sind, andererseits aber selbstständig wirkend neben sie treten. Diese Mystik ist längst der neoklassischen Kritik verfallen (Samuelson), statt dass der Marxismus die Neoklassik in die Krise bringt. Und zwar völlig unnütz: denn niemand ausser der eigne Unverstand hat die Marxisten geheissen, solchen Blödsinn zu denken.

4. Die Marxisten haben früh aufgehört, diese Dinge zu verstehen. Manche sagen, sie haben sie nie verstanden. Sie haben stattdessen angefangen, die Kritik der politischen Ökonomie zu verhunzen. Sie haben Ende des 19. Jahrhunderts einen anscheinend neuen Zustand vorgefunden, den sie in der so beschriebenen Gesellschaft nicht mehr erkennen mochten. Wenn sie Recht hatten, war die marx’sche Lehre widerlegt und musste aufgegeben werden. Sie haben das aber nicht offen ausgesprochen. Stattdessen haben sie neue Elemente eingefügt („Monopole“), die das „Wertgesetz“ wiederum auf eine andere Weise „modifizieren“, so dass sich die vorgefundene Realität beschreiben liess. Es liesse sich damit aber jede andere Realität beschreiben, ohne sie zu begreifen; und vor allem ist damit das „Wertgesetz“ eigentlich beseitigt, es verliert jede Erklärungskraft und wird nicht mehr benötigt. Von der Lehre Hilferdings und Lenins an haben alle diese Marx-Verbesserungen die Sache immer schlimmer gemacht. Sie haben erstens den Nachteil, dass sie viel mehr zusätzliche Annahmen (bewegliche Teile) erfordern; diese Annahmen können und müssen bei Bedarf jederzeit modifiziert werden. Sie haben zweitens den Nachteil, dass sie dazu neigen, den ursprünglichen Ansatz der Kritik der politischen Ökonomie durchzustreichen oder auszuhöhlen.

5. Rosa Luxemburg hat es als einzige unternommen, den neuen Zustand, den Imperialismus, als den Marx’schen Begriffen selbst zu beschreiben. Das Unverständnis, auf das ihre Arbeit gestossen ist, gibt genau das Mass ab, in dem die Marxisten Marx nicht mehr verstanden haben. Dass Rosa Luxemburg Recht hatte, heisst also nicht, dass Marx „modifiziert“ werden müsste. Im Gegenteil haben ihn die modifizieren müssen, die mit Rosa Luxemburg nicht einverstanden waren. Das „Geheimnis der Akkumulation“ hat Rosa Luxemburg nicht entdeckt, es ist wahr; sie hat es nur als letzte beschrieben. Dieses Geheimnis hatten die „Marxisten“ die ganze Zeit unter der Nase und haben es nicht erkannt.

Anmerkung: Das zwanzigste Jahrhundert hat die marxistischen Begriffe derart auf den Hund kommen lassen, dass auf den Namen „Luxemburg“ reflexhaft von „Unterkonsumtionstheorie“ gefaselt wird. Dieser stehen säuberlich sortiert die „Überproduktionstheorien“ und die „Überakkumulationstheorien“ gegenüber. Man sieht es der säuberlichen Sortierung an, dass sie auswendig gelernt ist, und zwar aus einer Literatur, die für Leute geschrieben ist, die nicht begreifen, sondern auswendig lernen wollen. 95% der marxistischen Literatur sind verdummender Müll.

6. Die kapitalistische Produktionsweise ist nicht alt, sie hat keine tiefen historischen Wurzeln, keine „kulturell“ bestimmte Vorgeschichte. Sie kommt nicht aus der britischen Landwirtschaft (trotz Smith und der Brenner-Debatte), ihre Entstehung beruht nicht auf der Dampfmaschine, und sie ist nicht aus Freihandel und Marktwirtschaft entstanden und erst später zu Schutzzoll und Imperialismus entartet. „Warum“ sie an einem bestimmten Ort entstanden ist und nicht an einem anderen, ist banal. Sie ist in den 1780ern in England entstanden, weil sie wegen einer politischen und weltwirtschaftlichen Anomalie sich auf einmal lohnte, und vorher nicht. Diese Konstellation hätte genausogut auch bloss voräbergehend sein können. Ob so etwas vorher schon ausprobiert worden ist, wissen wir nicht; wenn ja, hat es keine identifzierbaren Spuren hinterlassen. Die ersten kapitalistischen Fabrikanten haben mit billiger Arbeit, mit billigen Maschinen auf billigem Boden Textil hergestellt, das schlechter, aber billiger war als jedes andere. Die britische Macht in Indien hat durch ihre Zollpolitik einen Markt dafür geschaffen. Die Ware war nur dadurch so billig, dass sie die eingesessene indische Weberei vernichtet hat. Erst ein halbes Jahrhundert später haben diese Fabrikanten angefangen, moderne Maschinen anzuschaffen, darunter den Watt-Motor. Damit erst dehnt sich die kapitalistische Produktionsweise auf eine andere Branche aus, nämlich den Maschinenbau. Gleichzeitig drückte sie das ruinierte Bengalen zum Agrarland und Exporteur billigen Rohstoffs herab. Damit erst beginnt sie, ihre eigenen Voraussetzungen zu produzieren, und zeigt an, dass sie nicht nur vorübergehend da ist. Das ist der historische Hintergrund, ohne den kein Wort des „Kapital“ verstanden werden kann, und der vollkommen vergessen worden ist.

7.
Schlechtes britisches Tuch, weil es billiger war, verdrängte besseres indisches Tuch vom Markt. Nicht nur das, es warf auch höhere Profite ab, obwohl es billiger war. Dabei war weniger menschliche Arbeit darin vergegenständlicht. Die Fabrikanten realisierten also einen weit höheren Profit, als sie an Mehrwert hatten produzieren lassen. Im Vergleich tauscht sich also eine Stunde menschlicher Arbeit in dem einen Gewerbe (und dem einen Land) gegen mehr als eine Stunde menschlicher Arbeit in einem anderen Gewerbe (und einem anderen Land) aus. (Man könnte auch sagen: kommandiert mehr als eine etc.) Von diesem Sachverhalt gehen alle logischen und philosophischen Spitzfindigkeiten des „Kapital“ aus, und ebenso alle Widerlegung der klassischen Ökonomie, die sich keinen Reim darauf machen konnte. Die so erzielten Profite ermöglichte eine Gesellschaft, wie es sie nie vorher gegeben hatte: die ökonomischen Träume des Aufklärungszeitalter gingen auf eine Art in Erfüllung, in der es sie selbst nicht wiedererkannt hätte. Es hatte zwar eine allgemeine Profitrate postuliert, das Band, das das Gemeinwesen der freien und gleichen Besitzenden zusammenhält, aber es hatte selbst gar keine gekannt, und wusste auch nicht, wie es dazu kommen sollte.

Anmerkung: Der Gegensatz zwischen der historischen und der logischen Lesart des „Kapital“ gehört der metaphysischen Wiederaneignung des Marxismus an. Sie ist ein Axiom des neueren Hegel-Marxismus der „Neuen Marx-Lektüre“. Diese Schule ist so gut wie jede andere marxistische Schule, d.h. weit unterhalb des Niveaus ihres Gegenstands. Jede dieser Schulen wird so lange bestehen wie das gesellschaftliche Bedürfnis, das sie erfüllt.

8.
Zwischen den kapitalistisch und den vorkapitalistisch produzierenden Branchen findet das selbe Verhältnis statt wie zwischen einem kapitalistisch und einem vorkapitalistisch produzierendem Land, nur dass im letzteren Fall eine Aussenhandelsbilanz dazwischentritt. Die Ausgleichung der Profitraten, die unter der Gewerbefreiheit notwendig eintritt, umfasst nur jeweils dasselbe Land. Eine internationale Profitrate bildet sich nicht. Die Aussaugung des arbeitsintensiveren Sektors, der Grundstoff- und Agrarproduktion, durch den höher technisierten verstetigt sich deshalb. Innerhalb der herrschenden Ökonomie zerstört die steigende Profitrate die Betriebe und Sektoren, die diese Profitrate nicht tragen können. In der beherrschten stösst die niedrigere Profitrate Investitionen ab. Der Wechselkurs und die Kaufkraftdifferenzen ergeben sich aus diesem Verhältnis und verstetigen es. Die Profitraten der einzelnen Nationen zeigen an, an welcher Stelle sie im internationalen Ausbeutungszusammenhang stehen. Seit Beginn des kapitalistischen Zeitalters zeigt sich eine vollständige Revolution der Preise, zu Lasten der grundstoffproduzierenden Sektoren und zu Gunsten der Fertigwaren. Diese Verschiebung zeigt das Mass der Unterwerfung des einen Sektors unter den anderen, Voraussetzung und gleichzeitig Folge des spezifisch kapitalistischen Ausbeutungssystems. Die Mehrwerte des unterworfnen Sektors werden realisiert als Profite in dem herrschenden. Diese Gedanken sind ebenso einfach wie marxisch; die gegenwärtige Realität lässt sich mit ihnen vollständig abbilden. Voraussetzung ist allerdings, dass man den Inhalt dieser Begriffe vom Reichtum nicht vergisst: wir reden von Herrschaft, sie ist der Inhalt der ökonomischen Formen.


Anmerkung: Engels hat irgendwo bemerkt, dass keine marxistische Partei ein vernünftiges Agrarprogramm zustandegebracht hat, mit Ausnahme einer kleinen französischen. Die landwirtschaftliche Ahnungslosigkeit der Marxisten ist ihnen als einziges dauerhaft geblieben. Sie sind nie zu einer Idee vorgedrungen, was die kapitalistische Produktionsweise für die vorkapitalistischen Branchen bedeutet. Der heutige Seminarmarxismus bildet sich ein, mit dem Bd. I und dem Mehrwert schon das Ausbeutungsverhältnis in der Tasche zu haben; alles andere ist Geschwätz über eine „Totalität“, von der sie nicht wissen können, womit sie sie füllen sollen. Sie sind schlechte Operaisten: ihre Gedankenwelt besteht nur aus der Fabrik, aber selbst die kennen sie nur aus der Theorie. Die Gesellschaft ist ihnen mit dem Kapital deswegen fugenlos identisch, so dass es ihnen gar kein Rätsel mehr aufgibt, was es wohl heissen soll, dass die kapitalistische Produktionweise in einer Gesellschaft „vorherrscht“. Sie wissen mithin alles und wundern sich über gar nichts.

9.
Das kapitalistische Verhältnis hat zuerst von der Textilindustrie auf die Maschinenbau-Industrie übergegriffen, an der wiederum andere Zweige hingen, z.B. Kohle und Stahl. Später kamen Chemie und Elektor dazu und in den 1950ern Auto, Petroleum und Mikroelektronik. Das ist, was unter Langen Wellen oder Kondratieff-Zyklen gemeint ist. Ein solches Übergreifen ist nicht selbstverständlich. Es setzt voraus erstens grosse Profitmassen, die zweitens im bisherigen Sektor nicht gewinnbringend angelegt werden können; es setzt weiter voraus technische Möglichkeiten, die bestehen, aber bisher nicht produktiv genutzt werden. Vor allem aber setzt es voraus, dass das ganze System der gesellschaftlichen Bedürfnisse neu konfiguriert werden kann. Die Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise z.B. zerstört ganze Branchen, ganze Teile der Gesellschaft, wie die indische Weberei; sie kann aber nur expandieren, wenn es gelingt, die Trümmer sich wieder zu assimilieren, z.B. die Nachkommen der Weber zu Baumwollanbauern herabzudrücken und ihnen fertige Textilien für ihren Rohstoff zu verkaufen. Der Übergang zum Auto zeigt sehr deutlich, dass die Voraussetzung für einen neuen, profitablen Zyklus die vollständige Umkonfiguration der Gesellschaft ist, allein damit sie das neue Produkt aufnehmen kann. Gelingt das nicht, dann reicht auch die schönste neue Technik nicht aus, um das Sinken der Profitraten in den bestehenden Sektoren auszugleichen. Und nichts garantiert, dass es gelingt.

10.
Es hat seit Beginn des kapitalistischen Zeitalters keine „Systemalternative“ gegeben. Namentlich der sowjetische Sozialismus zeigt sich bei näherem Hinsehn als rein kapitalistisches System, mit dem Staat als Kapitalisten. Unter Lenin ist dies auch zugegeben worden. Der „sozialistische Aufbau“ unter Stalin folgt der Maxime Preobrazhenskys, dass die sozialistische Akkumulation mit den Bauern genauso umzuspringen habe wie die Briten mit Indien. Das sowjetische System, und alle, die ihm folgten, haben gezielt und gesteuert nachvollzogen, was den Briten schon ebenso gezielt und gesteuert das Kaiserreich Japan nachgemacht hatte. Das sowjetische Modell fällt unter den kapitalistischen System nicht weiter auf; es gibt nichts darüber zu sagen, was nicht für den Kapitalismus insgesamt gilt. Von den einfachen marxischen Begriffen aus gibt es hier gar kein Vertun. Und genau deshalb, weil sie das auf gar keinen Fall verstehen wollen, haben die heutigen Marxisten keine Chance mehr, diese einfachen Begriffe noch zu verstehen oder je wieder zu lernen. Oder aber man fängt von vorne an.

Anmerkung: Die „marxistische“ Literatur über die Sowjetunion besteht zur Hälfte aus absichtlichen Mystifikationen, und zur anderen Hälfte aus Unwissen. Diese beiden Elemente sind ein fast untrennbares Amalgam eingegangen. Das schönste Anschauungsbeispiel ist die Literatur über Trotzki. Man kann Jahrzehnte mit dieser Literatur verbringen, ohne jemals zu erfahren, warum die Anhänger Trotzkis nach 1929 scharenweise „kapitulierten“: weil Stalin angefangen hatte, ihre Politik umzusetzen. Rein der idealistischen Mondkalbs-Phantasie der Gymnasiasten entstiegen sind auch die Dinge, die man über den „Sozialismus in einem Land“ erfährt; hier wird getan, als hätte man es um einen Konflikt zwischen trauriger Realität und erhabenen Idealen zu tun statt ganz ordinär um eine Fortsetzung der Luxemburg-Debatte, die bekanntlich um die Frage ging, ob ein Land wie Russland Industrieland werden könne, ohne Kolonien zu haben.

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Veranstaltungshinweis: Konversionstour

https://de.labournet.tv/die-konversionstour-beginnt

Die Konversionstour beginnt
14 Tage- 14 Städte vom 12.-26. Juni

Die Arbeiter*innen der ex-GKN Fabrik in Campi Bisenzio bei Florenz kämpfen seit fast drei Jahren für ihre Arbeitsplätze und dafür, mit einer ökologisch sinnvollen Produktion unter Arbeiter*innenkontrolle loslegen zu können. Ihr Kampf ist wegweisend, auch für die Kolleg*innen in der deutschen Automobilindustrie, die in den nächsten Jahren mit der Umstellung auf e-Mobilität ihre Jobs verlieren werden, wenn sie sich nicht zur Wehr setzen.

Mit einer Konversionstour vom 12.-26. Juni werden Unterstützer*innen den Kampf des Fabrikkollektivs bekannter machen. Jeden Abend werden sie in einer anderen Stadt auftreten und Nachrichten aus erster Hand liefern. Außerdem haben sie ein in der besetzten Fabrik hergestelltes Lastenrad dabei. Ihr könnt das Rad probefahren und eines bestellen.

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Die Querfront der Anderen

Buchbesprechung: Gerhard Hanloser, „Die andere Querfront. Skizzen des antideutschen Betrugs“, 2019 Münster


I hear you talking but the words are kinda strange
One of us is crazy and the other one’s insane

Motörhead, „Back at the Funny Farm“

von ndejra

Eine Besprechung zum 2019 erschienenen Buch war ursprünglich fürs Heft #18 gedacht, dann ist sie unter den Tisch gefallen und vergessen worden. Ich kann mich beim besten Willen auch nicht mehr so recht erinnern, was ich in den letzten drei oder vier Jahren getrieben habe. Ich kann vielleicht nur vage meine damaligen Zweifel rekonstruieren. Erstens, zweifeln und hadern, ob die Geschichte dieser Denkschule, in die ich eher zufällig reingeschlittert bin, auch meine ist. Sagen wir mal grob, 2012 als relativ erzwungene Parteinahme im Würzburger Flüchtlingsstreit als die ganze umtriebige Bewegungslinke bis auf ein antideutsches Grüppchen versagt hat; 2016 kam meine weitgehend solidarische Haltung zum Rand als unsereiner die damalige Heilige Kuh (recht idealistische) Islamkritik eben als recht idealistische zu kritisieren. Es hat sich klar gezeigt, wer an der Kritik, die auch Selbstkritik sein muss, interessiert ist und wem es um Revierkämpfe in der Szene geht; man kann außerdem die Leute nicht für lebendig halten, die einen selbst für tot erklärt haben. Zweitens, je länger man damit wartet, desto sinnloser und gleichzeitig schwieriger darüber zu schreiben. Nun denn, mitgefangen – mitgehangen, selbst der dümmste Mitläufer denkt sich irgendwas beim Mitlaufen, die Frage ist bloß, wie nützlich ist das Gedachte. Ja, an den Zweifeln ist immer noch was dran und vielleicht liegt darin die Chance, das ganze etwas kürzer zu fassen. Ich würde es eh nicht so sorgfältig machen können, wie es z.B. das Distanz-Magazin oder Associazione delle talpe.

Es ist, zugegeben, ein „guilty pleasure“, die Zerwürfnisse der Szene wie die regelmäßig auftauchenden Kritiken an ihr zu verfolgen, doch ich kann nicht mehr behaupten, dass es irgendeine persönliche Relevanz für mich hätte. Eine Relevanz hat es offensichtlich immer wieder für den vermeintlichen Feind: immer, wenn in den eigenen „antiimperialistischen“ Reihen kracht, wie letztens in der Josephine oder im ZweiEck in Leipzig, waren es die „Antideutschen“, will das eigene Publikum nicht jeden blödsinnigen Marschbefehl akzeptieren und äußert Bedenken, haben‘s die „Antideutschen“ zerredet. Die zerreden doch immer nur den legitimen linken Widerstand im Volk, zu nichts anderem sind sie ja da. Der „Feind“ (setze ich lieber in Einführungsstriche, weil revolutionäre KommunistInnen kein Feind sein sollen) täte gut daran, in den eigenen Reihen aufzuräumen und sich neuzuformieren. Es ist längst Zeit, dasselbe etwas weniger identitär auch in unseren Reihen anzugehen. Wer weiß, vielleicht lacht man tatsächlich eines tagen zusammen darüber, was für ein Blödsinn man getrieben hatte, wie es Hanloser jüngst im „99 zu 1“ Podcast formulierte. Deswegen versuche ich, diese Buchbesprechung noch ein mal zu entstauben.

Es geht mir dabei so, wie es 2020 in einem „LeserInnenbrief“ beschrieben wurde:

Doch wir müssen euch zustimmen, wenn ihr nun argumentiert, dass das eben dargestellte keine „antideutsche Kritik“ sein kann, sondern nur die Theorieproduktion von Leuten, die sich das Label geben und wir müssen euch auch weiter zustimmen, wenn ihr uns darauf aufmerksam macht, dass die spezifischen historischen Bedingungen der antideutschen Kritik – die Zeit nach der Nachkriegszeit – weiter existieren und die „antideutsche Kritik“ der einzige Anknüpfungspunkt für deren Kritik ist, den wir im Moment haben. Waren wir uns zunächst sicher, dass wir euch euer Festhalten an diesem Label als identitären Kitsch kritisieren müssen (und das obwohl wir in der Sache kaum widersprechen können), so müssen wir uns nun die Frage stellen, ob nicht das Bedürfnis der Absage an dem und der Historisierung des Begriffs das größere identitäre Bedürfnis ist. Womit wir wieder am Anfang wären: Wir müssen uns eingestehen, dass wir mit dem was ihr bisher versucht habt als „antideutsche Kritik“ zu umreißen mehr anfangen können, als uns selbst lieb ist.

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Das Heft #20 ist erschienen

Die Anfragen können gerne an die bekannten toten Briefkästen gerichtet werden, am besten höflich ausformuliert und mit einigen Euros per PayPal begründet. Die Mausi z.B. hat  ihre Ausgabe schon erhalten.

Danke und bis dann,

euer GT.

 

 

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No one is innocent

Die internationalistischen Linke spürt, dass ihr die Perspektive der Veränderung fehlt. Die Rhetorik vom Genozid verstellt sie vollends. Die bisherige Kritik daran ist fehlgeschlagen. Niemand hat etwas gelernt, auch die Kritiker nicht.

1. Der Begriff Genozid kommt in die politische Debatte seit den 1990ern. Er geht zurück auf die Völkermordkonvention von 1951, die aber toter Buchstabe geblieben ist bis zu den jugoslawischen Kriegen. Die Diskussionen der 1990er liefen darauf hinaus, dass er eine Schutzverantwortung der „internationalen Gemeinschaft“ auslöst, d.h. das Recht und die Pflicht der Grossmächte, zu intervenieren (Bericht der Internationalen Kommission zu Intervention und Staatssouveränität, 2001). Auf diesen Linien wurde z.B. der Kosovo-Krieg begründet.

Der Begriff Genozid ist natürlich offen für Instrumentalisierung, selektive Anwendung usw. Die Linke hat das früher einmal auch kritisiert. Kritisiert wird es natürlich, wenn es gegen die eigenen Lieblingsregime geht. War der zweite Tschetschienkrieg genozidal? Die Umerziehung der Uighuren? Die Massnahmen gegen die Rohingya? Da bekommt man dann zu hören, man müsse genau hinschauen, wer das sagt und wessen Interessen das dient.

Und selbstverständlich werden ja umgekehrt solche Dinge nur zum Thema, wenn es irgendeiner Grossmacht zupass kommt. Beweis: Äthiopien. Das Vorgehen der äthiopischen Armee in Tigräa interessiert niemanden, weil Präsident Abiy keiner Grossmacht auf die Füsse tritt und keine ein Interesse hat, ihn loszuwerden.

Gäbe es eine Linke, dürfte die Stille nicht ganz so ohrenbetäubend sein. Eine solche Linke müsste auch einen Begriff von Genozid haben, der nicht fest an die Interessen der Grossmächte und ihrer Weltordnung gebunden ist. Er müsste davon ausgehen, dass die Form Staat die Wurzel des Genozids ist. Die bloss demokratischen Revolutionen der Vergangenheit haben das Problem nicht gelöst, sondern radikalisiert. Das Zeitalter des Genozids hat überhaupt erst begonnen mit dem Zeitalter der Volkssouveränität und des totalen Kriegs. Dass Staat und Volk identisch sein sollen, ist die ideologische Wurzel des Genozids.

Lemkin fand bei den Vorarbeiten zur Völkermordkonvention eine rechtliche Lage vor, in der der Genozid eigentlich zu den Souveränitätsrechten des Staats gehörte. Im Zeitalter des modernen Kriegs ist jeder einigermassen fortgeschrittene Krieg oder Bürgerkrieg von einem Genozid nicht mehr zu unterscheiden.

Einen analytischen Wert hat das Wort Genozid nicht, es macht keinen Weg auf, zu verstehen, wie die Dinge passieren, und auch nicht, wie es anders werden könnte. Es ist nur ein Appell zur Intervention, und sagt noch nicht einmal, zu Gunsten welcher politischen Kraft. Er reduziert Krieg und Bürgerkrieg auf eine Frage des internationalen Polizeirechts; es ist kein Zufall, dass er in den unipolaren 1990ern gross wurde, als von „Weltinnenpolitik“ gesprochen worden ist. Ob die „Multipolaren“ von heute voll begreifen, an was für eine Weltordnung sie mit dem Begriff appellieren, ist mir nicht klar.

2. Sie tun es auch nicht aus Überlegung. Mindestens die Hälfte ist Trotz. Die Rest-Linke grollt darüber, dass die westliche Propaganda ihnen China, Russland etc. vorhält, und ergreift dankbar die Gelegenheit, einer pro-westlichen Macht das gleiche nachzusagen. Es ist eigentlich eine sehr unpolitische Übung. Es ist eigentlich eine Art wie jede andere auch, sich in einer Welt aus Mord einzurichten.

Wenn man ihnen im Dezember oder Februar gesagt hätte, wenn du wirklich glauben würdest, dass das ein Genozid ist, müsstest du ganz andere Dinge tun, dann hätte man sie wahrscheinlich nur grummeln hören. Heute würde man sich diesen move vielleicht nicht mehr trauen; man fürchtet, sie auf Gedanken zu bringen.

Sogar die Auflösung des Palästinakongresses usw. war noch eine Gelegenheit, Partei zu ergreifen, ohne Partei zu ergreifen. Man kann gegen das Vorgehen der Behörden protestieren usw., ohne diekt Partei für die Hamas ergreifen zu müssen. Ihnen vorzuhalten, dass sie das wollten, ist unehrlich. Sie empfinden sehr genau den Mangel einer Seite, deren Partei sie ergreifen könnten, und versuchen, diese Empfindung zu übertönen.

Das kann anders werden, wenn die Proteste an den amerikanischen Universitäten sich ausweiten, u.a. nach Europa. Bei steigender Temparatur werden sich hier Gelegenheiten finden, bei denen Aussichtslosigkeit in Wahn umschlägt. Der genannte Mangel drängt auf eine illusorische Kompensation, und die Aussicht auf „Studentenproteste“ ist für die machtlose Linke eine grosse Verführung. Es klingt so schön nach 1968.

Man wird hier sehen, wie bei vielen Bedenken in den Wind geschlagen werden. Der Vorgang wird denen völlig entgehen, die nicht wahrhaben wollen, dass es diese Bedenken reell jemals gab. Ihre daraufhin fällige Kritik wird, weil sie nicht treffen wird, auf taube Ohren stossen. Es wird niemand klüger werden, und alles so weitergehen wie bisher.

3. Die amerikanischen Proteste zeigen die Auffälligkeit, dass sie bisher auf die Elite-Unis beschränkt bleiben. Sie zeigen alle Anzeichen dessen, was wir Pseudo-Linke genannt haben. An diesen Unis studiert der kleinste Teil der am. Studenten, die meisten (und die aus den working classes) dagegen an den Community Colleges, wo es bisher fast völlig windstill geblieben ist. Es wird schwer, das zu einem proletarischen Aufstand aufzublasen.

Die Proteste zeigen eine derartige Wahllosigkeit in ihrer Solidarisierung (zB. Hizbullah), dass man schliessen muss, dass ihnen diese Leute eigentlich egal sind. Sie sehen nicht aus wie ein Flügel einer grösseren gesellschaftlichen Bewegung, wie in den 1960ern; sie haben gesellschaftliche wohl eine sehr geringe Tiefe, sie sind nicht die Spitze auf einer grossen Welle, sondern sie sind die überkippende Welle, die sich totgelaufen hat, am Strand, wo sie sich bricht.

Das Treiben der Pseudo-Linken sind bisher die Exzesse einer Staatsklasse gewesen, deren gesellschaftlicher Führungsanspruch in die Krise gekommen ist. Ihr Extremismus erweckt den Eindruck von neu gewonnener Macht, und er ist genau dazu da.

Der Eindruck trügt. Ihre Vorgänger haben die Hochmoderne organisiert, haben das Proletariat in den Staat integriert. Diese hier haben die Frauentoilletten abgeschafft. Die moderne Staatsklasse hat niemandem mehr etwas anzubieten, und alle wissen es. Sie sind eine Plage und werden als solche wahrgenommen; sie wenden sich in einem finalen Verzweiflungskampf gegen ihre eigene Existenzgrundlage, den Staat. Sie werden untergehen, und niemanden wird sie vermissen.

Eine Allianz mit denen ist niemandem zu empfehlen. Man kennt sie, und man weiss, mit wem man es zu tun hat. Der Kern dieses Milieus ist für die Linke korrosiv. Man sieht die Linke zögern; es gibt mehr Anzeichen für dieses Zögern, als man glauben möchte, und man versteht genau, warum. Aber einige werden sich nicht abhalten lassen; in den nächsten Wochen werden wir sehen, wieviele.

Die Verlegenheit war gross, wie man gegen Israel und gleichzeitig gegen die Hamas sein wollte. Es fehlte eine dritte Bezugsgrösse. Eine reelle palästinensische Linke besteht zur Zeit nicht; auf eine Massenbewegung zurückzugreifen, ist nur unter Verrenkungen möglich. Man ersetzt diese dritte Bezugsgrösse eigentlich durch einen im Kern entpolitisierenden Begriff. Der Begriff Genozid, zuerst eine Trotzreaktion, hat aber eine eigene radikalisierende Wirkung. Muss man nicht mit jedem zusammengehen, wenn es um einen Genozid geht? Sind die Bedenken, die man hat, nicht schäbig und klein, ja reine Befindlichkeiten?

Daraus kann, aber muss nicht, eine zerstörerische Dynamik werden, wie wir sie von früher kennen. Dann wird es einige über die Grenzen, die sie sich normalerweise selbst setzen würden, wegtragen. Andere werden versuchen, besonnener zu sein, aber sich der sozialen Szenedynamik ergeben müssen. Eine dritte Sorte wird ganz aus der Szene gedrängt werden.

Dem Problem an die Wurzel zu gehen dagegen wird niemand ein Motiv haben, so dass sich das Elend in die nächste Epoche weiterschleppen wird. Wir sind nicht sicher, ob es wahr ist, was die Postmodernen sagen („das Prolatariat hat kein Gedächtnis“), aber die Linke hat anscheinend keines und vergisst regelmässig alles, was sie mühsam gelernt hatte.

4. In der Realität wird alles weitergehen wie gehabt. Von der internationalen Logik des Kriegs macht man sich so wenig einen Begriff wie von der der Krise.

Die Begriffe, die man sich stattdessen macht, sind anachronistisch, eine neue nakbah werden die arabischen Mächte nicht zulassen, und die sind de facto die Verbündeten Israels. Der iranische Angriff hat ein informelles arabisch-israelisches Verteidigungssystem gezeigt. Dieses Bündnissystem ist die reelle Sicherheitsgarantie das Landes. Die Integration Israels in die arabische Welt wird nicht unterbrochen werden. Auch ein Umsturz in den arabischen Staaten würde das nicht mehr ändern. Wir wissen es, weil wir es gesehen haben.

Die Illusion einer Zwei-Staaten-Lösung wird aufrechterhalten werden, notfalls durch eine bosnische Lösung unter Führung der arabischen Liga. Die Sackgasse, in die die palästinensische Nationalbewegung vor langer Zeit gelaufen ist, wird dann von den Mächten des status quo gemeinschaftlich verwaltet werden.

Eine grundlegende Veränderung würde einen anderen Weg gehen müssen. Die heutige palästinensische Führung wird ihn nicht gehen, er würde den Verlust ihrer Macht bedeuten. Die „palästinensische Linke“ der 1960er, bis heute die offizielle Führung der PLO, sind nicht nur die Erben der traditionellen Oberschicht, sie sind meistens real ihre Nachkommen (das Hockommen einer neuen Führung in den 1980ern haben sie erfolreich verhindert). Sie haben von ihnen die Selbsttäuschungen und die strategischen Fehler geerbt. Sie sind genau an demselben Problem gescheitert: sie haben nicht begriffen, dass die Juden im Land bleiben werden, weil sie nirgendwo anders haben, um hinzugehen.

Ein ums andere Mal hat die westliche Linke die verhängnsivolle Rolle gespielt, sie genau in diesem Irrtum zu bestätigen. Und ihre Bestätigung hat Gewicht gehabt. Ihre Zuneigung entscheidet darüber, welche palästinensischen Stimmen gehört werden und welche untergehen. Und die westliche Linke hat keine Idee ausser der, dass der Westen das einzige ist, was handelt.

Hier ergänzen sich zwei Dummheiten und führen zur Katastrophe. Die palästinensische Bewegung hatte immer zwei Möglichkeiten, sie hat die eine davon nie genutzt und nie nutzen können, weil sie von der anderen übertönt wurde, die mit westlicher Unterstützung den Sieg davongetragen hat. (Ja, mit westlicher Unterstützung. Die westliche Linke ist ein Teil des Westens. Gewöhnt euch dran.)

Das letzte Mal vor 20 Jahren, nach dem Scheitern der sogenannten „zweiten Intifada“, dieser zentral geführten Mordkampagne, die mit der ersten Intifada nur den Namen gemeinsam hat. Nach dem Scheitern dieser sinnlosen Mörderei hörte man eine Weile, erst leise, dann lauter, Stimmen, die eine von Grund auf andere Strategie verlangten: eine gewaltlose Bewegung für Bürgerrecht und Wahlrecht im israelischen Staat.

Es hat nicht lang gedauert, bis dieser Gedanke übertönt worden ist von der neu entwickelten neuen genialen Idee der alten Führer: BDS. Diese Strategie lebt von genau denselben falschen Annahmen wie die alte Gewaltstrategie: von der Annahme, dass Israel im Kern ein Projekt des Imperialismus sei. Die Idee, die der BDS-Kampagne zu Grunde liegt, ist, den „Westen“ zur Aufgabe seines „siedlerkolonialistischen“ Projekts zu bewegen. Das ist nichts anderes als die neueste Stufe des alten Missverständnisses. Wenn Israel eine westliche Kolonie ist, wo ist das Mutterland? Ich kann mir nichts eurozentrischeres Denken.

Die BDS-Kampagne spielt wieder, bewusst oder unbewusst, den Ball zum Westen. Man tut, als ob der Westen die handelnde, sogar die einzig handelnde Instanz wäre. Man nimmt damit der palästinensischen Bevölkerung jeden Einfluss auf ihr eigenes Schicksal. Im Westen dürfen dann die dortigen Parteien den Konflikt als Stellvertreterkampf unter einander ausfechten: die immer gleiche alte Geisterschlacht. Es wird nichts dabei herauskommen.

Die westliche Linke, der nichts anderes einfallen will, ist mitschuldig an dieser Misere. No one is innocent. Im Grunde stützen sich zwei gescheiterte Führungen gegenseitig, die palästinensische und die der westlichen Linken. Beide sind mitschuldig an diesem Desaster.

Das Scheitern der Linken des 20. Jahrhunderts reisst immer noch ganze Völker in den Abgrund.

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Ein Dilemma im Kritikbegriff

Wer sich mit den Wahnideen dieser Gesellschaft befasst, wird zwei Wege vor sich sehen.

Der eine Weg ist der, der sich in einzelnen Gesprächen auftut. Man hat es dort mit einzelnen, unterschiednen Menschen zu tun, die versuchen, ihre eigene Erfahrung in der Welt in die Form der vorherrschenden Ideen zu bringen. Schon die Frage, warum sie das tun, wird Gegenstand des Gesprächs sein. Sie werden finden, dass die vorherrschenden Ideen zu ihren Erfahrungen nicht vollkommen passen, aber sie werden sich abmühen, sie trotzdem zu benutzen. Es wird hinten und vorne nicht ausreichen, und sie werden nicht zufrieden sein. Sie tun es, wie jemand versucht, sich bei Regen unter den Schutz eines zu kleinen Vordachs zu quetschen.

Man wird schnell herausfinden, dass es wenig hilft, sie für diese sinnlose Übung zu tadeln. Noch weniger hilft es, ihnen den handfesten Unsinn der vorherrschenden Ideen vor Augen zu führen. Sie werden einen verständnislos ansehen: sie fühlen sich nicht gemeint, sie kleiden nur ihre eigenen Gedanken in die fremden Begriffe, aber sie vermuten nicht, dass in diesen eine eigene Logik wohnt, noch weniger fühlen sie sich für diese verantwortlich. Man muss sie schon bei ihren eigenen Gedanken selbst aufsuchen. Man muss sie als menschliche Erfahrung ernst nehmen, man muss sich auf sie einlassen. Es ist eine sokratische Operation; man wird viel finden, das man für unwahr hält, und es unangefochten liegen lassen, um es herum gehen, weiter voran schreiten. Man muss vieles nicht sagen, was es uns drängt zu sagen; im Vertrauen darauf, dass es sich an einem anderen Punkt wegaufwärts von selbst finden wird. Und das wird meist nicht der Fall sein. Es ist keine Arbeit, die wir gut können oder gern tun. Man muss auch Menschen viel mehr mögen, als wir es tun.

Der andere Weg, den man gehen kann, ist gerade entgegengesetzt. Er besteht darin, herauszukriegen, worauf die Ideen dieser Gesellschaft hinauslaufen. Man muss sie erst in eine Form bekommen, die es erlaubt, ein Urteil über sie zu fällen. Bei diesem Verfahren muss man gerade das Unwahre aufsuchen, denunzieren, es ins grellste Licht rücken. Man muss es zusammenfassen, zu einer Totalität des Unwahren montieren. Niemand wird sich in dieser Monstrosität wiedererkennen, aber es ist für jeden ein kleiner Pfeil darin, der ihm zeigt: hier, am Ende dieses Pfeils in diesem Universum des Wahns, da bist du und deine Meinung, ein kleines Rädchen im Getriebe des Unheils.

Dieses Verfahren war früher beliebter, und es liegt Leuten wie uns näher. Es hat aber den Nachteil, das es meistens völlig schiefgeht, weil niemand sagen kann, ob die Konstruktion dieser Totalität wahr ist, oder nur aus der Projektion des eigenen Wahns ausgeführt ist. Dieser zweite Weg ist viel weniger nah am Material; er ist eigentlich spekulativ. Denn ob die Kritik die herrschenden Ideen wirklich trifft, oder anders gesagt ob sie richtig herausfindet, welche es sind und wie sie zusammenhängen, steht nicht im Vorhinein fest.

Das einzige Wahrheitskriterium der Kritik ist die Wirkung, die sie tut, nämlich die Krise provozieren. Sogar ob es so etwas überhaupt gibt, ist nicht von vorneherein erweisbar. Für den Kritikbegriff, dem wir anhängen, ist es ein Postulat. Eigentlich müssen dazu beide aufgezeigten Wege zu einem zusammenfallen.

Man kann nicht einfach davon ausgehen, dass beides zusammenfällt. „Wahrheit ist objektiv, nicht plausibel“. Schon gar nicht ist von der Ideologiekritik aus diese Position zu finden. Sie riskiert, ein Konstrukt zu bleiben. Der Boden, auf dem ihre Sätze erprobt werden müssen auf ihre Resonanz hin, vielleicht sogar gefunden werden müssen, ist der des anderen mühsameren Weges; sie müssen dann allerdings in eine andere Form gebracht werden, so dass sie die herrschenden Ideen nicht nur gelegentlich und im Vorbeigehen berühren, sondern sie müssen allgemein werden. Wie diese Verallgemeinerung zu denken ist, ist eine andere Frage. Sie wird kaum aus der Leistung des einzelnen theoretisierenden Verstands hervorgehen, sie wird Selbst-Verallgemeinerung sein müssen.

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News unterm Radar VIII

Etwa Mitte April hat sich an der Staatlichen Geisteswissenschaftlichen Universität in Moskau hat sich eine Initiative gegründet, sie sich einer geplanten Neugründung eines Schulungszentrums, welches den Namen Iwan Iljins tragen und von einem gewissen Alexandr Dugin geleitet werden soll. Es wurde bereits berichtet. Ja, „Putins Lieblingsphilosoph“, ein ausgezeichneter Hegelkenner und bekennender Christ, hatte eine Affäre mit dem historischen Faschismus während seiner Zeit im europäischen Exil. In der „weißen russischen Emigration“ damals allerdings nichts Ungewöhnliches, wie wir Proletarier sagen. (Ich jedenfalls würde von „Gewaltsamer Widerstand gegen das Böse“ nicht abraten, ist eine stabile Antwort auf den dogmatischen Pazifismus Leo Tolstois, aber innbrünstig anempfehlen würde ich es auch nicht). Manchen Leuten an der Fakultät wurde das zu viel des Guten auf ein Mal, sie haben sich zusammengeschlossen und losgezogen – gegen die Faschisierung der Lehre und für Demokratisierung der Strukturen an der Uni. Die Wahl der Mittel war allerdings so skurril, dass es Freunde wie Feinde ein wenig ratlos machte. Den möchte-gern Staatsphilosophen Dugin hat man gleich beim Namen genannt, der unterstellte der Initiative einfallslos, aus der Ukraine gesteuert zu werden. Dafür hat man ihm ein Zitat aus seiner 2010 erschienen Studie über eine „explizit russische“ Heideggerleseweise unter die Philosophennase gehalten, wonach Iljin eigentlich ein im Geiste sehr preußischer, sprich ein un-russischer Depp gewesen sein soll. Schlimmer hat es die sogenannten Kommunisten und andere Redcons im Establishment erwischt: sie finden es richtig, aber dürfen es nicht sagen. Im (medialen) Krieg gegen die Ukraine (und den sog. Westen) wird je nach dem, was für Publikum bearbeitet werden soll, der besagte „Widerstand gegen das Böse“ oder der Großer vaterländische Krieg bemüht, die Rostroten würden die rechtsklerikale Konkurrenz im Staatsapparat schon gerne beseitigen. Sollen Iljin und Dugin Faschos sein, wie sieht es aus mit seinem allseits bekannten Fanboy, der 2009 angeblich aus eigener Tasche einen neuen Grabstein bezahlt und sich um seinen schriftlichen Nachlass gekümmert hatte? In welches Licht stellt das die sog. „militärische Spezialoperation“? Manche prominenten Unterstützer der Kampagne lassen sich nicht mehr so einfach als ukrainische Agenten abstempeln, haben sie sich doch in den letzten zehn Jahren durch die Unterstützung der Donbas-Separatisten hervorgetan; sie drohen nun mit der Staatsanwaltschaft. Die Dumaabgeordneten schicken Anfragen und fordern Aufklärung. Der Dekan Besborodow kann 20000 Unterschriften nicht ignorieren, hält einen Vortrag über Iljin, um Unklarheiten unter Studierenden zu beseitigen, weigert sich aber, zu politischen Ansichten Iljins inhaltlich Stellung zu beziehen. Vor allem aber: wer wird es dem Hauptfanboy Iljins ins Gesicht sagen, dass er vor lauter Antifaschismus mit Vorliebe einen Faschisten zitiert? Alle sind am rudern und springen im dialektischen Dreieck.

Lenin oder Iljin: „Wer ist hier Patriot?“

Kurzum, das Trolling ist so fett, dass es sehr fein wird; bzw. es ist so fein, das es richtig fett wirkt. Was wiederum bedeutet, dass das Trolling sehr gelungen ist. Diese Schlussfolgerung könnte so im Dialektiklehrbuch von irgendeinem Klassiker des Marxismus-Leninismus stehen oder wenigstens in Bertold Brechts „Me-Ti, Buch der Wendungen“. Das Problem mit dem wissenschaftlichen Sozialismus, welches bereits unzähligen Generationen seiner AnhängerInnen das Herz gebrochen und sie in Arbeitslager geführt hatte, ist jedoch, dass man nichts, nicht ein mal seine angebliche Wissenschaftlichkeit leichtsinnig glauben darf. Also bin ich der Sache etwas näher nachgegangen und festgestellt, es ist alles viel trivialer.

Die Initiative kommt zwar aus der Uni, sie wurde aber nicht von sogenannten Redcons gekapert, sondern von den nämlichen Redcons auch ins Leben gerufen. Ja, von der Jugendorganisation der KPRF an der Uni. Genauer gesagt, von der LKSM – ihr wisst schon, der pseudo-unabhängigen Nachfolgerorganisation der WLKSM, sprich der Komsomol, die sich 2011 nach der ausdrücklichen Erlaubnis von Lenins Nichte, Olga Uljanowa, eben in LKSM RF unbenannt hatte. Man merkt, das Trolling ist hier gelebte Tradition, das Organisationsprinzip und die Vorzugswaffe der geistigen Auseinandersetzung in Einem. Die dialektische Betrachtungsweise bringt uns also immer weiter, wir müssen bloß in periodischen Abständen mit dem Blaumannärmel die Freudentränen aus den proletarischen Augen wischen. Weiterlesen

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Mit Linken reden

Es macht sehr unterschiedlich Freude, mit „Linken“ zu reden; je nachdem auch, was für Linke es sind. Je mehr es gewöhnliche Leute sind, oder sich daran erinnern, dass sie es sind, desto fruchtbarer und interessanter ist es; je mehr sie allerdings sich an die „Einsicht“ klammern, die laut Manifest „die Kommunisten“ den übrigen Arbeitern voraus haben, desto mehr wird eine eigenartige Verengung und Verhärtung des Denkens spürbar, die ein Gespräch am Ende so ergiebig macht wie eins mit der Wand.

1
Sie halten das für ein Zeichen des Erfolgs, weil es sie standhaft bleiben lässt gegenüber dem Versucher; in diesem Fall gegenüber uns, die wir zweifellos suspekt sind (und zu bleiben hoffen). Was sie übersehen, ist nur die Kleinigkeit, dass dieselbe Erfahrung jeder beliebige andere auch machen wird, der auf den Gedanken kommt, mit ihnen reden zu wollen. Er wird Leute treffen, die von einer fixen Idee völlig eingenommen zu sein scheinen, und mit denen ab einem bestimmten Punkt kein vernünftiges Wort mehr zu reden ist. Er wird sich hüten, ihnen das ins Gesicht zu sagen, sondern er wird seine eigenen Schlüsse ziehen; und genau so kommt die Realität zu Stande, die sie sich abmühen zu begreifen, dass sie unter Leuten, die so „offen“ für „linke Gedanken“ zu sein scheinen wie nie, trotzdem isoliert bleiben.

Es ist die Form „Politik“ selbst, ein Schatten der Form „Staat“, die Linke so hartköpfig macht. Es ist selbst im strengen Sinne keine Klassenfrage; man findet dieses Syndrom deshalb nicht nur unter den „Intellektuellen“, sondern auch unter ausgesprochenen Arbeitersekten. Es ist dort nur nicht fest im Klasseninteresse verankert; es erhält sich im Gegenteil deswegen, weil die eigene Öffentlichkeit und eigene Organisation der Arbeiter schmerzlich als unzureichend empfunden werden. (Sie sind es auch, sonst sähen die Dinge anders aus; aber einen Ersatz gibt es trotzdem nicht, er wird zurückgewiesen werden.)

Denn sie glauben und müssen glauben, dass von ihnen, den „klassenbewussten Kommunisten“, eine Antwort erwartet wird; ein Politikangebot. Sie sind klarsehend genug, um zu sehen, was mit all den „Politikangeboten“ zu Zeit passiert, aber sie ziehen daraus nicht den Schluss, dass dasselbe Schicksal alle „Politikangeboten“ erwartet. Ihnen ist die Alternative klar: dass der Widerstand der Klasse von einer chaotischen, amorphen, unorganisierten Arbeiterschaft ausgehen wird. Diese Aussicht flösst ihnen kein Vertrauen ein, und wir verstehen warum. Auch uns nicht; aber wir wissen, dass immer so war und nie anders sein kann.

2
Diese Verhärtung und Verengung lässt sich natürlich nirgends so gut beobachten wie in Diskussionen um die gegenwärtigen Kriege, vor allem den in Ghaza. Es hat eine ganze Weile gedauert, bis die Partei-Linie zustande gekommen ist; und man sieht ihr die Mühe an, die es kostet, sie aufrechtzuerhalten.

Der Angriff der Hamas am 7.10. ist nicht abstreitbar, und er reisst ein tiefes Loch in die gewohnte Argumentation. Wir reden hier nicht von den Verrückten mit den Gleitschirm-Aufnähern; für die ist der Sachverhalt ganz einfach. Die Sorte von Leuten, von denen wir reden, kann da nicht zustimmen; ihre Tragik besteht gerade darin, keine Begriffe dafür zu haben, wie sie widersprechen können.

Also versucht man z.B. auf den Kontext hinzuweisen, in dem der Angriff stattgefunden hat; die Jahrzehnte der Besatzung, usw. Nur steht dieser Kontext wiederum in einem Kontext, nämlich die arabischen Kriege gegen Israel und spätestens seit 25 Jahren der iranische Einfluss. Also geht man auf den vermeintlichen Ursprung zurück, und das ist „der Imperialismus“. Damit hat man sicheren marxistischen Boden unter den Füssen.

Der Versuch, die Geschichte Israels mehr oder weniger in den Imperialismus einzuordnen, ist allerdings völlig zum Scheitern verurteilt. Wenn Israel eine „Siedlerkolonie“ sein soll wie Algerien, wo ist das Mutterland? Die Algerienfranzosen sind nach dem Sieg der FLN nach Frankreich gegangen. Aber die Algerienfranzosen sind auch nicht als Flüchtlinge vor den Franzosen ins Land gekommen. Die Frage, von wo die Israelis eingewandert sind, führt unweigerlich aufs Dritte Reich; und man wird natürlich auch den Hitlerfaschismus auf den Nenner des Imperialismus bringen wollen.

Die „Antideutschen“ haben es meistens verschmäht, so kleinteilig zu argumentieren. Aber das heisst nicht, dass diese Einwände sich nicht geltend machen; und sie tun es, indem die die Argumentation dessen zerrupfen, der versucht, über die hinwegzugehen.

Das selbe mit der Geschichte der palästinensischen Revolution. Man kann nicht zugeben, dass die Führung der palästinensischen Bewegung ihre Sache ein ums andere Mal in den Sand gesetzt hat, weil sie von der Idee geblendet war, in Palästina dasselbe hinzubekommen wie in Algerien. Erstens sieht man selbst keinen anderen Weg, als sich von dieser Idee blenden zu lassen, zweitens, wo käme man hin, wenn die Führung der Revolution irren könnte und noch dazu so grausam irren könnte.

Diese Führung hat es dahin gebracht, das Erbe der ersten Intifada zu verspielen und die palästinensische Sache dahin zu bringen, dass sie als Kanonenfutter für den Iran taugte. Ein kritisches Wort dazu fällt ihnen nicht ein.

3
Noch schlimmer wird es bei den Sachverhalten, die auf die Einmischung des Iran zurückgehen. Die Hand des iranischen Regimes war bei der sogenannten zweiten Initfada schon spürbar. Sie ist es heute noch viel mehr.

Der Angriff vom 7.10. macht vom national palästinensischen Standpunkt aus keinen Sinn. Dass er den Krieg über Ghaza bringen würde, was von vorneherein klar. Er macht nur in dem einen Zusammenhang Sinn, nämlich dass von innerhalb des iranischen Bündnissystems versucht wird, dieses gesamte Bündnissystem in den Krieg hineinzuziehen. Man betrachte als historische Parallele zb den Mukden-Zwischenfall; mit diesem hat eine Fraktion des japanischen Militärs ihr Ziel erreicht, Japan in einen offenen Krieg zu bringen.

Wenn man der eigenen Lehre treu bliebe, müsste man hier konkurrierende Imperialismen sehen. Damit löst sich aber die mühevoll errungene Theorie auf, „den Imperialismus“ als Hauptschuldigen auszumachen; und diese Theorie als einziges erlaubt es, hier das „Hauptfeind„-Argument zu bringen.

Die iranische Kriegspolitik nach aussen entspricht vollkommen der Unterdrückungspolitik gegen die eigene Bevölkerung. Die Aufstände der Arbeiter und Frauen im Iran haben der westlichen Linken unmöglich gemacht, diese Unterdrückungspolitik zu ignorieren. Viel zu deutlich ist der Zusammenhang. Gleich zweimal kann man also nicht zulassen, dass zu dem „Kontext“ des Angriffs der Iran gerechnet wird.

4
Was also soll der wackere Streiter tun? Wir beobachten hauptsächlich zwei Verläufe. Sie hängen eng mit der subjektiven Ehrlichkeit zusammen. Die Ehrlichen lassen sich, wie zur Probe, für ein paar Sätze auf die Logik des Gegenstandes ein, ehe sie an die Grenze stossen, wo ihre Parteidoktrin ins Wanken geraten müsste. Man spürt dann, selbst wenn man z.B. auf Twitter sich unterhält, eine Gedankenpause. Ein Moment des Innehaltens, wie wenn jemand sich denkt: aber wohin führt das? Nein, das kann nicht richtig sein. Und darauf folgt dann wieder ein Tweet, wo drinsteht: das ist übrigens nicht richtig, sondern richtig ist das Gegenteil.

Man spürt die Anstrengung, die Gedankenarbeit, die dazugehört, zum vorschriftsmässigen Ergebnis zu kommen. Es ist das, was man „politisches Denken“ nennt: die Gedankenanstrengung, das Denken einzustellen, damit man an dem verabredeten Punkt zum Stehen kommt.

Es gibt auch noch eine andere Sorte. Diese schmeicheln sich vielleicht, die grösseren Denker zu sein, weil sie viel weniger Umstände machen. Sie lassen sich gar nicht, nicht einmal zur Probe, auf die Logik des Gegenstands ein, sondern ersetzen sie von Anfang an mit der Logik ihrer Parteidoktrin. Das erlaubt ihnen, von Anfang an viel selbstsicherer aufzutreten. Nichts bringt sie aus der Ruhe: alles, was sie anficht, ist Teil des „rechten Kulturkampfs“.

Der Vorteil dieser Logik, die völlig wahnsinnig aussieht, ist offenkundig. Man muss sich nicht um innere Kohärenz mehr scheren, um zu definieren, auf welcher Seite man steht; sondern diese Arbeit macht das Selbstgespräch der Gesellschaft schon für einen, es kaut und verdaut die verschiedenen Ideologeme und sortiert sie den einzelnen Parteien zu. Man muss nur die einigermassen wahllos einem zugeworfenen Ideologeme auch noch glauben.

Oder man muss zumindestens so tun, als ob man sie glaubt. Diese sehr bequeme Haltung ermöglicht eine fast schrankenlosen Flexibilität. Sie ermöglicht einem, die widersprechendsten Standpunkte aneinanderzuleimen und an jede, aber wirklich jede Bewegung sich heranzumachen: man hat für alle etwas im wahllosen Angebot, und an nichts muss man wirklich glauben als nur an die eigene revolutionäre Sendung. Der Triumph des revolutionären Willens manifestiert sich im erbärmlichsten Opportunismus, der allen hinterherrennt und keinen einzigen eigenen Gedanken hat.

5
Die Reste der „Antideutschen“, wo sie noch bestehen, wollen hier durchaus „Antisemitismus“ sehen und sonst gar nichts. Auch diese machen es sich einfach; sie möchten gerne noch einmal auf demselben Pferd in die Schlacht reiten wie damals von zwanzig Jahren, und sie versuchen, nicht zu bemerken, dass ihnen das Pferd schon längst gestohlen worden ist. Daher die traurige Figur, die sie machen.

Wir halten das für nachgerade irre. Man kann prinzipienfest draufhauen und doch immer nur danebenhauen. Man baut damit nichts auf als einen riesigen und selbst wahnhaften Begriffsapparat, der zuletzt in den Besitz des Staats übergehen wird. Den Staat und seine Kopflanger muss es nicht stören, ob diese „Kritik“ trifft. Uns schon. Ihnen reicht es, zu denunzieren; wir sind darauf angewiesen, zu verstehen.

Wenn man des Gesamtschaden anschaut, sieht man etwas ganz anderes. Wer nicht willens ist, ihn mit kommunistischen, d.h. revolutionären Begriffen zu kritisieren, soll es bleiben lassen; wir haben gesehen, dass solche Leute gut genug sind für Springer, Nius oder für die Antonio-Amadeu-Stiftung. Wir können sie nicht brauchen.

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The Great Misinterpretation

Ergänzend zu er neulich dokumentierten ungewöhnlichen Ansicht empfehlen wir beiden, den unseren und den anderen, diesen Vortrag hier. Er ist nicht 25 Jahre alt, sondern einen Monat. Er hat den Vorzug, quer zu den heute noch üblichen Parteimeinungen zu laufen, was ihn in unseren Augen sehr empfiehlt.

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