Die gegenwärtige Revolution II

Einen Teil I dieser Reihe gibt es streng genommen nicht. Sie setzt fort, was neulich versprochen worden war:

Ob es also irgendeine Rolle spielt, was die Linke der Linken denn so denkt oder tut. Wenn nein, kann man sich das auch ein bisschen sparen. Wenn ja, will begründet sein, wie das. Sehen wir uns den wirklichen Verlauf das nächste Mal an.

Es ist ein bisschen lose, und es geht auch noch weiter. Ich habe nicht vor, hier zu festen Ergebnissen zu kommen, die Debatte ist nicht am Ende, sie hat noch nicht angefangen.

Jörg Finkenberger

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Bei uns zuhause, in den 1990erm, war es ganz normal, dass Leute so taten, als wäre etwas eingetreten, was man „Ende der Geschichte“ nannte. Die landläufige Annahme war wirklich, dass alles das, was alle Welt das ganze 20. Jahrhundert beschäftigt hatte, jetzt vorbei wäre. Der Kapitalismus hatte keine Krisen mehr und die Geschichte keine Revolutionen. Das gehörte alles einer überwundenen Zeit an, und wer davon sprach, zeigte altes Denken. Es zeigte sich aber schon schnell, am Ende des Jahrzehnts, das das natürlich nicht stimmte; wurde aber anscheinend trotzdem geglaubt, solange es noch irgend ging, und das ist immer noch nicht ganz vorbei.

Für Leute wie uns, die das nicht glaubten oder akzeptieren konnten, war es damals auch nicht leicht, sich zu denken, wie es denn dann stattdessen weitergehen würde. Ende 1999 gab es in den Nachrichten die sogenannte Schlacht von Seattle, von der seltsamerweise niemand das Gefühl hatte, das sie der letzte Akt in einem zu Ende gespielten Stück war, sondern ein Bild aus der Zukunft. Eine flüchtige Idee, wie eine künftige Opposition aussehen müsste. Aber diese Zukunft ist in Wahrheit nicht eingetroffen. Das gesellschaftliche Bündnis, das hier eher durch Zufall zusammenprallte, hat sich nicht dauerhaft herstellen lassen, auch wenn es zu Zeiten so aussah, als drängten alle seine Bestandteile von selbst dazu: ihre Ansprüche standen sich gegenseitig zu oft im Wege, und das wird kein Zufall gewesen sein.

Und im Frühjahr 2000 begann eine globale Rezession, eine von den zyklischen Krisen, die es nicht mehr geben sollte. Vorher war man allgemein und wie gehirngewaschen davon ausgegangen, dass die sogenannte New Economy ab jetzt einen krisenlosen Kapitalismus erzeuge. Das sollte, wenn ich mich recht entsinne, daher kommen, weil ab jetzt alle Aktien immer steigen würden, und deswegen alle nur Aktien kaufen müssten, damit alle reich werden würden. Das klingt im Rückblick etwas dumm, und es gibt heute auch keiner mehr zu. Man tut dennoch so, als wäre die Rezession vom 11.September 2001 ausgegangen, so wie man die kommende Rezession auf die Corona-Pandemie schieben wird: auf äussere Ursachen, sogenannte external shocks, und nicht die Investitionsbewegung der kapitalistischen Wirtschaft selbst.

In den frühen 2000ern aber füllte die sogenannte Weltöffentlichkeit, und namentlich der linkere Teil davon, ihre Zeit umfassend mit Opposition gegen die USA. Die gesellschaftliche Mobilierung für nichts, die man 2003 wegen des Iraq-Kriegs sehen konnte, war zum Staunen. Sie beruhte auf lauter falschen Ideen, und sie brachte überall diejenigen Kräfte unter der Opposition nach vorne, die 1989 tatsächlich widerlegt worden waren. Das konnte geschehen, weil eine neue Konstellation sich nicht gefunden hatte.

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Das erste elementare Knirschen einer neuen Periode war um 2005 zu hören, und es war schon vieldeutig. In diesem Jahr demonstrieren z.B. die Hälfte der libanesischen Bevölkerung für den Abzug der syrischen Besatzung. In Syrien traten die Kurden, unter denen der Staat 2 Mio. die Staatsbürgerschaft verweigerte, in Aufstand. In Ägyten zeigte die Bevölkerung immer bemerkenswertere Hartnäckigkeit bei ihren unerhörten Forderungen, erst nach Ausübung ihres Wahlrechts, dann bis zu dem bekannten Arbeiterinnenaufstand von Mahalla al Kubra 2007, der später in die die ägyptische Revolution überleitete. Die Riots in den französischen Banlieues Ende 2005 drückten eine tiefere, grundsätzlichere Dimension aus: Forderungen, die mit wenigen Reformen nicht erledigt sein würden.

Alle diese Bewegungen wurden von verschiedenen, aber überlappenden Teilen der Gesellschaft getragen, und sie hatten verschiedene, teils überlappende, teils aber sich widersprechende Ziele. Auf die globale Linke, oder was sich seit 1999 für diese halten musste, liess sich ein Teil dieser Ziele gut abbilden; von einem ganzen anderen Teil wusste sich anscheinend noch nichts, oder hatte es in der Antikriegsbewegung von 2003 vergessen.

„Die Massen“, wie es die Maoisten immer nennen, sahen ganz andere Dinge als ihren Hauptfeind an, als die globale Linke glaubte. Und das waren keine Launen oder Moden. Keine Handvoll Jahre verging, dass sie anfingen, danach zu handeln. Und die globale Linke verstand nichts, und aus ihr folgte nichts. In Wahrheit war die globale Linke eine Mode gewesen. In Wahrheit ist sie die Linke der westlichen Metropolen mit einigen Ablegern im Rest der Welt; völlig unvorbereitet auf eine Erschütterung wie die des Revolutionsjahrs 2010/11; und viel zu verstrickt in ihr altes Bündnis mit den Diktaturen des Trikont, als dass sie in derartigem Aufruhr hätte anders handeln können, als sie hat.

Dieses Revolutionsjahr, hat man immer gehört, hat niemand kommen sehen, aber das ist Unsinn. Wer seit 2000 nur dorthin geschaut hat, wo die herrschende Mode hingeschaut hat, hat es natürlich nicht kommen sehen. Man hätte, wenn man denen geglaubt hätte, glauben sollen, dass die Hauptrichtung der kommenden Revolution gegen „den Westen“, die USA, den Zionismus gerichtet sein würde. Die Propaganda-Redner der verschiedensten Reaktionäre haben von nichts anderem gesprochen. Und nichts daran war der Fall. Im Gegenteil. Die erste grosse Bewegung war die gegen das iranische Regime von 2009.

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Man hat es kommen sehen können. Die Zeichen waren da. Es war nur eine zufällige Handvoll, die sie gelesen haben. Und unter diesen stellte sich eine Frage, für die es nicht leicht eine Antwort gab. Die verschiedenen Tendenzen der Kämpfe, die man beginnen sah, zeigten eine sehr aufgewühlte See: verschiedene Ansprüche verschiedener Gruppen, die nicht von alleine zusammenpassten, und die entweder in einem längeren Prozess zusammenfinden mussten, oder gewaltsam aufeinanderprallen würden.

Die ältere Art, mit so etwas umzugehen, sozusagen die 1999er Art, funktionierte nicht, wie sich zeigte: die blosse Addition der verschiedenen Gruppen, und zwar vermittelt über ihre institutionelle Form. Gewerkschaftsbünde, Umweltgruppen und sogenannte Neue Soziale Bewegungen einfach zu einem Bündnis zu addieren, produzierte z.B. einen äusserlichen Kompromiss; eine Linie, auf Grund derer die einzelnen Parteien miteinander gerade noch leben konnten; während es doch wahr ist, dass sie dauerhaft nur miteinander überhaupt leben konnten, und deswegen eine radikale Synthese brauchten. Und für diese hätten sie ihre institutionellen Formen abstreifen und umschmelzen müssen.

Die Radikalität aber, die für diese Umschmelzung nötig gewesen wäre, war notwendigerweise aus der institutionellen Form verbannt. Niemand täuschte sich darüber. So führte die Addition der Tendenzen nicht zu Entfaltung addierter Energie, sondern nur zu möglichst geringer gegenseitiger Hinderung, und das reicht nicht aus. Die Niederlagen der 2000er sind Zeugnis davon. In Frankreich konnte man den Prozess von hier aus gut beobachten: jede einzelne Auseinandersetzung blockierte jede andere Auseindersetzung, weil, wie wir es damals nannten, kein Teil des Proletariats mehr sich bewegen kann, wenn sich nicht das ganze Proletariat bewegt. Die Proteste der Studierenden z.B. lehnten sich an die Streiks der Lehrer und der Kulturbeschäftigten auf der einen Seite an, auf der anderen Seite traten sie in ein Bündnis mit der arbeitslosen vorstädtischen Jugend; eine Konstellation, die sich praktisch aufdrängte und dennoch nicht zustandekommen konnte. Dieses Bündnis hätte lokale Kerne einer qualititativ anderen Bewegung bilden müssen, und es war unmöglich.

Und darin drückte sich das ganze Problem eigentlich schon aus. Die Bewegung, wenn man das widersprüchliche Ding schon so nennen durfte, hatte völlig unterschiedliche Bedürfnisse, und ihre Institutionen trennten diese scharf auseinander und hielt sie in dauerndem Konflikt. Es bedurfte einer ungeheueren, gründlich durchdringenden Negativität, die in der Lage war, alles bestehende rundweg abzuweisen. Und es bedurfte gleichzeitig eines geduldigen konstruktiven Aufbaus neuer Dinge anstelle der alten. Ruhiger hartnäckiger Arbeit, für fast banal aussehende Dinge. Das Problem war, dass diese beiden Sachen nicht Platz hatten in ein und demselben Kopf. Wolfgang Harichs Wort vom „Sozialismus im Geiste der Kaufhausbrandstiftung“ ging damals viel um. Aber es ist damals niemandem gelungen, ihm einen Sinn unterzuschieben.

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Es war wieder einmal eine Zeit, „als die Situationisten noch Recht hatten.“ Eine Gesellschaft, die stillgestellt aussah und sich selbst auch für stillgestellt hielt, war von leicht sichtbaren Rissen durchzogen, die unter unseren Augen immer grösser wurden, während niemand sie zu bemerken schien. Sie liefen leicht erkennbar auf die Kette von Aufständen, Revolten und Revolutionen zu, die wir seither haben geschehen sehen. Und während es leicht zu sehen war, versuchte alle Welt, es einem auszureden.

Der Aufstand aber ist eine Notwendigkeit. Er ist eine Manifestation der Unwahrheit dieser Gesellschaft. Und es ist kein Zufall, dass in ihm wie in einem Brennglas alle diejenigen sich wiedererkennen, die von dem Bewusstsein dieser Unwahrheit körperlich geplagt werden; für diese ist es ein Trost, zu wissen, dass das Problem nicht sie sind. Und an diesem Trost erkennen sie sich gegenseitig. Der Aufstand ist ein Wetterleuchten, aber es ist nicht das Gewitter. Er löst das Problem nicht, er zeigt es. Den alten Satz des Bakunin, dass der Geist der Zerstörung ein schaffender Geist sei, hat er selbst zurückgenommen: „Unsere Aufgabe ist es“, sagt er anderswo, „zu zerstören. Andere sind es, die aufbauen werden, bessere als wir“. Aber ist wenigstens das denn wahr?

Leonard Cohen singt in „The Old Revolution“: „Of course I was very young, / and I thought that we were winning. / I can’t pretend / I still feel very much like singing / as they carry the bodies away.“ Nach der ersten Revolutionswoche in Ägypten Januar 2011 war eine gute Zeit, genau das zu denken. Und damals hatten wir noch nicht einmal begonnen zu verlieren; noch nicht einmal zu gewinnen.

Der Aufstand alleine ist noch nicht einmal ein Anfang von irgendetwas. Er ist noch nicht einmal das Ende von irgendetwas. Er ist ein verschwindend geringes Moment in einem Geschehen, das sehr viel grösser ist, man mag es wollen oder nicht. Wenn er mächtig genug wird, stürzt er ein Regime und hilft ein neues aufrichten; wenn er tief genug reicht, setzt er die Gesellschaft in den Stand, auch das neue Regime zu stürzen oder das dritte. Die ägyptische Revolution von 2011-13 schaffte drei, eines weniger als die grosse französische auch, ehe sie der Armee unterlag.

Den Pathos und die Glorie des Aufstands werden wir nicht anzweifeln. Aber was er in unserer Zeit zu beweisen hatte, ist bewiesen. Keine Herrschaft wird mehr sicher sitzen. Die Revolutionsgeschichte ist lange nicht vorüber. Alles ist noch zu tun. Die Selbsttäuschung dieser Gesellschaft wird auseinanderfliegen wie Gespenster beim Hahnenschrei, und alle ihre Einrichtungen sind nur ebensoviele Hindernisse, aus denen die Gesellschaft sich herauszuarbeiten haben wird. Aber das ist jetzt keine Neuheit mehr, sondern seit bald zehn Jahren eine Tatsache. Das Jahr 2011 ist an Deutschland vielleicht vorübergegangen, aber die Naivetät der Zeit davor wird sich nicht retten lassen: die Konterrevolutionsbewegung haben wir ja mitbekommen. Unser Situationismus hat Recht behalten, und ist dadurch überholt.

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In der Zeit seit der Flut aber stellt sich das Problem auf eine andere Weise. Die Notwendigkeit der Negation und die der aufbauenden Arbeit stehen sich nicht mehr nur verzweifelt abstrakt gegenüber. Sie beginnen sich gegenseitig vorauszusetzen. Alle kommenden Dinge erfordern einen völlig anderen Umgang mit der Gesellschaft, die uns umgibt, als die vorangegangene Epoche. Alle Gewohnheiten der Linken sträuben sich gegen diese Einsicht. Es gibt keinen Raum mehr für radikale Spezialideen, die sich von der Gesellschaft in eigene Gruppen absondern, um sich getrennt von der Gesellschaft aufzubewahren; denn dieser Raum war von einer Gesellschaft geschaffen, die Erfolg dabei hatte, solche Ideen aus sich zu verbannen. Aber jetzt entstehen überall in der Gesellschaft bereits viel seltsamere Ideen.

Die globale Linke wird entweder die Selbsttäuschung aufgeben müssen, sie sei Depositarin höherer Erkennntnis, und sich in die gesellschaftliche Bewegung auflösen und sich ihr transparent machen; oder sie wird gezwungen sein, ihre bisher nur eingebildete Avantgarde-Rolle dadurch einzulösen, dass sie sich vollends abschliesst und sich zur gesellschaftlichen Bewegung in Opposition setzt. Für beides gibt es Präzendenz. Und beide Wege werden auch ausprobiert werden.

Früher pflegten wir diese beiden Wege als zwei Flügel ein und desselben strategischen Dilemmas zu verstehen, und dieses Dilemma in den bekannten militärstrategischen Begriffen zu beschreiben: als Entscheidung zwischen einem plötzlichen, überwältigenden Angriffsfeldzug, der die Kräfte des Gegners zerstört; oder einem langandauernden erschöpfenden Zermürbungskrieg, der ihn überdehnt und zuletzt kollabieren lässt. Kann die Lage heute noch so beschrieben werden? Können wir tun, als bestehe das Dilemma noch in derselben Form? Oder müssen wir annehmen, dass es eine grundlegend andere Form genommen hat, oder am End schon immer hatte?

In Teil II: Ist der zerstörende Geist auch der Geist des Aufbaus, und: Venezuela und Griechenland

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Trust #202/3

Das Trust-Magazin aus Bremen schreibt in der Juli-Juli-Ausgabe (Nr. 202/3) wieder mal über uns. Das ist lieb. Musik gibt es in der Ausgabe wenig, weniger als gewohnt – Konzerte gab es ja kaum. Aber Kunst und jede Menge Literatur- und Musikbesprechnungen kommen vor. Support your underground zine!

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Schlimmer Verdacht

Marx, ein Antisemit und Rassist? Als vermeintliches Indiz für den Antisemitismus müssen meist ein paar spöttische Passagen und bissige Bemerkungen über die jüdische Religion aus Briefen herhalten, vor allem aber die notorisch falsch verstandene Schrift »Zur Judenfrage« (1843).

Wenn ein ehemaliger Thier-Autor anderswo Unsinn verbreitet, wird man vielleicht ein paar Worte sagen müssen. Auch wenn dieser niemals mit unserem Wissen Thier-Autor gewesen ist, sondern uns heimtückisch untergeschoben worden ist; ja eigentlich dann erst recht.

Marx, ein Antisemit und Rassist? Als vermeintliches Indiz für den Antisemitismus müssen meist ein paar spöttische Passagen und bissige Bemerkungen über die jüdische Religion aus Briefen herhalten, vor allem aber die notorisch falsch verstandene Schrift »Zur Judenfrage« (1843). Darin rechnet Marx auf polemische Weise mit seinem Junghegelianerkollegen Bruno Bauer ab, der sich den Universalismus bedauerlicherweise nichts anderes vorstellen konnte denn als Verchristlichung der Welt, der die Juden als Anhänger einer archaischeren Religion entgegenstünden. Mit der Idee eines christlichen Zwangsstaates konnte Marx ­jedoch nichts anfangen, und weniger noch mit den irrigen Vorstellungen über die Juden und das Geld, die Bauer kolportierte. Der bürgerlichen Gesellschaft ist eigen, was den Juden als Vorurteil anhängt, nämlich dass alles dem Geld untersteht. Marx’ Spott über die Waren als »innerlich beschnittene Juden« kann man noch in der Replik auf Bauer und dessen Judenhass verstehen. Dann aber begreift man, dass Marx’ Vorstellung der Emanzipation nicht darauf hinausläuft, dass die Juden aufhören sollen, Juden zu sein, sondern dass der christliche Staat aufhören soll und damit auch die Beschränktheit der bürgerlichen Gesellschaft.

Hayner hat natürlich die „notorisch falsch verstandene Schrift“ sowenig genauer angesehen wie die Autoren, von denen er seine fiktive Erläuterung abschreibt. Die Schrift ist ja aufs erste Lesen geradezu haarsträubend antisemitisch. Aber das kann nicht sein, denn sie stammt von Marx. Also muss es doch ein Missverständnis sein, denn Marx kann derartige Fehler nicht haben.

Man besinnt sich darauf, dass Marx diese Schrift als eine Besprechung zweier Arbeiten des Bruno Bauer ausgibt; und schliesst erleichtert, dass dort die Quelle dieses Antisemitismus liegen muss. Bauer ist 20 Jahre später in der Tat als antisemitischer Propagandist aufgetreten. Also wird er auch in den frühen von Marx besprochenen Texten irgendetwas über „die Juden und das Geld“ gesagt haben, und Marx hat ihm dann nur in derselben Sprache geantwortet.

Nur dass es so nicht ist. Die Sachen von Bauer, über die Marx schreibt, sind von ganz anderer Art. Er entwirft dort so etwas wie eine jakobinische Religionspolitik. Was er da übers Judentum schreibt, klingt ziemlich so wie das, was man in der Jungle World heute über den Islam lesen kann. Von dort ist das ja auch abgeschrieben.

Das kann jemand wie Hayner nicht zugeben, weil damit gesagt ist, dass eine Spur, keine gerade Spur, aber eine Spur, von dem Jakobinismus zum Antisemitismus führt, und dass Marx und die ganze Linke in diese Geschichte mehr verstrickt sind, als man denkt. Oder anders ausgedrückt: dass es eine Dialektik der Aufklärung gibt.

Oder aber das stimmt gar nicht, und wir müssen nur alle weitermachen wie bisher.

Wenn man nicht wüsste, dass in den früheren antideutschen Kreisen auf Adorno heute ohnehin geschissen wird, müsste man sich fragen, warum die Jungle World die fromme Lüge, denn auf die läuft Hayners Predigt hinaus, abdruckt. Aber sie druckt ja auch Felix Riedel, der die andere Hälfte derselben frommen Lüge liefert, oder Ulrich Krug.

Oder Thomas Maul, der zum runden Jahrestag des „Kapital“ neuerdings empfehlen durfte, dass man es so machen sollte wie er und wirklich nur die ersten 100 Seiten lesen. Man hat es ihm auch angemerkt. Der Witz mit den 100 Seiten stammt übrigens von Leuten, die in der Lage waren, das ganze „Kapital“ einschliesslich der Bände zwei und drei allein aus dem ersten Satz heraus zu referieren. Bei den Heutigen muss dagegen eher annehmen, dass er als Ermächtigung zur freigewählten Dummheit verstanden wird.

Eines ist von dem Milieu der neuen Linken jedenfalls bis heute geblieben. Sie verteidigen gerne jede Zeile, die Marx geschrieben hat, mit Ausnahme nur derjenigen, die wahr sind.

Marx jedenfalls, um wieder zum Thema zu kommen, hat die antisemitischen Ideen seines Texts nicht aus dem Bauer entnommen, sie stattdessen aus eigenen Mitteln dazugelegt; und es lässt sich argumentieren, dass Bauer, mit dem Marx bis 1856 übrigens gut befreundet war, sich dieses gesagt sein liess. In seinen späteren eindeutig antisemitischen Schriften greift er sichtbar auf die Einwände, die Marx ihm gemacht hat, zurück und spinnt sie zu ihrer Konsequenz aus. Man lese es nach im „Judentum in der Fremde“.

Marx hat damit einen eigenen originären Beitrag, wenn auch keinen besonders grossen und entscheidenden Beitrag zur Geschichte des Antisemitismus geleistet. Hayner hat nur, ohne jedes Interesse und ohne jede Neugier, alles abgeschrieben, was an Literatur da war, um diese Geschichte zu verfälschen. So faul geht man heutzutage wieder vor, und so wird man in der Jungle World gedruckt. In der DDR wäre es ihm sehr wahrscheinlich noch viel besser ergangen. Wir drücken ihm unser Mitgefühl für das Unglück, dass seiner Sache 1989 geschehen ist, hiermit aus. Soweit, dass

Hubertus Knabe als professionelles Opfer jeglichen Kommunismus

gegen einen Recht hat, muss man es erst mal bringen.

Der Rest ist nicht besser. Sätze wie:

Und auch gegen Südstaatenkitsch wie »Onkel Toms Hütte« polemisierte er schon zu seiner Zeit

verraten echte Sachkenntnis. Diesem Mann macht man nichts vor. Hier keine Spur von dem üblen

Furor der Ahnungslosen

! Über Indien weiss er:

An eine organische Entwicklung des Kastenwesens zur Freiheit glaubte Marx als Revolutionär keineswegs,

welches Kastenwesen, wenn wir der blossen Wissenschaft glauben, von der englischen Verwaltung erst herrschend gemacht worden ist; was dem Hayner wiederum über die Hutschnur gehen wird, denn England, das heisst das Kapital, ist doch eigentlich der Fortschritt gewesen.

Vom Rassismus hat man aber keinen Begriff mehr

, heisst es, und man weiss nicht, wie man widersprechen soll.

Aber nicht nur in den sachbezogenen, auch in den nur sentimentalen Phrasen wie denen:

Marx machte mittels spekulativer Vernunft die Wette auf eine bessere Zukunft. Dann »wird der menschliche Fortschritt nicht mehr jenem scheußlichen heidnischen Götzen gleichen, der den ­Nektar nur aus den Schädeln Erschlagener trinken wollte«, notierte er. Doch die Verhältnisse, sie waren nicht so.

steckt wiederum ganze Hayner, wie wir ihn kennen; sein Ideal der abgeklärte Intellektuelle, der über den schlimmen Dingen der Welt doch nicht vergisst, wie tröstlich doch schon die Tatsache ist, dass er da ist, um sie zu bedauern; und dass Hacks‘ Gedichte da sind, dass auch künftige Generation sich an ihm zu diesem Ideal emporschwingen.

Um dem Missverständnis vorzubeugen, als verfolgten wir den Hayner wiederum mit Denunziation, soll nur das noch gesagt werden. Wir empfehlen der Jungle World keineswegs, ihren Ruf mit etwas mehr cancel culture zu verbessern. Wir halten die Jungle World und ihr Milieu für unrettbar verloren und für unnütz obendrauf. Und Hayner, Riedel, Maul und Konsorten zeigen nur auf, was dort der Fall ist. Wir finden, dass Hayners Artikel in die Jungle World, wie sie war und ist, ganz hervorragend passt.

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Was macht eigentlich… (II)

…der autoritäre Kommunismus?

Da stösst man aus dem Nichts auf folgende Perle der autoritären Ideologie, und man denkt sich OK, die schönsten und entlarvendsten Sätze nehmen wir in Fettdruck, aber eigentlich müsste man dann alles fett drucken, es ist auch alles derselbe Satz:

DIE ROLLE DES INDIVIDU­UMS IM KAMPF FÜR DIE BE­FREIUNG DER MENSCHHEIT

Als Kommunistinnen stehen in unserem Kampf nicht das ein­zelne Individuum und seine per­sönlichen Interessen, sondern die objektiven Interessen der Arbei-terlnnenklasse und die der unter­drückten Massen im Mittelpunkt unserer politischen Arbeit. Diese Ausrichtung ist wichtig, um unser Ziel, die Befreiung der Mensch­heit im Kommunismus, nicht aus den Augen zu verlieren und kon­sequent für unsere kollektiven Interessen, die Interessen unserer Klasse, eintreten zu können.

Gleichzeitig verneinen wir na­türlich nicht die Rolle des Indivi­duums im organisierten Klassen­kampf. Insbesondere in Zeiten, in denen die Klassenkämpfe von un­ten auf einem so niedrigen Niveau wie in Deutschland zur Zeit lau­fen, ist die persönliche Initiative klassenkämpferischer und revo­lutionärer Individuen oftmals aus­schlaggebend für die erfolgreiche Führung und Organisierung bzw. überhaupt die Entfesselung dieser Kämpfe.

Egal ob im Betrieb, in der Schu­le, der Universität oder im Stadt­teil: Es braucht immer aktive Individuen, die es schaffen, den Unmut und die Wut über die herr­schenden Verhältnisse, die Aus­beutung und Ungerechtigkeit in konstruktive politische Aktivität zu verwandeln und aus den Be­troffenen ein politisches Kollektiv zu formen.

Auch in der Kommunistischen Partei verschwindet das Individu­um und seine Rolle nicht, sondern entwickelt sich weiter hin zu ei­nem sozialistischen Individuum, welches stets die Bedürfnisse des revolutionären Kampfes in den Mittelpunkt stellt. In der Kommu­nistischen Partei wächst das Indi­viduum mit seinen Genossinnen zu einem einheitlichen revoluti­onären Organismus zusammen, welcher die Kräfte der einzelnen Individuen zielgerichtet in die für den erfolgreichen Kampf notwen­digen Bahnen leitet.

Ja selbst nach der erfolgreichen sozialistischen Revolution verliert die persönliche Initiative des Indi­viduums nichts von ihrer Wich­tigkeit. Ganz im Gegenteil! Für den Aufbau und die dauerhafte Weiter- und Höherentwicklung der sozialistischen Gesellschaft ist die massenweise persönliche Ini­tiative des revolutionären Indivi­duums unabdingbar, ohne sie ist die Weiterentwicklung hin zum Kommunismus gar nicht denkbar.

Wir sehen also, dass aus dem scheinbaren Widerspruch zwi­schen Individuum und Kollek­tiv im Kapitalismus durchaus eine untrennbare Einheit werden kann, wenn man Stück für Stück die bürgerliche Ideologie und ihre Wirkung auf das Individuum überwindet.

„Das Individuum“ hat seine Rolle darin, dass es in persönlicher Initiative „stets“ die Interessen des Kollektivs in den Mittelpunkt stellt. So einfach geht das! Aber was sind denn die Interessen des Kollektivs? Und wer legt diese fest? Ja, meine Herren, habt ihr euch mal überlegt: wenn das so einfach wäre, warum ist die menschliche Gesellschaft dann stattdessen so unentwirrbar komplex?

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Was macht eigentlich…

… die Verbrechensbekämpfung?

Der Herr Innenminister möchte nun doch keine Studie zu Racial Profiling in der deutschen Polizei.

Am Wochenende begründete das Ministerium Seehofers gegenteilige Entscheidung unter anderem damit, dass Racial Profiling in der polizeilichen Praxis verboten ist. „Insbesondere Personenkontrollen müssen diskriminierungsfrei erfolgen“, teilte ein Sprecher mit. Weder die Polizeigesetze des Bundes noch die einschlägigen Vorschriften und Erlasse erlaubten eine solche Ungleichbehandlung von Personen.“ Entsprechende Vorkommnisse seien absolute Ausnahmefälle.

Wenn etwas ohnehin bereits verboten ist, muss man auch keine Nachforschungen darüber mehr anstellen. Etwas zu feinsinnige, ja waghalsige Argumentation vielleicht für eine Polizeibehörde, wenn man mal genau nachdenkt.

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Wichtige Informationen

Folgende Fachinformation von Fachpersonal bitten wir, gründlich zur Kenntnis zu nehmen:

Mit Dank an das Fachpersonal.

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Was treiben jetzt unsere Freunde so?

von seepferd

Mal sehen, wie es den berufsmäßigen Souveränisten und anderen autoritären Corona-Leugnern aktuell so politisch geht.

Brasilien z.B.:

Wie sein Freund der Bunker-Donny scheint der Fascho Bolsonaro nur knapp an einem Impeachment-Verfahren vorbeizuschlittern. Wer weiß, vielleicht wird das noch was.

Am 21.Mai haben über 400 Organisationen der sozialen Bewegungen und die meisten Parteien der Linken (PT, PSOL, PCdoB, PCB usw.) sowie eine Reihe früherer Minister und weitere Persönlichkeiten die Amtsenthebung des brasilianischen Staatspräsidenten Bolsonaro beantragt.

Nominell hat die Regierung Bolsonaro schon länger keine Parlamentsmehrheit mehr, eigentlich hat sie nie über eine stabile verfügt. Sie hat wichtige Abstimmungen verloren, Präsidialdekrete wurden von Bundesrichtern aufgehoben, reaktionäre Vorhaben wie die Rentenverschlechterung, der Angriff auf das Arbeitsrecht und die Haushaltsbremse wurden zwar mehrheitlich durchgezogen, aber abgemildert oder bisher nicht befasst. Eine Mehrheit beschloss gegen seinen Willen soziale Nothilfen vor dem Hintergrund der Coronakrise. Die Bolsonaro-Partei PSL hat sich gespalten, die geschwächte bürgerliche Mitte geht inzwischen mehr oder weniger auf Distanz, die Parteien der breiteren Linken verfügen nur über ein Viertel der Parlamentssitze.

Z.B. Russland:

Das nördliche Brasilien versucht indes aktiv Maßnahmen zur Machtsicherung einzuleiten. Populismus, Volksbelustigung (wenn man so Militärparaden, Verfassungsänderungen und Kathedraleneinweihungen in Abwesenheit des sog. Volkes bezeichnen kann), mittels „Administrativressourcen“ inszenierte Volksplebiszite. Alles wie man es seit Jahren schon kennt. Ja, aber Putins Popularitätswerte sinken kontinuierlich. Ridl.io schreibt zu den besagten Verfassungsänderungen, die am 1. Juli abgestimmt werden sollen, Folgendes: Weiterlesen

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„Fuck Armageddon… This is Hell“

Werbeanzeige: Die Broschüre „Mein Freund der Untergang“ ist erschienen. Dies ist ein kleiner Beitrag zur Klimadebatten, die uns alle noch letzten Winter beschäftigt haben. Das Problem ist nicht weg, das Thema wird langsam wieder von verschiedensten gesellschaftlichen Gruppen aufgenommen.

Der Wunsch in 20, 30 oder 50 Jahren auch noch vor der Tür spazieren zu können, ohne ABC-Anzug leben zu können und sich nicht im Todeskampf um Trinkwasser zu befinden, ist nicht verrückt. Nicht von einem Atomkrieg in Luft aufgelöst zu werden oder wegen Verseuchung durch „Atomunfälle“ nichts mehr aus dem Boden essen zu können, war es ebenso wenig. Wo jedoch die gesellschaftliche Debatte sich von der Kritik an Ausbeutung von Mensch und Natur, von der Kritik an Herrschaft und Krieg löst und sich der Horizont einer radikalen Veränderung einebnet, da werden die falschen Verhältnisse zu Grundübeln des Menschen, mit denen man umzugehen hat, statt sie als veränderbar zu zeigen. Die Macht, mit der die Verhältnisse den ohnmächtigen Einzelnen gegenübertreten, lässt die Geschichte der Herrschaft in der Ohnmacht der Einzelnen als Naturgeschichte erscheinen. Und wo die Herrschaft des Menschen über den Menschen und über die Natur die Form einer ewigen Konstante annimmt, wird der Mensch selbst zum Feind. Die Verdrängung der Herrschaftsverhältnisse findet ihren profitablen Wiederhall in den Psychowaren der irregulären Kräfte ebenso, wie in den Konferenzen der “seriösen” Bataillone der Psychopolitik, die dieser nicht mehr so neuen Angstform bereits ihren akademisch-geadelten Begriff der “eco-anxiety” gegeben haben: Die Arbeit an der eigenen Psyche gerinnt zur scheinbaren Lösung der falschen Gesellschaft.

Die reale Angst der Menschen vor der Gesellschaft, wie sie ist, und vor dem, zu was sie fähig ist, verschiebt sich auf den Menschen an sich, der zum Feind, zum Schädling wird. Durch die Ohnmacht der Einzelnen erscheint die Realität als eine einzige Quelle von Gefahren und die Menschen selbst als deren Agenten. Diese Angst wirkt übermächtig und allgegenwärtig und ihre Gründe werden so undurchsichtig und verstellt – die Angst flottiert frei im Raum, der unsere Gesellschaft ist. Weil es der Mensch an sich sei, der Krankheitsbringer, Umweltzerstörer etc. ist, wird er selbst zur Angstquelle, zur Gefahr. Die Gefahr für Leib und Leben, die so dauerhaft gespürt wird, wird zur Paranoia – die anderen als potentielle Mörder. Der Mensch an sich wird zum Raubtier, zum Schädling, der an der Natur nagt und am Fortbestand der Menschheit selbst.Weil der gesellschaftliche Zusammenhang obskur und abstrakt, für die Einzelnen undurchschaubar wirkt, ist die Angst frei flottierend und ihre scheinbaren Gründe werden nach außen als Gefahr zur frei flottierenden Projektion. Für die Paranoia inkarniert sich die Gefahr immer wieder und quasi natürlich in einzelnen Gruppen, die tendenziell austauschbar werden; immer aber nehmen sie die Funktion des Bösen an sich an, stellen dessen Inkarnation dar. Von der “Umweltsünderin” zur “Bevölkerungsbombe” findet die “pathische Projektion” (Adorno & Horkheimer) ihren sprachlichen Ausdruck und differiert lediglich in der Erscheinung nach milieuspezifischen Habitus.

Das ganze ist als pdf-Datei auf  mediafire zu haben (ja, das sind satte 218 Mb). Wer die Broschüre in gedruckter Form erhalten will, kann gerne an unter-gang (a) riseup.net schreiben.

 

https://www.youtube.com/watch?v=0ONlH9ieqgc&pbjreload=101

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Buchbesprechung: Moufawad-Paul über den Maoismus

Buchbesprechung: J. Moufawad-Paul, Continuity and Rupture, Philosophy in the Maoist Terrain, Zero Books, Winchester u. Washington DC 2016

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Es gibt ganz offenbar ein Bedürfnis nach begrifflicher Klarheit, was die Überwindung der bestehenden Gesellschaftsordnung betrifft. Ein maoistischer Philosophieprofesser, Moufawad-Paul, hat in „Continuity and Ruptute“, 2016, eine Untersuchung vorgelegt, die das verspricht; und wenn man nicht allzu genau hinsieht auch hält. Ausgerechnet ein Maoist! Historisch waren die Maoisten von allen marxistischen Schulen die schlampigsten. Ihre Vorliebe war bisher eher die Inszenierung von krasser Gewalt durch gewollt einfältige Lüge.

Ein Philosophieprofessor weiss natürlich etwas über die studentische Jugend, das diese über sich selbst nicht weiss; er weiss, wie man das Bedürfnis nach zwingender Logik befriedigt. Alle bisherigen maoistischen Lehren hingen bisher schief unter dem Himmel; als grobe, willkürliche Gewaltakte ohne historische Rechtfertigung. Das macht einen Teil ihres Reizes aus. Moufawad-Paul hat nun unerfindlicherweise unternommen, ihnen den dazu nicht recht passenden Anschein historischer Notwendigkeit zu verfertigen.

Es ist ganz interessant, ihm dabei auf die Finger zu sehen. Die kleinen Fingerfertigkeiten der Philosophen sind ja im Grunde immer die gleichen seit den Tagen Hegels. Es hat sich seither auch erstaunlich wenig getan. Dasselbe bisschen Wahrheit wird um immer neue Unwahrheit gewickelt. Moufawad-Pauls Logik ist dabei bezwingend gearbeitet, wenn man einen Moment die Tatsachen aussenherum vergisst; oder auch, sie hilft dabei, die Tatsachen aussenherum zu vergessen, und das ist vermutlich ihr Zweck.

Aber seine Arbeit hat doch auch noch etwas anderes unverhofft gutes. Soweit die Wahrheit in seinen Sätzen nämlich trägt, gibt sie einen guten Zugang ab zu denjenigen politischen Ideen, die zeitweise Teile dieser Welt in Griff halten: über den Schein von Notwendigkeit, die sie ihren Anhängern vermitteln müssen, über die Quellen, aus denen sie diese beziehen, und über die ganze Welt von bloss willkürlicher Gewalt, der wir uns gegenübersehen müssen.

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M bezeichnet den Maoismus als Wissenschaft, genauer gesagt als neues Stadium einer Wissenschaft. Der Anspruch ist überraschend, ungewöhnlich, klingt vielleicht etwas angemasst und autoritär, aber öffnet das ganze ja immerhin der kritischen Überprüfung. Reden wir also über Wissenschaft! Gegenstand dieser Wissenschaft ist die Art und Weise der Überwindung der bestehenden Gesellschaftsordnung. Nun spricht nichts dagegen, das zum Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtung zu machen. Man muss so einen Anspruch dann aber auch einlösen können.

Marx hat, so M, den Anfang dieser Wissenschaft formuliert. Diesem Anfang entspricht in der Revolutionsgeschichte die frühe Zeit, der Revolutionsversuch der Pariser Commune. Diese frühen Revolutionsideen waren natürlich nicht vollkommen, sie trugen in sich Begrenzungen, und sie scheiterten notwendig; sie mussten in einem längeren Prozess überschritten werden, einer Kritik unterzogen, und anhand der Praxis in ein neues Stadium überführt. Das war die Arbeit, die, so M, in der russischen Revolution von Lenin übernommen wurde. Der Leninismus war natürlich nicht dasselbe wie der ursprüngliche Marxismus, sondern seine wissenschaftliche Weiterentwicklung.

M benutzt einen Vergleich aus der Wissenschaftsgeschichte immer wieder. Die alte Physik nach Newton stellte Sätze auf, die in der Optik und Elektromagnetik zu unmöglichen Resultaten führten; die Relativitätstheorie formulierte diese Sätze auf eine Weise um, die es gestatteten, die Wissenschaft bedeutend weiterzuentwickeln. Nach Einstein würde, so argumentiert er, niemandem gestattet sein, über die Gegenstände der relativistischen Physik mir vorrelativistischen Formeln herumzurechnen; sie mögen noch so orthodov newtonianisch sein, sie sind von der neuen Physik überholt.

Dasselbe beansprucht er für den Leninismus. Der Leninismus ist unter den marxistischen Schulen diejenige, die den Marxismus als einzige richtig weiterentwickelt hat; hinter seine Ergebnisse kann man nicht zurück. Er zitiert hier Zizek, der denselben Gedanken mit einem theologischen Bild ausdrückt: man könne genauswenig hinter Lenin direkt auf Marx zurückgreifen, wie man hinter Paulus direkt auf Jesus zurückgehen könne. Die Verrücktheit dieser theologischen Metapher ist beiden nicht aufgefallen. Marx war hautpsächlich ein Schriftsteller, und seine Werke sind bekanntlich überliefert. Jesus ist eine Gottheit und hat nie historisch existiert, sondern war eine Gestalt der kirchlichen Überlieferung, wie die Neutestamtentaristik gar nicht mehr bestreitet. Die Äusserungen Gottes in der Geschichte sind theologisch tatsächlich immer nur als durch die Kirche vermittelt gefasst. Es ist etwas übertrieben, dasselbe von Marx zu sagen.

Den ganzen Unsinn braucht M. auch hauptsächlich, um dasselbe über den Maoismus zu sagen. Auch die russische Revolution und der Leninismus hatten ihre inneren Begrenzungen, an denen sie gescheitert sind; und alsobald tritt dann in Gestalt des Maoismus eine Weiterentwicklung auf den Plan, die genau dasselbe historische Privileg erbt: der Maoismus ist dann nicht mehr eine besondere Form unter den terroristischen politischen Bewegungen, sondern die einzige gültige Form von wissenschaftlicher Revolutionstheorie, alles andere ist bedauernswerter, aber ohnmächtiger Irrtum.

Und dieser Maoismus ist sehr neu. Er ist keineswegs die Theorie und Praxis von Mao, sondern erst in den 1980ern entstanden. Diese Behauptung ist kühn und vielleicht sogar überspannt, aber das Zentrum seiner Darlegung. So wie Lenins Theorie erst von seinen rechtgläubigen Nachfolgern, die wir die Stalinisten nennen, fertig entwickelt worden ist, so auch die Maos. Mao überschreitet, sozusagen, den Leninismus erst, wo er nicht mehr Mao ist, d.h. nach seinem Tod in Gestalt von ganz anderen Leuten, zu denen wir gleich anschliessend kommen. Man könnte einwenden, dass der wirkliche historische Lenin ja immerhin ein tätiger Revolutionär gewesen ist, der mumifizierte Leninismus seiner Epigonen aber bekanntlich steril; M. gelingt es aber an dieser, solche berechtigten Bedenken rhetorisch zu zerstreuen. Im Falle Maos soll es umgekehrt sein.

2
Die Neuheit, kraft derer der Maoismus aber die uns allen sehr gut bekannten inneren Begrenzungen des Leninismus überwinden soll, wäre die sogenannte Massenlinie und die Methoden der Kulturrevolution. Der Leninismus scheitert nämlich, wie die Geschichte der Sowjetunion gezeigt hat, an der neuen herrschenden Klasse, die er an die Macht bringt. Die Herrschaft dieser neuen Staatsklasse steht praktisch vom Moment ihrer Machtergreifung dem weiteren Fortschritt der Revolution im Weg.

Den Maoisten ist das besonders schmerzlich aufgefallen, nachdem die Führung der Sowjetunion den Stalin-Kult abgeschafft hatte. Urplötzlich stellte sich heraus, dass unter die sozialistischen Gesellschaftsform nicht mehr einen sozialistischen Klasseninhalt hatten, sondern auf einmal einen bürgerlichen: die Ökonomie unter Chruschtschow wurde auf einmal wieder nach betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten geführt. Was aber war denn den vorher offenbar vorherrschende sozialistische Inhalt der Formen? Es war, wie uns maoistische Autoren versichern, derselbe, der den Aufbau der sowjetischen Industrie geleitet hat, also, wie wir leicht herausfinden können, die direkte zentrale Kommandowrtischaft, unterstützt durch die ungeheure Entfesselung des Terrors.

Der „proletarische“ Klasseninhalt der stalinistischen im Unterschied zur späteren „revisionistischen“ Sowjetunion ist also nicht etwa durch irgendeine besondere Stellung des wirklichen Proletariats bestimmt, sondern dadurch, dass er die gewaltsamste denkbare Negation des normalen, in gebräuchlichen Formen fortschreitenden, deswegen „bürgerlich“ genannten Betriebs ist. Das wirklich Proletariat ist für die stalinistische Staatsbürokratie ein Rohstofff, mit dem verschwenderisch umgegangen werden kann. Sobald natürlich die unmittelbar terroristische Aufbauphase endet, zeigt sich, dass diese ungeheure sogenannte sozialistische Industrie nach keinen anderen Prinzipien betrieben werden wird als die kapitalistische Industrie auch, deren direkte Nachahmung sie ist.

Den Maoisten ist das natürlich kein Argument gegen die terroristische Aufbauphase, sondern gegen den anschliessenden „Revisionismus“, also den staatlich kapitalistischen Gebrauch der terroristisch hergestellten Machtmittel. Dieser letztere führt ganz offensichtlich nicht in den Sozialismus, aber aus irgendeinem mystischen Grund gilt das für den terroristischen Staatsaufbau selbst nicht, im Gegenteil. Dieser ist nur von einer regierenden Clique böswillig für den eigenen Machterhalt missbraucht worden. Diesen Übelstand abzustellen, dazu gibt es natürlich kein besseres Mittel, als den Terrorismus permanent zu machen.

Es klingt alles komplett wahnsinnig, aber das war der Inhalt der Kritik des chinesischen Maoismus an der Sowjetunion ab 1960. Und in der sogenannten Kulturrevolution, so erfahren wir bei M., wandte die chinesische Partei diese Kritik auf sich selbst an: die Roten Garden, die Mao gegen den Parteiapparat mobilisierte, sollen, so hören wir, eine praktische Kritik der Begrenzungen des reinen Leninismus gewesen sein.

Weiran Lin, der als Schüler dabei war und es später historisch untersucht hat (The Cultural Revolution and Class History, Madison 1996), weiss es anders: die Roten Garden waren ürsprünglich die Jüngelchen der privilegierten Parteikader, die vom Führer ermächtigt wurden, ihre nichtprivilegierten Kommilitonen, Lehrer usw. in Unterwerfung zu terrorisieren oder umzubringen. Die Funktionärsjugend des Staatskapitalismus ersäufte ihre Lehrer, weil deren Eltern Bauern, oder die es die goldne Jugend nannte: Kapitalisten waren. Als sich dagegen in der zweiten Phase die Bauernjugend begann, ebenfalls zu organisieren, und Kinder der herrschenden Schicht als das anzugreifen, was sie waren: als die Leute der neuen herrschenden Schicht, da fand der Führer das selbstverständlich übertrieben. Als die Partei, die neue herrschende Klasse, in das Fadenkreuz neuer Arbeiter- und Studentenverbände geriet, wurde das Militär mobilisiert und die Kulturrevolution abgebrochen.

Ja, sagt M., das liegt daran, dass der Maoismus damals noch nicht wirklich vollendet war, noch erst gefunden wurde. Der Abbruch der Kulturrevolution, das bewegt sich noch in den Grenzen des alten Leninismus. Der Maoismus überschreitet diese Grenzen erst, wo er solche Dinge wie in der Kulturrevolution nicht als Exzesse, sondern als Methode begreift! Die organisierten Massen müssen die Partei kritisieren und ihr ihren Willen aufzwingen dürfen. Dann, aber auch nur dann, wird die Partei wirklich das Werkzeug der arbeitenden Klasse, die Garantin ihrer Einheit, ihre Stimme und die Organisation ihres politischen Willens.

3
Das Problem, das M. hier behandelt und für das der Maoismus die Lösung zu sein beansprucht, gibt es ja tatsächlich. Im westlichen Marxismus wird es traditionell unter dem Namen der „Klasse an sich“ behandelt, die auf irgendeine Weise zu der „Klasse für sich“ werden soll. Hier geht es nicht weniger mystisch zu: eine in sich unverbundene Menge von Menschen, oder eine nur über das Getriebe der kapitalistischen Wirtschaft verbundene Menge von Menschen soll zu einem handlungsfähigen historischen Subjekt werden; mit einem eigenen Willen. Und zwar kann sie das, in den lukacsianischen Varianten, natürlich nur vermittelst der Partei. Die Partei hat, dank des demokratischen Zentralismus, einen einheitlichen Willen; sie hat aber natürlich an sich kein proletarisches Klassenbewusstsein. Sondern sie hat an dessen Stelle zunächst nur den dialektischen Materialismus, das heisst den Marxismus-Leninismus; eine Intellektuellenideologie, die dem Bürgertum entstammt.

Das ist gar keine böswillige Unterstellung, sondern der Marxismus-Leninismus gibt das ja völlig freimütig zu: die Arbeiter haben nicht die Zeit und die Mittel, in ihrer Lage direkt zu einem ausgearbeiteten Verständnis ihrer Lage zu kommen. Diese Zeit und Mittel haben nur die Angehörigen der privilegierten Klassen, die bürgerlichen Intellektuellen. Die Partei wird, wo sie gegründet ist, auch notwendig von diesen gegründet und beherrscht, so dass sich das Problem stellt, wie sie zu einer Partei der Arbeiter werden kann. Indem sie Arbeiter als Mitglieder gewinnt, indem ihre Mitglieder in die Organisationen der Arbeiterklasse, in die Gewerkschaften hineingehen und an deren Kämpfen teilnehmen?

Aber, wie die Leninisten sagen, diese Kämpfe haben einen nur ökonomischen Inhalt. Die Partei verliert, wenn sie in diesen aufgeht, ihren eigenen politischen Inhalt, ohne dass etwas gewonnen ist: sie muss handeln, als teile sie die Illusion über die Erfolgssaussicht solcher Kämpfe, ohne ihnen Einheit und Überblick hinzufügen zu können. Das Problem ist echt, d.h. es ist nicht dadurch gelöst, dass man den Leninismus und den diktatorischen Staat ausstreicht. Das Problem kennen ja, unter einem anderen Namen, die Anarchisten auch. Woher sonst neuerdings wieder das Interesse am Plattformismus?

Die ungeheure Menge an Sekten, die mit unberufenen Ratschlägen am siechen Körper der Klassengesellschaft herumdoktern, gibt es ja nicht deswegen, weil die Linken alle freiwillig dumm wären, sondern weil in der Tat der Zustand dieser Klassengesellschaft so ist, dass notwendig ausser den Kindern der intellektuellen Schichten niemandem auch nur ein unberufener Ratschlag einfällt. Bloss weil, hat Jochen Bruhn irgendwo einmal gesagt, die Vermittlung zwischen Klasse an sich und Klasse für sich nie gelungen ist und nie gelingen wird, heisst das noch lange nicht, dass ohne eine solche Vermittlung an die proletarische Revolution zu denken wäre.

4
An eine Lösung ist aber nicht zu denken. Was hier misslingt, misslingt nicht wegen irgendeiner Unzulänglichkeit. Das Subjekt der Revolution, der Gesamtwille der proletarischen Klasse, ist nämlich gerade so gut zu finden oder auch nur zu denken wie der Gesamtwille der bürgerlichen Gesellschaft, auf die man sich den Staat und das Recht so sicher gegründet vorstellt. Dass die Mitglieder der Gesellschaft neben ihrem besonderen Willen, ihrem Eigeninteresse als Privatperson, auch noch einen anderen Willen bilden könnten, der ihre Handlungen als Staatsbürger bestimmt: derartiges wäre seit Rousseau sogar den bürgerlichen Staatstheoretikern zu mystisch. Aus der einfachen Addition der einzelnen Privatwillen wird nie und nimmer ein nicht-privater Gesamtwillen. Wie aber dann?

Der Staat steht, das hat die Untersuchung (s. Finkenberger, Staat oder Revolution, bei ca ira, Freiburg 2015; demnächst Bd. II) gezeigt, der Gesellschaft äusserlich gegenüber, er geht nicht organisch und einsichtig aus ihr hervor, auch und gerade nicht unter der Demokratie; und in genau demselben Verhältnis steht die Partei zu der Klasse. Der Staat erscheint als eine Verdoppelung der Gesellschaft, als die Gesellschaft nocheinmal, unter der Form einer eigenen Person, neben der Gesellschaft; weil die Gesellschaft gerade eigene Handlungsfähigkeit, eigene Organe nicht hat. Und ganz analog zeigt sich, dass die Partei aus der Klasse an sich auf gar keine Weise hervorgehend gedacht werden kann, aber so, dass sie sich anmassen muss, der Klasse gegenüber die Klasse für sich darzustellen.

Es wird kein bisschen besser dadurch, dass es hier ja schliesslich um den proletarischen Gesamtwillen geht, nicht um den einer Klassengesellschaft. Das Problem sitzt gar nicht auf der Klassenspaltung, sondern auf der Gesellschaftlichkeit. Es stellt sich für die sogenannten sozialistischen Gesellschaften nicht anders als für die bürgerlichen, eher noch unmittelbarer.

Und so ist der Maoismus, dessen vollen philosophischen Begriff M. her begründet, tatsächlich der terroristische Versuch, eine Lösung zu synthetisieren, wo eine Lösung nicht gelingen kann; das revolutionstheoretische Problem der Klasse an sich zu lösen, und durch dieses wiederum das Problem der Staatsgründung. Und es gibt da an sich nichts neues. Im Gegenteil.

5
Die Revolutionsgeschichte seit 1792 weiss von einigen Bewegungen dieser Art, die das Problem der Revolution, das heisst der Errichtung einer Gesellschaft auf ganz ähnliche Weise zu lösen versucht hat. Nehmen wir als Beispiel Blanqui, dessen Name wie Erzklang das 19. Jahrhundert erfüllt hat, wie Benjamin meinte! Der Einfluss Blanquis und seiner Schüler auf alles, was nach ihm kam, wird zu Unrecht verkleinert; „alle seiner Schüler verleugneten ihn / ausser einem“, heissts bei Enzensberger Mausoleum, und der war Mussolini.

Und damit sage ich nichts über die Art des Einflusses. Es wird aber niemand behaupten, dass die Blanquisten sich besonders hervorgetan hätten durch übermässiges Interesse an der Verbesserung der Lebensbedingungen hervorgetan hätten, oder gar mit einem Sozialprogramm oder irgendeiner Vorstellung von der konkreten Einrichtung bekannt geworden wären. Sie haben überhaupt kein nachweisbares Interesse am Sozialismus gehabt. Alles, was an ihm für sie Interesse hatte, war die Revolution, die zu ihm nötig sein würde; die ihr Gelegenheit gäbe, an die Grosse Revolution, die patriotische Mobilisierung von 1792 und die Entfesselung des Terrors anzuknüpfen, in deren Gluthitze dann die neue Gesellschaft entsteht.

Sie hatten keine Idee, wie diese neue Gesellschaft dem Schicksal entgeht, zu werden wie die alte auch, wie also das Problem des gesellschaftlichen Organisation zu lösen ist ohne Wiederherstellung der Formen Privateigentum, patriarchale Familie und Staat: und die Gewerkschafts- und die Genossenschaftsbewegung, die zu diesen Fragen unendlich viel mehr nützliches beigetragen haben, haben sie verachtet wie die Leninisten den „Ökonomismus“; das muss uns misstrauisch machen. Es ist nicht schlichtweg die autoritäre, sondern präzise diejenige Tradition innerhalb des revolutionären Sozialismus, der man mit dem grössten Misstrauen begegnen muss: diejenige, die mit den Fragen der wirklichen gesellschaftlichen Praxis in gar keiner Beziehung steht.

Eine Revolutionstheorie, die ohne Hinsehen auf solche Dinge entworfen wird, und jede maostische hat bisher dazugehört (ja, jede „Revolutionstheorie“), kann genausogut im Namen jeder anderen Lehre, Sekte oder Idee hingestellt werden. Der Sozialismus ist bei diesen nur ein äusserlicher Zierat, der leicht weggetan werden kann. Pol Pots Partei hat ihn ja von einem Tag auf den anderen zugunsten des reinen Rassismus fallen lassen. Dieselbe Revolutionstheorie kann auch einer ganz anderen Tendenz dienen. Die verschiedensten Regime haben vom Maoismus gelernt. (Hat eigentlich Mao vom Maoismus gelernt? Grice, The Myth of Mao and Modern Insurgency, Palgrave MacMillan 2019 stellt diese berechtigte Frage. Aber die Rede ist, wenn wir M. folgen, ja nicht von Mao, sondern dem Maoismus, und das sind zwei sehr verschiedene Dinge.)

6
Wenn man M.s sehr konzise argumentiertes Werk, in dem vom Sozialismus kein nenneswertes Wort steht, durchliest, fühlt man vielleicht unweigerlich an die innere Dynamik der jihadistischen Bewegung erinnert. Auch dort streitet man sich ja, welche der bewaffneten aufständischen Organisationen auf welchem rein zufälligen Flecken der Welt das im Moment legitime Vaterland der Gläubigen ist, welchem Befehlshaber der Gläubigen man Gehorsam schuldet, und welche anderen Gruppen aus welchen Gründen vom richtigen Weg abgewichen und Verräter geworden sind.

Mit dem Tod Maos und dem Sturz seiner Richtung in China wird auch der Platz an der Spitze der maoistischen Weltbewegung vakant, und die diversen Prätendenten beanspruchen die Nachfolge. Die richtige Linie einer Organisation reicht nicht aus. Hat sie auch eine Partei gegründet, führt sie die Massenlinie korrekt durch, beherrscht sie Gebiete, hat sie den sogenannten Volkskrieg begonnen? Der sogenannte langwierige Volkskrieg ist die höchste politische Entfaltung des Maoismus. Alle seine politischen Begriffe münden in diesen ein: nicht nur ist er die ultimative Perspektive der Umwälzung, sondern von ihm aus bestimmt sich auch die Richtigkeit aller sonstigen Begriffe, und zuletzt auch, welche maoistische Gruppe eigentlich die wahre Partei ist.

Denn es haben viele bewaffnete Gruppen ähnliches begonnen, und der Nichteingeweihte wird hier vermutlich vermuten, etwa die EZLN, die PKK, oder ähnliche Organisationen wenigstens erwähnt zu finden. Nichtsen. Der maoistische Aufstand in Nepal bis zum Friedensschluss (danach Verrat), der in Indien und der auf den Philippinen gelten noch als rechtgläubig genug. Aber als ultimatives Eichmass gilt der Aufstand des Leuchtenden Pfads in Peru; dessen geliebter Führer Guzman, den sie Präsident Gonzalo nennen, beansprucht immerhin, das fünfte Schwert des Marxismus zu sein: nach Marx, Lenin, Stalin, Mao. Man sieht, es geht um geschichtstheologische Legitimität: es gibt in jedem Zeitalter nur einen Imam. Das Auftreten des nächsten Imams eröffnet das nächste Zeitalter.

Wer das jetzige Schwert, den Anführer des jetzigen Zeitalters nicht anerkennt, kann nicht rechtgeleitet sein. In dem Anführer und den Kultus, der um ihn gemacht wird, konzentriert sich die Einheit der Partei. Je abstruser die Lobhudelei um seine übermenschliche Genialität, desto mehr muss sie geglaubt sein. Denn nur dieser Glaube vermittelt die dringend benötigte Einheit, ohne ihn besteht von ihr nicht eine Spur. Er garantiert die Einheit der Partei mit ihrer historischen Bestimmung, und damit ihren einzigen Anspruch, die gesellschaftliche Einheit zu verkörpern. Das Illusorische daran ist das realste daran.

7
Die Partei entscheidet auch nicht aufgrund wirklicher gesellschaftlicher Bedürfnisse, welche Form des Kampfes sie zu wählen hat, sondern sie handelt in völliger abstrakter Souveränität. Sie verhält sich gegenüber der gesellschaftlichen Realität, als Depositarin der politischen Entscheidung, nicht als abhängige Funktion gesellschaftlicher Kämpfe. Sie konstituiert sich nicht durch einen Akt der Klasse, oder sonst einer gesellschaftlichen Grösse, sondern auf übernatürliche Weise durch einen blossen Willensakt, der keine Voraussetzungen hat.

Das wird selten so klar ausgesprochen, aber ist in M.s Darstellung mit Händen zu greifen. Der Volkskrieg, wie sie es nennen, wird ja nicht vom aufgenommen, weil das „Volk“ es so will, sondern weil die Führung es für richtig befindet. Seinen Erfordernissen wird alles andere untergeordnet. Der Wille des „Volkes“ dient der Führung als Ansatzpunkt, sie zu manipulieren und um ihre kleinlichen ökonomische Interessen zu betrügen, im Namen der eigenen höhen Einsicht. (Man lese ruhig in der durchaus sympathisierenden Beschreibung bei Meisner, Mao’s China and After, Simon & Schuster 1999 die Kapitel über die Kollektivierung und die Kulturrevolution.) Sie wird auch gewaltsam gegen die Klasse durchgesetzt. Und das muss sie auch, weil weder der Volkskrieg noch ein Sieg dem „Volk“ irgendetwas zu versprechen hat ausser nur mehr und neue Leiden.

Der Kampf wird auch gar nicht begonnen um eines Ziels willen, sondern um der Dynamik willen, die er freisetzt. Der Kampf entscheidet nicht, wie bei den früheren Leninisten, eine einmal eingetretene „revolutionäre Situation“, sondern er stellt eine solche Situation überhaupt her. Er zerreisst das Kontinuum des gesellschaftlichen Lebens, zwingt allen ihren Insassen eine unmögliche Entscheidung auf, treibt sie in Gewaltsamkeiten, und reisst ihnen die Möglichkeit, unbeschadet durchzukommen, aus der Hand. Er kommt nicht aus vorhandenen Widersprüchen, sondern wirkt wie von aussen auf sie ein. Er katalysiert den gesellschaftlichen Prozess, löst ihn in seine konflikthaften Elemente auf, zerstört seine Grundlagen und wirft sich dann in den eroberten Gebieten zur einzigen Macht auf, die Hilfe verspricht.

Von einem strategischen Feind kann er nicht ohne weiteres geschlagen werden, da er keine strategische Position hat, deren Verlust sein Ende bedeutet; kein strategisches Ziel, auf das er Rücksicht nehmen muss; nichts ausser dem Kampf selbst. Der bewaffnete Kampf löst die alte Ordnung auf, und wenn er langsamer ermüdet als sein Feind, dann erzwingt er eine neue Ordnung.

Oder so verhält es sich in der Ideenwelt der neueren maoistischen Theorie und allen ähnlichen Bewegungen. In Wahrheit besteht der Prozess nur, solange die Führung besteht. Wenn die Guerilla bedroht ist, zieht sie sich zurück und lässt die Bauern schutzlos der Rache ausgeliefert zurück. Aber Guzman („Präsident Gonzalo“) wurde mit seinem Stab im ersten Stock einer Tanzschule gefasst, und alsobald war der Spuk vorbei; aus dem Gefängnis wandte sich das Fünfte Schwert an die Partei und verkündete das glorreiche neue strategische Ziel, nämlich den Kampf einzustellen, um seinen allerhöchsten Arsch zu retten. Und sie parierte. (Über diese wahnsinnige Geschichte Degregori, How Difficult It Is To Be God, University of Wisconsin Press, Madison 2012)

Nichts an dem ganzen Unsinn ist nämlich wahr ausser der Zerstörung, die er hinterlässt. Wie schafft denn „das Kapital“, die alten Gesellschaften zu zertrümmern und sich zu unterwerfen? Schaut nach China. Der ungeheure Aufschwung des Kapitalismus in China ist das glorreiche Ergebnis der Grossen Proletarischen Kulturrevolution, und wird dort allgemein als das kleinere Übel gesehen; die Trümmer der Bauerngesellschaft in Peru, die der Leuchtende Pfad hinterlassen hat, hat er der städtischen Industrie in den Rachen geworfen. Am Ende, wenn der Wahnsinn sich ausgebrannt hat, räumt man ihn fort und kehrt zum ganz gewöhnlichen Kapitalismus zurück; bis die unvermeidbaren Intellektuellen zum Schluss kommen, hier sei ein skandalöser Verrat begangen worden, und irgendwo das ganz nocheinmal anfangen, nur noch radikaler.

8

Was muss man also zu dem Buch sagen? Es ist eine hervorragende Darstellung einer Sache, die man nur mit Lug und Trug verteidigen kann. Fast alles daran klingt zwingend, und nichts daran stimmt. Den Intellektuellen, die in ihren einem Jahrhundert alten leninistischen Schemata gefangen sind, wird nichts dagegen einfallen können. Dazu greift M. zu tief in die Grundlagen aller ihrer Irrtümer. Das Thema, weil falsch gestellt, arbeitet für ihn.

Natürlich heisst das nicht, dass er durchschlagenden Erfolg haben wird. Die Welt ist nicht so eingerichtet. Seine Sekte wird keineswegs alle anderen Sekten auffressen. Nach aller Erfahrung werden alle Sekten noch eine Weile bestehen bleiben. Sie werden den neuen Maoisten allerdings immer ihre Unbekümmertheit um Tatsachen neiden, ihre Rücksichtlosigkeit, die sie für Vitalität halten müssen, und ihre gezielte Herunterdummung, die ihnen als volksnah erscheinen.

Was ist schon die alte trübe DKP gegen den Leuchtenden Pfad? Vereine ihresgleichen gewinnen den glanzlosen Schimmer von Leuten, die zwar das Mittel wollen, aber nicht das Ziel. Allen diesen Sekten läge als Konsequenz nahe, so zu werden, wie M. es beschreibt, aber können sich dazu nicht entschliessen können. M. hat ja auch eine Kritik dieser Sekten, die ist sehr lesenswert, aber nicht gut; vor allem auch ein ganzen Kapitel über den Trotzkismus.

Wogegen er seine Idee aber am klarsten abgrenzt, ist das, was man auf politikanten-englisch den Movementismus nennt; diese Tendenz in den 2000en, sich in Einzel-Punkt-Bewegungen zusammenzutun, formlos, organisationslos, und ohne eine allgemein geteilte Idee, was man über diese Einzelpunkte hinaus sonst noch will. Dagegen aber die Partei! Da weiss man wenigstens, was man bekommt, nämlich den Kultus des Geliebten Führers; und nicht viel mehr, denn die Partei weiss es auch auf keine Weise besser. Woher auch? Diese Movementismuskritik ist deswegen gleichzeitig das fadenscheinigste, und das, was bei der Leserschaft am ehesten verfangen wird.

Denn es ist dieser doch nicht aus dem Kopf zu treiben, dass es ihre, der Durchblicker, Aufgabe und Bestimmung ist, Dinge miteinander zu vermitteln, die sich nicht vermitteln lassen, wenn sie sich nicht selbst vermitteln; dass die Aufgabe ihrer Klasse, der Intellektuellen, es ist, Veränderungen anzuleiten, die nicht geschehen können, wenn sie angeleitet werden müssen.

Die Maoisten würden widersprechen: sie haben ja die Massenlinie. Die Partei lernt doch von den Massen! Sie lernt ihnen nach dem Mund reden, um sie zu betrügen. Auf diesen Betrug, so alt wie Gott und der Staat, läuft auch die Linke des 20. Jahrhunderts im wesentlichen hinaus. Und der neueste Maoismus ist ihr letzter und höchster Ausdruck gewesen. Wenn man es anders will, muss man es auch anders machen.

Die Ära dessen, was M. den Movementismus nennt, ist ab 2005 zu Ende gegangen. Sie hat nicht viel mehr hinterlassen als Fragen. Da werden wir M. nicht widersprechen. Die Revolutionen des letzten Jahrzehnts sind unterdrückt worden, und zu leicht unterdrückt worden. Auch da widersprechen wir ihm nicht. Aber vor den Antworten, die er gibt, haben wir auf der Hut zu sein, und vor denen, denen diese Antworten einleuchten. Unsere eigenen Antworten, die demnächst darzulegen sein werden, müssen davon ausgehen.

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Auch aus Italien (und nicht nur)

Auf Sizilien kümmert sich die Mafia um die Schwachen. Oder – „kümmert sich“:

On the island of Sicily, the brother of a mafioso – a member of a mafia group – has been distributing food to the poor in a neighbourhood of Palermo. „People ring me and they cry over the phone,“ he says. „They say their children can’t eat. A young woman has been calling me every single day. She has five kids and doesn’t know how to feed them.“ He wouldn’t confirm that he was part of the mafia himself, but he said that if being a mafioso meant helping people, then he was „proud to be a mafioso“. The coronavirus is new, but distributing food parcels to the needy is an old mafia tactic. „The aim is to gain credibility and to step in as an alternative to the state,“ says Nicola Gratteri, an anti-mafia investigator and head of the prosecutor’s office in Catanzaro, in Calabria. The goal is to strengthen a base of support, he says.

In Indien die maoistische Guerilla:

While this is the modus operandi of the Mafioso in Italy the Maoists’ is no different. They are past masters in reaching out to the people and later using them to their advantage, as a matter of routine even during normal times. This researcher was told during a field visit to Bastar in the central Indian State of Chhattisgarh that the Maoists liberally finance the local poor populace to purchase vehicles. Subsequently, they collected a fixed levy on each vehicle and use them to ferry their ‘goods’. In their strongholds, the rebels organise the tribal populace engaged in tendu leaf plucking and timber felling, bargain on their behalf with contractors, and secure better wages for them. In return, these people contribute to the Maoist coffers, as well as become members of the rebels’ Jan Militia, the Base Force of the Maoists, and participate in attacks launched by the rebels. Also the Maoists ‘park’ their money with trustworthy and sympathetic realtors who faithfully return the same when asked for.

In the Maoist scheme of things there are no ‘free lunches’. The rebels are running an ‘enterprise’; not a ‘charity’.

In Afghanistan:

In late March, the Taliban released an unusual video. Instead of the usual imagery of fighters in formation or training, the footage showed members of the Islamist group in surgical masks as they conducted door-to-door temperature checks and distributed hand sanitizer. A heavily accented voice-over in English promised that the Taliban health commission had the pandemic under control. The narrator claimed that the Taliban had established public health information teams, a dispensary campaign, and even quarantine centers.

This is but one example in a string of videos, announcements, and restrictions the Taliban have undertaken in response to the unfolding global crisis. Several weeks prior, the Taliban announced that returnees from Iran, where the virus was then rapidly spreading, would be forced to quarantine in their homes for two weeks. The Afghan government, by contrast, was facing growing criticism for having taken little action to screen the 15,000 people entering its borders each day.

Oder in Zentral- und Südamerika:

During the coronavirus pandemic, governments have undoubtedly been the lead actors in imposing restrictions on their populations while financially supporting individuals and firms for lost income. But in numerous countries, governments have very limited capacity or have to live with mafia-type organisations. These groups differ from standard criminal operations because they act like a state within a state.

As researchers Gianluca Fiorentini and Sam Pelzman wrote in 1995 of these groups, they “perform inside [their] territory those activities that typically characterise a collective decision-maker’s intervention on the economy: levying of taxes, coercive provision of public goods, and regulation of private agents through non-fiscal tools”. Little has changed since.

Irgendeine bawaffnete Räuberbande, so würde der hl. Augustinus sagen, setzt sich immer auf die Gesellschaft drauf. Was ist das Gegenmittel dazu?

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Aus Italien

In der Lombardei – und vor allem in der Provinz von Bergamo – haben sich die Unternehmer mithilfe durchgeknallter Regionalpolitiker (PD-Bürgermeister von Bergamo) in dem Moment durchgesetzt, in dem sich das Virus am stärksten verbreitete. Sie haben die Betriebe um jeden Preis offengehalten. Eine der größten Metallfabriken konnte ihren Arbeitern keine Masken und andere Schutzausrüstung anbieten – sie gaben ihnen aber Glasreiniger, um sich die Hände zu desinfizieren!

Erst am 22. März – nach einer 18stündigen Videokonferenz zwischen Unternehmern, Staat und Gewerkschaften – wurde beschlossen, die »nicht-lebensnotwendige« Produktion herunterzufahren. Am selben Tag jedoch zogen die Unternehmen einen Teil des Kompromisses zurück. Erst jetzt riefen die Gewerkschaften für den 25. März zum Streik auf.

Unterm Strich ist es dem Unternehmerverband gelungen, die Produktion fast bis Ende März aufrechtzuerhalten. Der Handyüberwachung zufolge waren noch am 24. März – trotz Schulschließungen und Home-Office – mehr als 60 Prozent der Menschen unterwegs. Erst mit dem Streik am 25. März und einer strikteren Bestimmung von »lebensnotwendig« ging die Bewegung um 40 Prozent zurück. Die Fortsetzung der Produktion hat direkt Menschen umgebracht.

Lest das ganze Ding. Zur Einordnung.

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Das neuere Urteil des BVerfG zur EZB

Das BVerfG hat in den zu gemeinsamer Entscheidung verbundenen Streitsachen 2 BvR 859/15, 2 BvR 1651/15, 2 BvR 2006/15, 2 BvR 980/16 über die Verfassungsbeschwerden der Hans-Olaf Henkel, Bernd Lucke, Peter Gauweiler u.a. am 5.5.2020 entschieden. Die Klagen richteten sich gegen die Teilnahme der Bundesbank an dem Aufkaufprogramm für europäische Staatsanleihen PSPP der europäischen Zentralbank.

Dieses 2015 aufgelegte Programm, nebst einigen kleineren ähnlichen und daran angelehnten, ist die einzige dauerhafte und wirksame Antwort der EU-Strukturen auf die Folgen der grossen Krise von 2008, die die europäischen Südländer, am sichtbarsten Griechenland, in den Ruin gestürzt, und die osteuropäischen Länder restlos der deutschen Industrie unterworfen hatte.

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Es funktioniert einigermassen verwickelt und bizarr. Der EZB-Rat beschliesst die Grösse der Ankäufe; die Zentralbanken der Mitgliedstaaten, z.B. also die Bundesbank, setzen sie je nach ihrem Anteil am Kapital der EZB um. Sie kaufen die Anleihen allerdings nicht direkt bei den emittierenden Staaten, sondern auf dem offenen Markt. Das heisst: ein Staat wie Griechenland oder Italien nimmt Anleihen am Kapitalmarkt auf, d.h. verkauft Anleihepapiere auf dem Kapitalmarkt; und von denen, die dem Staat diese Schuldtitel abkaufen, kauft dann eine Zentralbank diese Schuldtitel wieder, und zwar mit Zentralbankgeld, d.h. mit frisch und eigens in diesem Akt ausgegebenen Euros.

Auf diese Weise erhöht sich die in den Umlauf gegebene Geldmenge. Und im Gegenzug erhöht sich die Bilanzsumme der Zentralbanken um dieselbe Menge an Schuldtiteln, d.h. das Vermögen der Bank, mit welchem sie wiederum die ausgegebene Geldmenge deckt. Das ganze kommt den guten Bürgern beim genaueren Nachdenken oft ziemlich unsolide vor. Denselben guten Bürgern würde nie in den Sinn kommen, etwas unsolides an der Art zu finden, wie eine Zentralbank gewöhnlich und von jeher arbeitet.

Die goldenen Jahrzehnte seit dem Boom der 1950er lang haben die Zentralbanken ihr ausgegebenes Geld gedeckt, oder wenn man will besichert, durch Wertpapiere verschiedener Art; nehmen wir das aus historischen Gründen bedeutende Geschäft der Wechseldiskontierung. Die Verbindlichkeiten innerhalb der Geschäftswelt werden in der Regel nicht in bar bezahlt, sondern durch Verbriefung der Schuld, etwa durch Wechsel; der Empfänger bringt diesen zu seiner Bank, die ihm die Summe, auf die er lautet, abzüglich eines Abschlags, des Diskontzinses auszahlt. Sie gibt ihm damit eigentlich ein Darlehen. Die Bank kann wiederum die Fälligkeit abwarten und die Summe einziehen, oder sie kann ihn an die Zentralbank geben und dort wiederum diskontieren lassen. Der Zinsabschlag, den die Zentralbank vornimmt, hiess Diskontzins und war bis in die 1980er der Leitzins der deutschen Bundesbank. Die so erworbenen Wertpapiere in eigener wie in ausländischer Währung bilden den grössten Teil der Aktiva der Zentralbankbilanz, den Grundstock der Deckungsreserve.

Früher einmal hatten die Zentralbanken gemeint, Gold und Edelmetall als Deckungsreserve zu halten und damit ihre Notenausgabe zu decken. Aber die Menge des Golds reicht für die Geldmengen, mit denen die kapitalistischen Gesellschaften seit den 1960ern hantieren müssen, nicht mehr aus. Die Schwierigkeit der Golddeckung besteht auch gerade darin, dass ihr Kern, die Einlösung von Notengeld in Gold, gerade dann versagt, wenn sie nötig ist, nämlich bei einem bank run. Marx hat über den Bank Act von 1844 im „Kapital“ allerhand ergötzliches geschrieben. Als die wirkliche Reserve der Zentralbank mussten auch unter dem Goldsystem schon nicht das Gold, sondern der in der Bank zentralisierte Nationalkredit angesehen werden; die ungeheure Anhäufung von Schuldtiteln, das ist der Kern des ganzen Geldsystems.

Daran ist, wie gesagt, nichts unsolides gefunden worden, ausser von Leuten, die Gold als etwas solideres ansehen als eine ungeheure Anhäufung von demnächst fälligen Schuldscheinen. Was unterscheidet nun Staatsschuldscheine? Auch Staatspapiere sind verbriefte Schuldtitel. Sie gelten in der Regel als besonders wertbeständige, aber niedrigverzinsliche Anlagen, vergleichbar dem Gold. Auf den Kapitalmärkten steigen ihre Kurse, ebenso wie das Gold, in der Regel dann, wenn die Aktien, Unternehmensschuldtitel etc. sinken, also in Phasen wackeliger Konjunktur oder Unsicherheit. Sie bilden also im Portfolio der Wertanlagen den konservativen Teil; und zwar sowohl für die Banken, Versicherer oder Anlagegesellschaften (der Pensionsfonds z.B.), als auch natürlich der Zentralbanken.

Überhaupt steht die Staatsschuld ja in einem eigenartig zweideutigen Ruf, als ob sie einerseits ein grosses Übel wäre, aber ihre Abschaffung würde das kapitalistischen Finanzsystem auf eine blanke Unmöglichkeit reduzieren. Soviel Gold, um als werterhaltende Anlage zu dienen, gibt es gewisslich nirgendwo, und wenn es soviel gäbe, würde es gerade dazu untauglich. Von der anderen Seite ist die moderne, das heisst die permanente Staatsschuld das Gegenstück zum privaten Reichtum der modernen bürgerlichen Gesellschaft; das heisst sie ist eine direkte Notwendigkeit unter dem bestehenden System, und sie hat tiefe historische Wurzeln. Sie abzuschaffen heisst soviel, wie Staat und Geld abzuschaffen.

Zurück zur EZB. Der Staat, bzw. die Zentralbank, ist nicht der einzige, der Geld ausgibt oder schafft; sondern, wie wir gesehen haben, tun dies die einzelnen Unternehmen und Banken genauso. Das Zentralbankgeld ist ursprünglich nichts anderes gewesen als ein verbriefter Schuldtitel, nämlich zuerst auf Zahlung einer entsprechenden Summe in Gold. Die Ablösung dieser Einlösepflicht ist ihrerseits nur möglich gewesen durch die zentrale Stellung der Zentralbanken selbst; ihre Noten sind garantiert durch den gewaltigen Haufen Forderungen in ihrem Besitz. Sie werden also von der ganzen Gesellschaft ohne weiteres als Gegenwerte akzeptiert werden, solange eben, und das ist der Hauptpunkt, diese Garantie reicht, und das hängt von etwas ganz anderem ab.

Eine kräftig exportierende Nationalwirtschaft, mit einem Überschuss in der Handelsbilanz, bringt Schuldtitel, verbriefte Forderungen ins Land, wo sie übers Bankensystem in die Zentralbankbilanz wandern, und sich als Devisenreserven, oder unter dem früheren System als Edelmetallreserven niederlassen. Eine Nationalwirtschaft, die auf dem Weltmarkt im Hintertreffen liegt, wird dagegen mit entsprechenden Abflüssen zu kämpfen haben. Die Zentralbankbilanzen spiegeln die internationalen Herrschaftsstrukturen wider, die von der kapitalistischen Produktionsweise in die Welt gebracht und aufrechterhalten worden sind.

Wie aber können dauerhafte Überschüsse sich halten? Verstösst das nicht gegen die vier Grundrechenarten? Nun, eben vermittelst solcher Dinge wie der Staatspapiere. Die Erlöse, die die weltmarktführenden Nationen aus dem Rest der Welt herauspressen, wären an sich bald wertlos, wenn sie nicht dauerhaft und verstetigt angelegt werden könnten. Was ein Staat nicht an Steuern einnehmen kann, muss er als Schulden aufnehmen. Auf diese Weise geraten massenhaft Staatsschuldtitel aus aller Welt in die Bank- und Zentralbankbilanzen, wo sie eine unverzichtbare Rolle spielen. Und jede globale Rezession wirft eine Reihe von Staaten in eine Schuldenkrise, die auch immer eine Bankenkrise in den Metropolen sein wird; weswegen man zur Rettung der Banken dann diese Staaten auf irgendeine Weise partiell funktionsfähig zu halten hat, nämlich als Garanten des Schuldendiensts. Das kann nicht gut gehen, und es geht auch nie gut. Aber von allen Gebilden in der Geschichte aber hat es nur die Europäische Union geschafft, beide Seiten der Gleichung in ein und demselben Gebilde gefasst zu haben. Und auch das kann nicht gutgehen, das ist der Inhalt des Urteils nach seiner ökonomischen Seite, aber es wird trotzdem keinesfalls unterlassen werden, im Gegenteil. Und auch des steht in dem Urteil. Und auch das kann nicht gutgehen, und auch das usw.

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Nach seiner juristischen Seite betrachtet, lassen sich diese Verhältnisse dort leicht wiederfinden unter Begriffen wie Preisstabilität, Währungspolitik als entgegengesetzt zu Wirtschaftspolitik, Demokratieprinzip und Haushaltshoheit und dem entgegengesetzt das „Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung“. Das bundesdeutsche Rechtsverständnis, als das einer führenden Exportnation, sieht die Aufgabe einer Zentralbank darin, den Aussenwert der Währung zu gewährleisten, nämlich das Ergebnis ihrer Exportanstrengung, und die Früchte der internationalen Ausbeutung. Wirtschafts- und Sozialpolitik sind dagegen die Arbeit der Regierung, die diese Früchte der Ausbeutung nach innen zu verwalten hat.

Das war unter der D-Mark so, und man hatte nicht vor, das durch die Währungsunion zu ändern. Keinesfalls sollte Währungspolitik als Wirtschafts- und Sozialpolitik getrieben werden. Das ist in anderen Ländern durchaus üblich, wie einer der Klägervertreter selbst , der freiburger Staatsrechts-Professor Murswiek, in der FAZ (3.12.2015) ausführt: „Die Fed“, die amerikanische Notenbank, „darf demgegenüber mit ihrer Politik auch auf Vollbeschäftigung hinwirken; sie hat also nicht nur ein geldpolitisches, sondern auch ein wirtschaftspolitisches Mandat. Andererseits ist sie gegenüber dem Kongress rechenschaftspflichtig, und der Kongress kann eingreifen, wenn er die Politik der Fed nicht mehr mittragen will. Die EZB ist hingegen unabhängig – auch gegenüber dem Parlament. Und ihre Unabhängigkeit ist auf Verfassungsebene garantiert. Das gibt es bei keiner anderen großen Zentralbank.“ Das findet er gut. Das muss man dazu sagen.

Warum er das gut findet, sagt er nicht. Er sagt nur, warum er glaubt, dass er das gut findet: „Der Unabhängigkeit liegt eine gute Idee zugrunde: Die EZB soll allein am Maßstab des geldpolitischen Sachverstands ihrer Organmitglieder die zur Wahrung der Preisstabilität notwendigen Entscheidungen treffen, ohne dabei dem Druck der Politiker ausgesetzt zu sein, die mit Blick auf die nächsten Wahlen dazu neigen, sich mit Ausgabenprogrammen beliebt zu machen, statt Haushaltsdisziplin zu üben.“ Er glaubt, dass es an sich gut ist, wenn der Staat wenig ausgibt, und dass das einen guten Einfluss auf die Stabilität des Geldwerts hat. Er kann das nur glauben, wenn er gleichzeitig vergisst, was für eine Menge an ausländischen Staatschuldpapieren in so einer Zentralbankbilanz dazu nötig sind, die Stabilität des Geldwerts garantieren zu helfen. Es müssen nämlich die ausländischen Staaten genug ausgeben, damit man selbst von der „Haushaltsdisziplin“ etwas hat: das ist die fiskalische Übertragung der Exportorientierung.

Nicht nur haben ganz offensichtlich haben die anderen europäischen Wirtschaftsräume ganz andere Interessen, nämlich z.B. ganz einfach überhaupt wieder Zugang zum Kapitalmarkt, um Anleihen aufnehmen zu können. Sondern verrückterweise hat nach allem auch die deutsche Ökonomie ein Interesse daran, dass sie das können. Die deutsche Zentralbank nahm denn auch an dem Anleihenkaufprogramm teil; aber nur gegen gewisse Garantien: Keine konkrete Ankündigung der Käufe nach Höhe und Zeitpunkt, Möglichkeit des Wiederverkaufs, Sperrfrist zwischen Emission und Kauf, Ankaufsobergrenze von 33% der Emission, Ankaufvolumen nach Kapitalzeichnungsschlüssel, usw.

Aber, so der Klägervertreter damals in seinem FAZ-Artikel, es darf natürlich nicht sein, dass „für Verluste aus den von der Zentralbank gehaltenen Staatsanleihen alle Mitgliedstaaten letztlich gemeinschaftlich haften: Mit den Verlusten der EZB aus einer eventuellen Insolvenz eines Krisenstaates werden indirekt die Haushalte der anderen Eurostaaten belastet. Solche Umverteilungsprobleme werden durch Entscheidungen der Fed oder der Bank of England nicht hervorgerufen. In einer Währungsunion hat daher das Verbot der monetären Staatsfinanzierung – wie das Bundesverfassungsgericht zutreffend betont hat – zentrale Bedeutung für die Absicherung des Demokratieprinzips.“

Wenn z.B. Griechenland insolvent geht, sind die griechischen Staatspapiere in der Bilanz der Bundesbank wertlos, und der Bundestag ist gezwungen, in einem Nachtragshaushalt in die Bundesbank Kapital nachzuschiessen. Das ist natürlich ein schwerer Eingriff in die Budgethoheit. Das gleiche gilt z.B. für den Fall einer Insolvenz der Deutschen Bahn AG, weswegen es verfassungswidrig wäre, dass der Bund überhaupt Kapitalgesellschaften betreibt. Das ist natürlich absurd; ausser, man versteht unter Budgethoheit und Demokratieprizip nichts anderes und genau dieses, dass eine Umverteilung nie sozusagen von deutschem Boden ausgehen darf. Die Kläger, darunter zwei Gründer der AfD, vertreten einen ganz unmöglichen Standpunkt.

Das Bundesverfassungsgericht ist dieser extremistischen Auffassung nicht gefolgt, und mit gutem Grund, denn sie untersagt streng genommen Geschäftsbeziehungen aller Art zum Ausland. Es hat hingegen etwas noch viel unbegreiflicheres ausgeurteilt. Unter den oben genannten Garantien, sagt es, liegt kein Verstoss gegen das sogenannte Verbot monetärer Haushaltsfinanzierung, Art. 123 Abs. 1 AEUV, vor. Danach ist der Bank verboten, dem Staat direkt Geld zu leihen, d.h. direkt Staatsschuldtitel zu kaufen. Es ist interessant, dass „nur die europäische Währungsverfassung ein Verbot der monetären Staatsfinanzierung enthält. Außerhalb der Eurozone ist den Zentralbanken die Haushaltsfinanzierung mit der Gelddruckmaschine nicht verboten“, wie der freiburger Professor weiss. Warum aber dieses? Wiederum weil ohnedies „insbesondere Deutschland nicht bereit gewesen wäre, die D-Mark zugunsten des Euro aufzugeben.“

Die EZB darf also nur auf dem offenen Markt solche Schuldtitel erwerben, und nur zu den in den europäischen Verträgen genannten Zwecken, nämlich um die Währungsstabilität zu gewährleisten, nicht jedoch aus irgendwelchen anderen ökonomischen Erwägungen. Auf welche Weise kann man Staatsschuldtitel aufkaufen, um die Währungsstabilität zu gewährleisten? Wenn man feststellt, dass man in einer Deflationsspirale, d.h. in einer Rezessionslage steckt, und man mit anderen Mitteln kein Geld mehr in das Bankensystem mehr gestopft bekommt. Das ist das Ergebnis der europäischen Finanzarchitektur und der berühmten deutschen Stabilitätskultur der D-Mark: dass die einzige Politik gegen die Krise, die sie haben finden können, ein gräulicher Workaround ist, ein auf Dauer gestellter Notbehelf, völlig gegen den Geist der Vorschrift, völlig ungeeignet für den vorschriftsmässigen Zweck.

Und die ganze Heuchelei dieses Kompromisses zeigt sich eigentlich darin, was das BVerfG dann, anders als die Kläger, wirklich zu beanstanden hat: dass nämlich die EZB nicht dargelegt hat, und das EuGH nicht geprüft hat, ob dieses Aufkaufprogramm denn „verhältnismässig“ sei, d.h. ob seine gesamtwirtschaftlichen Folgen denn vertretbar seien, als da wären „die Auswirkungen … , die das PSPP etwa für die Staatsverschuldung, Sparguthaben, Altersvorsorge, Immobilienpreise und das Überleben wirtschaftlich nicht überlebensfähiger Unternehmen hat“ (Urteil v. 5.5., 139); diese Auswirkungen soll die EZB berücksichtigen, auch wenn sie „mit geldpolitischen Instrumenten keine Wirtschafts- und Sozialpolitik betreiben darf“, wie es kurz vorher geheissen hat, im selben Satz.

Die schlagende Absurdität dieser Idee, Wirtschaftspolitik zu treiben, ohne Wirtschaftspolitik zu treiben, kann man eigentlich nicht weiter kommentieren. Aber die rechtliche Begründung aus dem EU-Primärrecht ist tadellos und richtig; um so schlimmer für das EU-Primärrecht! Es enthält offenbar eine schlagende Absurdität. Denn die Wirtschaftspolitik ist nach den Verträgen alleinige Zuständigkeit der Mitgliedstaaten. Die Währungspolitik ist der EZB übertragen. Der Europäische Gerichtshof hatte in einer Vorlageentscheidung zum selben Verfahren völlig richtig ausgeführt, Währungspolitik und Wirtschaftspolitik liessen sich nicht klar trennen; was logischerweise zur Folge haben muss, dass das europäische System, einmal in Gang gesetzt, diese wirtschaftspolitische Kompetenz kraft Sachzusammenhang benötigt, um zu funktionieren (136 ff.).

Dem hält das BVerfG entgegen, dass das die Verträge nicht hergeben (163). Die Verträge ermächtigen die Einrichtungen der Union in einzelnen Punkten, sie übertragen nicht die originär verfassungsfortbildende Kompetenz. Die Verträge müssten also durch die Einzelstaaten geändert werden. „Der Erlass wirtschaftspolitischer Maßnahmen durch das ESZB erforderte eine Vertragsänderung nach Art. 48 EUV … , sodass der Gesetzgeber tätig werden müsste“ (160). Das aber ist nach den herrschenden Kräfteverhältnissen ohne einen Umsturz nicht denkbar.

Der Weg, den das BVerfG stattdessen vorschlägt, ist nicht gut gangbar: der Rat der EZB soll nachvollziehbar jedesmal die wirtschaftlichen und sozialen Folgen des Programms darlegen, und das soll gerichtlich bei jedem Schritt nachprüfbar sein (145, 156, 189). Eine so weitgehende Verrechtlichung der Zentralbankpolitik hat es aus Gründen nie gegeben. Diese Politik ist immer und systemnotwendig ein rechtsfreier Raum geblieben. Eigentlich legt, ohne es zu wollen, das Gericht im Namen der Unabhängigkeit der Zentralbank die Axt an die Unabhängigkeit der Zentralbank.

Falls das Gericht glaubt, eine praktikable Lösung vorgelegt zu haben, hat es offenbar die deutschen Kläger vergessen. Wo die Gauweiler, Lucke, Henkel oder Bolko Hoffmann selig herkommen, gibt es noch mehr. Und Materie genug für weitere Klagen wird es in naher Zukunft geben. Es ist völlig ausgeschlossen, dass die Zentralbank – irgendeine Zentralbank! – eine unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismässigkeit nachvollziehbare Abwägung für ihre Entscheidungen darlegt, und gleich zweimal, wenn ihr Statut ihrem eigentlichen Zweck derart im Weg steht; und dreimal, wenn die merkwürdigen Wege, die sie dabei findet, buchstäblich alles ist, was das EU-Universum gegen die Krise von 2008 auf die Beine bekommen hat.

Die Krise von 2008 ist nicht vorbei, da hat die von 2020 schon angefangen. Eine Lösung wird sie auf dem Boden der bestehenden Ordnung nicht finden. Das Problem heisst nach der ökomischen Seite: wer eine Lösung innerhalb der verfassungsmässigen Ordnung verhindert, bekommt eine Lösung ausserhalb der verfassungsmässigen Ordnung. In juristischer Hinsicht heisst es: entweder es gibt es eine europäische Verfassung, oder es gibt auch keine europäische Zentralbank. Das Problem ist gestellt.

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