Neues von der Pseudo-Linken (III)

Das klassische Feld der heutigen Pseudo-Linken aber ist ein anderes gewesen. Seit 2014 gab es einen Zyklus grosser Proteste gegen Polizeimorde an Schwarzen in den USA. Die Bewegung gewann Bekanntheit unter dem Namen „Black Lives Matter“, unter diesem Namen bildete sich eine bundesweite Dachorganisation und von ihr anerkannte Lokalorganisationen.

Von unsrer Seite muss nichts über die tiefe Berechtigung dieser Proteste gesagt werden. Um so mehr allerdings darüber, was aus ihnen wurde, oder besser was aus ihnen gemacht wurde. Eine mittlerweile fast zehnjährige Bewegung von einer ungeheuren Grösse und Tiefe, und internationaler Ausstrahlung; aber sie hat praktisch keine konkreten Ergebnisse gebracht.

Ab einem bestimmten Zeitpunkt kann man ein derartiges Scheitern nicht mehr einfach auf die Macht des Feinds zurückführen. Um so mehr, als die Demokratische Partei sehr früh sich hinter die Bewegung gestellt hat; vor allem ihr sogenannte linker Flügel hat nicht nur die Rhetorik der Bewegung übernommen; mindestens in den grossen Städten hat er damit politische Macht gewonnen. Wie das augegangen ist, werden wir uns am Ende auch noch ansehen müssen.

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Ich rede hier natürlich nicht von denen, die demonstriert haben. Ich rede von denen, die diese Proteste ausbeuten; die auf ihrem Rücken ihre eigenen speziellen Ideen in die Welt tragen. Man muss diese beiden Sorten von Leuten ganz genau unterscheiden. Sie sind nämlich auch in der Realität getrennt, und zwar im Ernstfall durch eine Kette von Streikposten. Die schwarze Arbeiterklasse sucht ihre Zuflucht anscheinend woanders, und hat aus der Niederlage interessante Schlüsse gezogen: nämlich gewerkschaftliche Organisierung. Es ist witzig, gerade die Unternehmen, die sich am lautesten mit BLM solidarisieren, weil es kostenlos ist und der liberalen Kundschaft gefällt, sind die unter den ersten Gegnern. Und gerade die „fortschrittlichsten“ Unternehmen haben eine aggressive Politik gegen gewerkschaftliche Organisierung: die Heuchelei zeigt sich nirgends so deutlich wie hier.
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News unter dem Radar

Warum wir erst nie auf den Gedanken gekommen sind, jemals für konkret zu schreiben, erläutern wir bei anderer Gelegenheit. Im fünften Monat des zähen russländischen Blitzkriegs gegen die Ukraine gibt es ein paar wichtigere News, die von jeglicher den Durchschnitt übersteigenden Expertise höchstwahrscheinlich unbemerkt bleiben würden. Eigentlich gibt es sie immer und unter allen Umständen, das Problem ist wohl die überdurchschnittliche Expertise selbst, die sie aus der Reichsadlerperspektive nicht erfassen kann. Also gleiten wir auf den Flügeln des Geistes etwas näher an der Erdoberfläche und nutzen die Besonderheiten der Landschaft zur Tarnung.

Der Schienenkrieg ist aus Belarus nach Russland übergeschwappt. Er hat dafür zwar ein bisschen gebraucht, aber er gibt sich alle Mühe, um nachzuholen. Nach Angaben von The Insider sind von März bis Juni 63 Güterzüge offiziell entgleist, und das ist eineinhalb Mal mehr als in derselben Periode des vorigen Jahres. Die Geographie der Entgleisungen und Infrastruktursabotage verlagert sich angeblich in den westlichen Teil des Landes, auch in die Regionen, die unmittelbar an die Ukraine grenzen. Aber sogar auf der wirtschaftliche sehr wichtigen Transsibirischen Magistrale sind im Juni bereits zwei Züge entgleist. Einiges davon ist sicherlich Folge der abgenutzten Infrastruktur aus der Sowjetzeit, der Inlandsgeheimdienst kann allerdings das Ausmaß der Sabotage nicht länger ignorieren. Wie groß das Ausmaß tatsächlich ist, soll aus guten Gründen das Betriebsgeheimnis der Vernetzungen wie ostanovitevagony.com („Stoppt die Waggons“) und affiliierten Telegramgruppen bleiben.

Diese Entwicklung hat allerdings eine eher unangenehme Seite: es ist davon auszugehen, dass ein Teil dieses Widerstands auf das Konto von organisierten Neonazis geht, die auch ihre Gründe haben den Staat nicht zu mögen. Wie vor einiger Zeit unsererseits angedeutet wurde, es ist langsam Zeit für manche in den 2000er Jahren aktiven Halsabschneider aus Gefängnissen entlassen zu werden. Und bitte – es scheinen sich einige sentimentalen Volksgenossen nach der Entlassung wieder zusammengetan und Polizei- und private Autos mit der Z-Symbolik, Polizeistützpunkte und Kreiswehrämter abgefackelt zu haben. Die Geschichte ist momentan etwas schwer abzuschätzen, weil das Drumherum, inklusive eines geplanten Mordanschlags auf den TV-Propagandisten Wladimir Solowjew, von Putin persönlich angekündigten Ermittlungen und einer angeblichen Verwicklung des ukrainischen Geheimdienstes gewaltig nach einer Psy-Op des FSB stinkt. Im Grunde genommen ist es bloß eine Nachverfilmung eines angeblichen Attentats durch „Oppositionelle“ auf das belarussische TV-Großmaul Grigory Asarjonok im Sommer 2021. Wie man aber in solchen Fällen so schön sagt: Leider steht uns das theoretische Rüstzeug für weiter reichende Konkretionen und Vorhersagen nicht zur Verfügung. Oder im Klartext: Mehr ist uns z.Z. einfach nicht bekannt. Weiterlesen

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Neues von der Pseudo-Linken (II)

Wir sagen, der gegenwärtige Aktivismus der Linken ist bis zur Ununterscheidbarkeit von etwas durchzogen, was wir Pseudo-Linke nennen. Was gibt uns das Recht dazu? Die Hohlheit und innere Unwahrheit einer speziellen Sorte linker Agitation und Praxis. Diese Unwahrheit ist aber vorerst nur ein erster Eindruck; man könnte uns vorwerfen, unser Urteil sei nur ein Geschmacksurteil. Oder vielleicht sind wir Reaktionäre geworden, ohne es zu wissen? „Man kann sich nit gegen die Zeit stell‘ „, sagt man in Unterfranken. Aber mir scheint, die Arbeit eines Revolutionärs ist genau, sich gegen die Zeit zu stellen.

Leerheit und innere Unwahrheit, sagen wir! Schauen wir uns doch einmal ein neueres Ereignis an, das so leer und unwahr gewesen ist, wie nur je eins. Eine Farce, wie sie im Buch steht. Die äusseren Ereignisse sind an sich rein unbegreiflich; sie werden aber nur immer absurder, je näher man sie ansieht. Und genau um die Absurdität geht es uns. An ihr kann man die Frage, um die es uns geht, entfalten: was ist in einer Linken falsch gelaufen, wenn folgendes gar nicht so ungewöhnlich ausschaut?

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Am 2. Juli 2022 veranstaltete die Humboldt-Universität in Berlin die „Lange Nacht der Wissenschaften“, man kennt die Prozedur, wo akademisches Personal der interessierten Bevölkerung allerhand wissenswerte Dinge erzählt. So weit, so gut. „Die Welt ist von Krisen geschüttelt. Pandemie, Krieg, Zerfall der Demokratie… Auf der Langen Nacht der Wissenschaften zeigt die Humboldt-Universität am 2. Juli 2022, wie sich verschiedene Disziplinen aktuellen Probleme stellen und welche Lösungsbeiträge sie anbieten“, hiess es auf der Homepage der Uni. So weit, so gut.

Angekündigt war auch ein Vortrag über „Sex, Gender und warum es in der Biologie zwei Geschlchter gibt“. Unzweifelhaft relevant, weil es da ja anscheinend grosse gesellschaftliche Diskussion darüber gibt. Die Referentin ist eine mittlearweile namhafte Feministin; sie hat sich in der Debatte schon zu Wort gemeldet, worüber man hier im Interview mit dem nürnberger Autonomie-Magazin nachlesen kann.

So weit, so gut, vier Stunden vor dem Vortrag begann der Wahnsinn, der exakt so unvermeidlich und absehbar war, wie man sich das denkt. Und er war exakt die Farce, die herauskommt, wenn sich berliner „Linke“ vornehmen, die Angelegenheit Kathleen Stock mit eigenen Mitteln nachzuspielen. Zuerst kam ein Aufruf zum Protest, von dem „Arbeitskreis kritischer Jurist*innen“ an der Humboldt-Universität. Der ging als Rundmail an alle Studierenden über den Verteiler des AStA, der dort RefRat heisst. Dann sagte die Hochschule den Vortrag „aus Sicherheitsgründen“ ab; aber auf dem Aushang liess man offenbar drüberschreiben „entfällt krankheitsbedingt“.

Nach den Fotos zu urteilen, waren ein Dutzend Gefolgsleute der „kritischen Jurist*innen“ auf dem Protest; warum sollten es auch viel mehr sein? 30.000 Studierende hat die HU; an den letzten Uniwahlen teilgenommen haben 627. Einen Massenanhang hat die Politik dieser Grüppchen nirgendwo. Wie auch, niemand versteht sie. Sie haben Einfluss, ohne Frage; aber den Einfluss, den sie haben, haben sie definitv nicht „von unten“. Sie haben ihn geliehen; von dem Flügel des liberalen Bürgertums, der heute den Ton angibt.

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Offenbar ist es in der momentanen Debatte um „Gender“ schon nicht mehr möglich, eine evolutionsbiologische Sicht auf die allgemein bekannte Zweigeschlechtlichkeit bei mehrzelligen Tieren zu werfen, zu denen unbestätigten ersten Meldungen zufolge auch wir armen Menschenkinder gehören sollen. Dass christliche Fundamentalisten ein Problem mit der Evolutionsbiologie haben, war uns schon bekannt. Aber warum „Aktivisten aus der linken Szene“? Und warum ein Teil des liberalen Bürgertums?

Bei N-TV nannte man die Referentin eine „umstrittene Biologin“, was mich sehr neidisch macht, denn ich hab als Kind ein verrückter Wissenschaftler werden wollen, hab es aber nur zur kritischen Gesellschaftstheorie gebracht. Marie Vollbrecht arbeitet, hört man, an Wassertieren, aber zu meiner Enttäuschung gehts dabei gar nicht darum, Monsterkraken zu züchten, sondern um das crazy sex life der Seeanemonen. Immerhin war auch Charles Darwin ein „umstrittener Biologe“.

Überhaupt ist die Wissenschaft niemals so unstrittig, dass sie Schiedsrichterin in gesellschaftlichen Dingen spielen kann; ihre Gültigkeit ist selbst eine gesellschaftliche Frage. Die wissenschaftliche Methode ist ihr Kern; ein Satz von Regeln, nach denen sich der Wissenschaftler dem Urteil andrer Wissenschaftler unterwirft. Dass derselbe Satz von Regeln für alle gelten soll, ist viel verlangt. Gesellschaften in Krisenzeiten bringen deswegen Pseudowissenschaften hervor, meistens an den sog. „Rändern“; während die behäbige Mitte sich im Wahn wiegt, „die Wissenschaft“ fertig in der Tasche und sowieso auf der eigenen Seite zu haben. Die „Ränder“ sind leicht als das erkenntlich, was aus dieser Mitte wird, sobald sie sich radikalisiert. Oder ist es etwa nicht auffällig, wie viele plötzlich der Meinung sind, „die Wissenschaft“ habe die Zweigeschlechtlichkeit längst „überholt“, nur weil man einmal etwas in der „Nature“ gelesen hat? Und wie leicht man das glaubt, weil man es glauben will, und wie schnell das geht, dass dann abweichende Lehre unterbunden werden muss. Aber wer hat je gehört, dass die Anhänger einer besseren neuen Theorie lärmend die Vorträge einer älteren „überholten“ Theorie stören?

Der Vortrag wurde dann doch gehalten, und man kann ihn hier ansehen. Das haben mittlerweile fast 80.000 Leute auch getan. Bisher hat nur Attenborough so viele Menschen fürs Geschlechtsleben der Seeanemonen interessieren können. Ich bin mir gar nicht so sicher, ob unsre „kritischen Jurist*innen“ gewusst haben, was sie da tun. Vor allem nicht das völlige PR-Desaster, das daraus folgen würde. Und ein PR-Desaster für die Götter war es, eine Blamage von epischen Ausmassen. Seit langem hat nichts die radikalfeministische Szene in Deutschland so elektrisiert. Sie hat von einem Tag auf den anderen ein Gesicht, eine anerkannte gesellschaftliche Existenz bekommen und ist jetzt auf dem Sprung dazu, so aktiv und organisiert zu werden wie schon in Grossbritannien; man wird an diesen Tag noch lange denken. Ganz unabhängig davon wird auch die universitäre Wissenschaft, die lange still geblieben ist, bei aller ihrer unaustreibbaren Lausigkeit doch irgendwann aus Eigeninteresse gezwungen sein, zu handeln. Und die bürgerliche Presse, die über den Konflikt bisher grossenteils schamhaft geschwiegen hat, hat angefangen zu berichten. Sie wird so bald nicht aufhören, so wie auch das Interesse der Publikums nicht nachlassen wird.

War das den guten Leuten von den „kritischen Jurist*innen“ nicht klar, dass es so kommen würde? Zumindest ihre Gruppe an der Humboldt-Universität scheint, wenn man ihr Twitterfeed anschaut, nicht viel anderes zu treiben als Transrechts-Aktivismus. Man sollte meinen, sie hätten in den letzten zwei Jahren bemerken müssen, dass sich der Wind zu drehen angefangen hat und eine Gegenbewegung entstanden ist, die augenscheinlich immer grösser grösser wird.

Nein, es war ihnen nicht klar. Diese ganze Szene hat sich über dieselben zwei Jahre nur immer weiter in den Glauben hineingesteigert, dass sie es nur mit ein paar Relikten der Vergangenheit zu tun hat; ein paar missgünstige alte Frauen, die bald wegsterben, und deren Abgang aus der Öffentlichkeit man mit solchen Taktiken beschleunigen muss. Sie selber, das ist die glühende, aber grundfalsche Überzeugung, die sie mit allen Pseudo-Linken teilen: sie selber sind die neue Zeit. Sie stehen „auf der richtigen Seite der Geschichte“. Sie müssen nicht begründen, müssen nicht argumentieren: sie müssen sich nur durchsetzen, dem dummen Rest wird nichts übrigbleiben, als zu folgen.

Aber die Radikalfeministinnen sind heute zu 80% Frauen in ihren 20ern, die vor 3 Jahren noch aktive Queerfeministinnen waren. Das hätte ein Alarmzeichen sein sollen. Die eigene Bewegung zerfällt, und erzeugt aus sich selbst die Gegenbewegung. Man hat diese Realität nicht wahrhaben wollen; wie auch? Man hätte sich fragen müssen, ob man vielleicht Unrecht hat. Für diese Dummheit und Verstocktheit wird ein Preis zu zahlen sein.

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Wie hat eine Frage der Naturwissenschaft überhaupt so politisiert werden können? Vor wenigen Jahren hätte niemand sich öffentlich getraut, zu behaupten, es gäbe mehr als zwei Geschlechter. Man wäre ausgelacht worden. Erstaunliche Radikalisierung! Aber auf welcher Seite und warum? Weiterlesen

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Neues von der Pseudo-Linken (I)

Ein auffälliges Zeichen unserer Zeit ist die Allgegenwart einer bestimmten Art von Linken, die man gerne für eine Mode halten möchte, aber nicht kann. Sie sind aufdringlich laut, aber ihre Agitation ist gespenstisch leer. Sie gelten überall als radikal, aber sie scheinen keine anderen Ideen zu haben als der regierende Liberalismus selbst. Sie behaupten, für „die Unterdrückten“ zu sprechen, aber ihr Reden und Handeln ist ausserhalb der gebildeten Kreise unverständlich und sinnlos.

Man möchte sie Pseudo-Linke nennen, wenn man zu sagen wüsste, was denn „richtige“ Linke wären. Beim Nachdenken wird einem klar, dass es eine Pseudo-Linke schon sehr lange gibt; dass sie nicht sauber auseinandergehalten werden kann von dem, was man „die Linke“ überhaupt nennt. Die Pseudo-Linke ist eine immer gegenwärtige Tendenz innerhalb der Linken, und die Linke ist eine immer gegenwärtige Tendenz innerhalb der modernen bürgerlichen Gesellschaft.

Das erspart nicht die Auseinandersetzung; man muss mit den Tendenzen der Zeit ins reine kommen, und anscheinend ist die Zeit reif dazu. Unsere heutige Pseudo-Linke hat alte Vorläufer, aber sie ist selbst nicht alt. Ihre Haupt-Doktrinen waren vor 10 Jahren unbekannt und wären überall als Absurditäten ausgelacht worden; aber heute sitzen sie scheinbar fest im Sattel.

Sie werden auch wieder gestürzt werden. Aber erst nach langen Kämpfen; wenn eine andere Sorte von Akteuren sich auf die Bühne schiebt, und andere Fragen gestellt werden. Dieser Prozess hat schon angefangen. Aber sein Erfolg ist unsicher.

Wir wollen uns ins Klare kommen über die Natur der politischen Konjunkturen, die solche Erscheinungen (wir nehmen an, es fallen jeder/m genügend Beispiele selbst ein) zu Stande kommen. Es ist nicht damit getan, sie als Verrücktheiten abzutun, bloss weil sie Verrücktheiten auch sind; unsere Gesellschaft ist insgesamt verrückt, und doch nicht weniger real.

Je mehr und dringender die Gesellschaft der Veränderung bedarf, desto energischer hat sich in den letzten 10 Jahren die neuere Pseudo-Linke von der Richtung dieser Veränderung entfernt. Sie ist dabei ungeheuer einflussreich geworden; sie ist anscheinend ungeheuer attraktiv für einen Teil derer, die Grund haben, sich vor der anstehenden Veränderung zu fürchten.

Aus welchen Gründen auch immer; ein nicht zu unterschätzender konservativer Faktor ist das Klasseninteresse der gebildeten Kreise selbst. Sie werden es immer abstreiten, aber sie wissen, dass ihre Stellung privilegiert ist; sie haben alle einmal studiert, um besser zu leben als die, die mit ihren Händen arbeiten müssen.

Die gebildeten Schichten bilden heute die linke Hälfte der modernen bürgerlichen Gesellschaft. Die Linke ist heute eine Veranstaltung der gebildeten Schichten. Das kann nicht ohne Folgen bleiben. Alle Ideen, die heute in der Linken Kurs haben, sind notwendig dadurch deformiert. Das lässt sich ohne Mühe zeigen, und wir werden das versuchen.

Aber diese Linke entfremdet sich von den arbeitenden Klassen, sie entfremdet sich sogar von den arbeitenden Momenten in ihrem eigenen Leben. Der Riss, der sich dadurch auftut, geht mitten durch die mittleren und oberen Ränge der Angestellten-Schicht. In welche Richtung sich der Widerspruch auflöst, wird entscheidend sein für die nahe und mittlere Zukunft dieser Gesellschaften; hier hat materialistische Kritik vielleicht ein Wort mitzureden. Aber die Veränderung selbst wird von Leuten ausgehen, die in dieser Debatte bisher nicht angehört worden sind; nur diese können die Initiative haben, und diese werden zuletzt den Ausschlag geben.

Der gegenwärtige Zustand hat begonnen mit der Krise nach 2008. Die Auseinandersetzungen, die daran anschliessen, haben sich erschöpft. Ihre Formen sind leer geworden. Wir erleben gerade die letzten Gefechte dieses Zyklus, die gleichzeitig dier ersten Gefechte des nächsten Zyklus sind.

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„Einzig mögliche Reaktion eines souveränen Staates“ – Sieg und Sachzwang

[Ein weiterer Gastbeitrag. – GT]

 

Der aktuell wohl am häufigsten mit Hitler verglichene Mensch auf Erden, der russische Präsident Wladimir Putin hat am 9. Mai eine Rede zum Sieg im „Großen Vaterländischen Krieg“ gehalten. Zwar blieb die erwartete Verkündung einer Generalmobilmachung oder Ausweitung des Kampfes aus, doch den westlichen Beobachter*innen entging es natürlich nicht, dass der „Kremlchef“ „Tatsachen verdreht“ (Welt) und wenn er auf eine „Eskalation verzichtet“, dann natürlich nur „vorerst“ (Süddeutsche).

Dass die Rede eines aktiven Politikers eine alles andere als neutral-unparteische Sicht auf die Geschichte und Gegenwart formuliert, dürfte wenig überraschen. Doch vielsagend ist, wie der Staatschef den Bürger*innen die Gründe für seine Entscheidungen nennt, für die einige von ihnen mit dem Leben und die meisten mit ihrer Lebensqualität bezahlen werden.

Putins erstes Argument ist weder originell, noch den Bürger*innen westlicher Demokratien unbekannt, wenn auch in Deutschland aus der Mode. „Es war schon immer so.“ Im O-Ton: „Die Verteidigung des Vaterlandes, als über sein Schicksal entschieden wurde, war immer heilig.“ Das könnte so ohne weiteres, nur ein paar Namen und Jahresdaten austauschend Putins Kontrahent in Kiew sagen. In dieser Sicht ist der Kampf gegen deutschen Faschismus und seine Verbündete nur eine besonderes wichtige Episode im Kampf von Vorgängerstaaten der heutigen Russischen Föderation gegen allerlei Feinde. Den gegenwärtigen Staat habe es quasi immer gegeben und immer hatte er Feinde, die am Ende dennoch besiegt waren, wie vor 200 Jahren, so heute.

Der nächster Punkt ist schon spannender: „Und so kämpfen sie jetzt, in diesen Tagen für unser Volk im Donbass. Für die Sicherheit unseres Heimatlandes, Russland“. Dies sind nämlich zwei unterschiedliche Kriegsgründe. Einmal lebt im Donbass „unser“ Volk, auch wenn Russland dieses eigene Volk ein viertel Jahrhundert lang als Bürger*innen eines anderen Staates, nämlich der Ukraine, betrachtet hat. Wer sich jenseits der bisherigen Staatsgrenzen mit Russland identifiziert, für den besteht die Aussicht Teil „unseres Volkes“ zu werden. Sogar mit dem Territorium, auf dem man wohnt. Die Gebiete werden dann später in der Rede zu „unseren historischen“.

Für die Sicherheit der Heimat zu kämpfen ist ein Argument, dem sich Staatsbürger:innen egal welchen Staates nur schwer entziehen können – sie sind auch meist überzeugt, dass der Staat sie schützt, gerade in dem Moment, wenn er von ihnen verlangt ihr Leben zu riskieren. Tatsächlich haben sie von den fremden Souveränen, die sie als Manövriermasse der feindlichen Regierung betrachten, selten Gutes zu erwarten und neigen daher, die Kritik an die eigene Führung in der „Stunde der Not“ zu vergessen. In der Ukraine klappt das gerade auch ganz gut.

Viele der Begründungen, warum Russland diesen Krieg führt, die am Anfang in den russischen Medien an exponierter Stelle genannt wurden, tauchen in Putins Rede nicht auf: „Genozid der russischen/russischsprachigen Bevölkerung“, „faschistisches Regime in Kiew“, „Labore für chemische Waffen“ usw. Dafür geht er auf die Differenzen mit dem Westen ein, um das Argument „Russland hat zuerst angegriffen“ auszuhebeln und den präventiven Charakter des Krieges zu begründen.

Der Streit darüber „wer angefangen hat“ leugnet nicht, dass es sich ausschließende Interessen und gegenseitige Schädigung mit nicht-kriegerischen Mitteln gab. Entscheidend erscheint aber, wer den Übergang zur militärischen Schädigung zuerst ging und damit der Gewalt des Gegenübers den Status von „Selbstverteidigung“ verlieh.

„Die NATO-Staaten wollten uns nicht hören“,sagt der Präsident. Natürlich haben die NATO-Staaten gehört, was Russland in der Weltpolitik möchte, sahen aber keinen Grund ihre eigene Interessen hinsichtlich den Ansprüchen eines wirtschaftschwachen, wenn auch militärisch starken Reststaates der Sowjetunion zurückzustellen.

Es folgen lange Ausführung darüber, dass Russland den Krieg nicht wollte. Wären russische Interessen berücksichtigt worden, wäre der Krieg nicht nötig gewesen. Ja, Krieg ist auch kein Selbstzweck, sondern ein recht kostspieliges Mittel der staatlichen Politik. Die NATO hätte auch niemanden bombardiert, wenn diverse „Schurkenstaaten“ sich von selbst auf Kurs gebracht hätten. Und was die NATO kann, so Putins Lamento schon seit Ewigkeiten, muss Russland auch können, sonst ende man wie eines der „demokratisierten“ Regime. In Putins Worten: „Russland hat präventiv auf die Agression reagiert. Es war eine erzwungene, rechtzeitige und die einzig richtige Entscheidung. Die Entscheidung eines souveränen, starken und unabhängigen Staates.“ Dass Putin extra betonen muss, dass Russland souverän, stark und unabhängig sei, deutet darauf hin, dass er alle diese Punkte akut in Frage gestellt sieht. Die Ansagen führender westlichen Politiker:innen, Russland sei eine „Regionalmacht“ fielen bei Putin offenbar auf fruchtbaren Resonanzboden. Die Ukraine ist da schon deswegen Siegerin der westlichen Herzen, weil sie sich mit ihrem untergeordneten Status abfindet und auf Bedeutungszuwachs durch Beitritt zur Wirtschafts- und Militärbündnis spekuliert.

Putins Verweise darauf, dass Russland doch für alles Gute, von religiösen Toleranz über „traditionelle Werte“ bis hin zu Antifaschismus stehe, dürften bei vielen westlichen Medienkonsument:innen nur ein müdes Lächeln und Kopfschütteln ernten. Exkurse über ostslawische Fürsten des Mittelalters, deren Anwesenheit auf dem Gebiet des heutigen Donbass irgendwas legitimieren sollen versteht sowieso keiner, der nicht von diesen in den (post)sowjetischen Schulbüchern las. Auf Anhieb wurde den westlichen Medienkonsument:innen im Februar 2022 jedoch klar, dass die Ukraine schon immer berechtigten Anspruch auf Unabhängigkeit in den heutigen Grenzen hatte und die selben mittelalterlichen Herrscher, die Putin für seine Zwecke zitiert, die ukrainische Identität legitimieren. Nationale Mythen ähneln sich, erscheinen aber bei verfeindeten Nationen auf einmal so lächerlich.

Da sprach er also, der Oberstörenfried des Weltordnung und hat zehn Minuten lang begründet, warum der Krieg gegen konkurrierende Mächte auf dem Gebiet deren Verbündeter einerseits eine souveräne Entscheidung, andererseits aus Sachzwängen resultiert und alternativlos war.

Alexander Amethystow

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Eine Arbeiterverschwörung

Erfahrungsbericht von Organisierung am Arbeitsplatz
Aus Heft 18

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Ich will von ein paar Erfahrungen aus dem Arbeitsleben reden, die vermutlich nicht grundsätzlich verschieden sind von den Erfahrungen, die viele machen. Aber ich finde selten, dass über solche Erfahrungen viel gesprochen wird, oder dass besonders viele Schlüsse aus ihnen gezogen werden. Ich weiss nicht, ob eine gewisse Scheu davor besteht, über solche anscheinend banalen Dinge sich grosse Gedanken zu machen. Auch ich hätte vermutlich nicht viel nachgedacht, wenn nicht eine Reihe von Zufällen aus diesen kleinen Dingen solche gemacht hätten, die beinahe, aber nur beinahe aussehen wie ganz andere, viel grössere Dinge.

Einer dieser Zufälle besteht darin, dass ich recht gleichzeitig allerhand Sachen über ganz ähnliche Entwicklungen gelesen habe und deswegen aufmerksam gewesen bin. Ein anderer dieser Zufälle besteht darin, dass ich aus ganz anderen Gründen einige Zeit vorher beschlossen hatte, wieder gewerkschaftlich aktiv zu werden, dieses Mal in der FAU.

Ich arbeite seit längerer Zeit in der Gastronomie in verschiedenen Städten und bin wie viele mehr oder weniger aus dem Studium dorthin gekommen, mehr oder minder auch über die linke Szene, die soweit es mich betrifft eigentlich eine Sparte der Gastronomie ist. Die Regeln, nach denen in der Gastronomie gearbeitet wird, sind meistens ziemlich abenteuerlich, mit dem Arbeitsrecht hat das kaum etwas zu tun, und gewerkschaftliche Organisierung gibt es nicht. Die Branche gilt, soweit ich es vom DGB von früher kenne, als eigentlich unorganisierbar, wegen der hohen Fluktuation, den vielen studentischen Beschäftigten, und der kleinteiligen Struktur; und wegen einiger Eigenheiten der Entlohnung, wie dem Trinkgeld, und der endemischen Schwarzarbeit in der Branche.

Die Chefs sind gewöhnlich die grössten Narren, die man finden kann. Der vorherrschende Typus schwankt zwischen kleinlichem, jähzornigem Tyrann und saufseligem Kumpel; es gibt jede Übergangsform, und die meisten sind abscheulich. Alle haben sie gemeinsam, dass sie anscheinend durchdrungen sind von dem Gefühl, ihre Läden seien irgendwie einzigartig, etwas besonderes, und das sei ihre persönliche Leistung. Es ist leicht zu sehen, dass sie das glauben müssen, weil ihre Läden in der Regel im Gegenteil völlig austauschbare Saufbuden sind, an deren Besuch man sich in der Regel am nächsten Tag nur mühsam erinnert. Sie unterscheiden sich in der Tat nur durch diese Jukebox in der Ecke oder jenen modischen Gin, den tatsächlich der Chef irgendwann einmal angeschleppt hat, um sich einbilden zu können, er definiere eine Marke und verkaufe mehr als das, was er wirklich verkauft.

Ich hatte eine Weile in einem Laden in der Küche gearbeitet, der schlimm unterbesetzt war, weil natürlich niemand für den Sommer genug Leute eingestellt hatte, so dass wir im Prinzip eineinhalbfache Arbeit hatten. Unser Chef hielt es meistens nicht für nötig, den Leuten ihr Geld zu zahlen. Nicht, dass das Geld nicht dagewesen wäre, er schaffte es nur nicht zu begreifen, dass es uns wichtig war, unsre Miete zu zahlen. Das machte der just in solchen Monaten, wo sein Laden einen so sehr beschäftigte, dass man nicht woanders arbeiten konnte. In solchen Situationen denkte man sich zuerst Taktiken aus, wie man aus dem Laden herauskommt, ohne dem Geld dann noch lang hinterherlaufen zu müssen.

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Es war irgendwann an einem dieser heissen Abende, wo ich mir begann, vorzustellen, wie das knallen würde, wenn man einmal streikte. Man müsste das machen beim Wechsel zur Abendschicht; tagsüber arbeiteten die Schichtleiter, abends wir Knechte. Und zur Übergabe sass der Biergarten richtig voll. Da auftauchen, Kasse zählen, und dann, wenn der Schichtleiter übergeben will, stattdessen raus, 50 Leute mit Spruchbändern um den Biergarten stellen, ein paar Durchsagen über einen grossen Lautsprecher, eine halbe Stunde solcher Spass würde schon sehr viel ausrichten.

Aber wie kriegt man denn alle dazu, mitzumachen? Wir paar fingen schnell an, auf einem anderen Weg zu diskutieren, und dachten über einen Betriebsrat nach. Dazu brauchten wir bloss drei Leute. Das verführerische daran ist das einfache daran. Aber wie sollten die drei Leute sich denn halten können? Wir würden einen harten und einsamen Kampf zu führen haben, wir würden auch auf einmal keinen Handgriff mehr richtig machen können. In Läden wie diesen ist nichts leichter, als Fehler zu finden, und ein und dieselbe Art zu arbeiten ist entweder Anlass zu Belobigung oder zu Kündigung. Das Problem, die anderen mit hineinzuholen, wäre auf diesem einfachen Weg in Wahrheit nur viel schwieriger geworden. Und über solche Gedanken bröckelte auch die anfängliche Einigkeit unter uns paaren wieder ab, und die aktiveren gingen und suchten sich, als es Zeit war, etwas anderes. Weiterlesen

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Wer entnazifiziert RuZZland?

[Aus dem neulich erschienenen Heft #18]

There’s a negative copy of me
In a bus station on a dusty plain
A thousand miles away
And one day we’ll meet
Swept up by different flags
We’ll lock eyes through gunsights
And I wonder which one of us
Will die beneath the other’s knives
And I hope it will be him
It’s not personal
But I’ll rip your throat out if I have to
I’ll tear your guts out if I’m asked to
Pyrrhon, „Balkanized“

Man sah es kommen, doch man wollte es nicht wahrhaben. Acht Jahre nach Beginn der Einverleibung der Ukraine durch Russland, hat Putin eskaliert, sich, in der Terminologie des weltberühmten Verschwörungstheoretikers Alexandr Dugin, plötzlich aus einem „lunaren“ in einen „solaren“ verwandelt und aufs Gaspedal seiner Kriegsmaschine getreten. Was hat ihn dazu getrieben? Hat er etwa in freiwilliger Quarantäne in seinem Bunker die Zeichen der belarussischen und kasachischen Unruhen an der Wand gesehen, gedeutet und beschlossen, nach vorne zu fliehen? Hat die Kriegsartei im Kreml, als die „Spezialoperation zur Demilitarisierung und Entnazifizierung der Ukraine“ immer mehr zum militärischen und politischen Desaster geriet, ihrerseits die Flucht nach vorne ergriffen und dem Chef beschönigte Berichte auf den Tisch gelegt? Es wurde immer klarer, dass die ganzen gigantischen Unsummen aus dem Staatsbudget, die fürs Aufpeppen des Militärs und die Vorbereitung der ukrainischen Gesellschaft für einen möglichen Anschluss hätten verwendet werden müssen, irgendwo gelandet sind, nur nicht dort, wo sie sollten. Und jetzt gibt es kein zurück für niemand, vielleicht liegt es an der Logik der „Operation“ selbst. Russland kann sich nicht erlauben, zu scheitern. Doch das tut es gerade und es klappt zusammen, wenn es aufhört zu expandieren.

Aktuell kämpfen Gerüchten zufolge zwei große Gruppen um den alten Mann im Bunker. Das ist zum Einen die bereits erwähnte Kriegspartei um Schoigu, Kadyrow, Kirienko, Medwedew, Gromow, Prigoschin usw., grob gesagt das Verteidigungsministerium und die Abteilung für den militärischen Abschirmdienst des FSB; und zum Zweiten die sog. Realistenpartei um Patruschew, Wajno, Naryschkin usw., sprich die Präsidialverwaltung, der FSB, der Sicherheitsrat und der Dienst der Außenaufklärung. Es gäbe rein theoretisch noch eine dritte – das sind Putins Oligarchen wie Tschubajs, Tschemesow usw., deren Aufgabe es war, die westlichen Eliten zu korrumpieren und an den Kreml zu binden. (1) Das sind allerdings die Leute, die als Erste geflohen sind und jetzt nach und nach sterben. Die Kriegspartei hat keinen Ort mehr auf der Welt, wo sie hin fliehen könnte, nicht einmal Kadyrow, sie hat also nichts zu verlieren. Die Realisten wissen wenigsten, dass für den ganzen Spass später jemand aufkommen muss. Der alte Mann hört z.Z. eher auf die Ersteren und lauscht sehr gerne den Berichten über neue Wunderwaffen zur radio-elektronischen und laserbasierten Kampfführung. Die Kriegstreiber sind nicht blöd und wissen: Je unsichtbarer die Waffen, desto mehr Gelder lassen sich zweckentfremden. Dafür waren es vermutlich die Realisten, die ihrem althergebrachten Hass (2) freien Lauf ließen und die kadyrowschen Halsabschneider in den ersten Kriegstagen an die ukrainischen Streitkräfte ausgeliefert haben. So läuft fast alles in diesem Potemkinschen Staat.

Es scheint mir beinahe, der Weltgeist kann sich nicht festlegen, gestaltet er den alltäglichen Irrsinn in Russland nach Vorlage des postmodernistischen Romans „SNUFF. Utøpie“ (orig. 2011) Schriftstellers Viktor Pelewin , wo eine fiktive, im Himmel schwebende Metropole Byzantinium regelmäßig militärische Auseinandersetzungen im fiktiven failed state Urkaine wegen der spannenden Schlachtbilder fürs Fernsehen inszeniert; oder nach dem bereits 2006 orig. erschienenen Roman Wladimir Sorokins „Der Tag des Opritschniks“, in dem das Land vom Rest der Welt abgeschottet, dafür in wirtschaftlicher Union mit China nach einem Weltkrieg seine Renaissance als eine cyberpunkige Standesgesellschaft erlebt. Warum denn nicht aus beidem „das Beste“ nehmen? Mann sollte sich nicht wundern: Immerhin war der Verkäufer der imperialen Träume im Kreml bis vor kurzem noch Wladislaw Surkow, selbst ein begnadeter postmodernistischer Schriftsteller. Er war es, dessen Job es in den letzten 20 Jahren war, dem schlafwandelnden Imperium die ideologische Marschrichtung vorzugeben, nicht Dugin, wie viele im Ausland denken. Also versuchte das neue postsowjetische Russland zwecks Regimelegitimation ganz technokratisch an vorgeblich in der Volksseele vorherrschende Glaubenssätze und Traditionen.

So schrieb z.B. ein Krop Petrotkin vor etwa 10 Jahren als er noch im Tal zwischen den unterfränkischen Hügeln erstickte:

„Die fortschrittlichen Kräfte haben in Russland einen Feind, den mensch weder über- noch unterschätzen darf. In der Presse werden sie als Nationalisten bezeichnet, auf Fotos von den Protesten oft mit den schwarz-gelb-weißen Reichsfahnen zu sehen. Selbst wenn der vornehmer und salonfähiger Teil dieser organisierten Kraft sich als ‚Nationalisten‘, ‚Patrioten‘ oder ‚Bewahrer‘ bezeichnet, ist er, genau wie die, am untersten Ende der Hierarchie, schlicht und einfach faschistisch. Von Faschos gibt es inzwischen viele Sorten: es sind Salon-Patrioten mit Geld und Einfluss, christlich-orthodoxen möchte-gern-Nachfolger der Schwarzen Hundert, Verehrer von Adolf Hitler, neoheidnische Anhänger des Slawentums mit unterschiedlichen Graden der Durchgeknalltheit. All sie, selbst die banalsten Nazi-Skins, sind allerdings im heutigen Russland mit seinem Siegesmythos vom großen vaterländischen Krieg kein Fremdkörper. Das ist nämlich der Teil der gekränkten Imperiumsbewohnern, die die Ressentiments nicht nur aufnehmen, sondern auch offen ausleben. D.h. sie jagen, schlagen zusammen und morden Linke, Schwule, Gewerkschafter, Migranten und Obdachlose, oder – sie geben konkret-praktische Deckung für nazistische Mörder-Banden. Diskursiv wird das längst vom Regime selbst gedeckt. (…) Mensch müsste weit ausholen, um das Bild einer abwesenden Zivilgesellschaft zu malen. Was gehört so alles dazu? Die imperiale Tradition dieses Staates von der Bysanz-Nachfolge über den Zaren-Reich bis zum Wiederaufleben der großrussischen Chauvinismus unter Väterchen Stalin, für den heute Babuschkas in den Kirchen Kerzen anzünden? Ist ein ideeller Imperium-Bewohner noch stolzer, dafür aber noch loyaler und unterwürfiger als ein ideeller Bürger eines Nationalstaates? Der Zerfall des Reichs setzt seinen BewohnerInnen schwer zu: die ersten anti-sowjetischen Aufstände in Kasachstan und in den baltischen Republiken, selbst wenn sie für die Erneuerung des maroden Sozialismus standen, richteten sich auch gegen die politische Vorherrschaft der Russen; der Zerfall des Warschauer Paktes und somit das Wegfallen von ferneren ‚Kolonien‘; dann der Zerfall der Sowjetunion selber, von schweren ethnischen Konflikten und dem fast überall anzutreffenden pogromträchtigen Hass auf Russen begleitet; krampfhafte Versuche selbst die Reste des Reichs zusammenzuhalten – das, was im Kaukasus, und vor allem in Tschetschenien passiert, ist ein seit gut 200 Jahren andauernder Kolonialkrieg, den Zaren, Generalsekretäre und Präsidenten fortgesetzt geführt haben. (…) Der Staat hat sich so in ein paar abtrünnige kaukasische Stämme verbissen, nicht nur weil durch die Region wichtige Pipelines gehen, sondern weil dem unabhängigen kaukasischen Imarat höchstwahrscheinlich Tatarstan und womöglich auch Sibirien folgen wird. Dann ist das Selbstzerstückelung der Russländischen ‚Föderation‘ nicht mehr zu stoppen. Gehört das Trauma des letzten sowjetischen Krieges in Afghanistan dazu? (Die afghanischen Mudschaheddin begrüßten übrigens im ersten tschetschenischen Krieg russische Armeefrischlinge herzlichst). Der Westen schwieg darüber und zerfleischte indes ganz dreist ein weiteres traditionelles Protektorat Russlands: Jugoslawien. Die neue alte Elite des Staates zettelte mit Terroranschlägen (einer davon ist Rjazan dummerweise von Hausbewohnern und der Polizei vereitelt worden) den zweiten Krieg in Tschetschenien an und führte so eine Rochade durch: die FSB-Clique trat in den Vordergrund, löste die alte ‚Oligarchen-Familie‘ Jeltzins ab und garantierte ihr weiterhin ein günstiges Akkumulationsregime. Hätte z.B. Chodorkowskij den Pakt durch seine politischen Ambitionen nicht verletzt, könnte er seinen Geschäften ungestört weiter nachgehen“. (3)

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Legal, Illegal, Extralegal

Staatliches Töten im Krieg

 

Der Staat unterwirft die ihm zugehörigen Bürger seiner Herrschaft. Das ist seine erste und grundlegende Leistung. Darauf beruht alles, was er mit seinen zum Volk zusammenregierten Menschen sonst noch anstellt und für sie tut.

Entsprechend duldet kein Staat die Relativierung seiner Herrschaft. Etwaige Versuche von innen gelten als Verbrechen, die Versuche von außen führen zu zwischenstaatlichen Konflikten. Ein souveräner Staat macht sich nicht von Bedingungen abhängig, weder von höheren Instanzen oder übergeordneten Regeln, noch von den Ansprüchen einzelner Bürger:innen.

Während die Ausübung der Gewalt im Inneren durch die Gesetze geregelt ist, kommt es in zwischenstaatlichen Konflikten zur Gewaltausübung gegen fremde Bürger:innen, wobei die Gesetze der beiden kriegsführenden Staaten die Gewalt kaum einschränken und regeln. Auf fremdem Territorium befolgt der staatliche Gewaltapparat die eigenen Gesetze nicht und bricht bereits durch die eigenmächtig verfügte Anwesenheit die Gesetze der anderen.

Von den eigenen Bürger:innen verlangt und erwartet die Staatsgewalt grundsätzlich eins: Unterwerfung. Sie sollen wissen, dass und wem sie gehorchen müssen und wie sie sich entsprechend verhalten. Bei kriegerischen Handlungen muss angenommen werden, dass die Bürger:innen der verfeindeten Staaten sich ihrer Staatsgewalt gegenüber genauso gehorsam verhalten, wie der kriegsführende Staat es von den eigenen verlangt. Das daraus resultierende Misstrauen prägt das Verhältnis des Militärs zur Zivilbevölkerung der verfeindeten Staaten.

Russland kündigte beim Einmarsch in die Ukraine an, die ukrainische Bevölkerung vom Joch der dortigen Regierung zu befreien. Die ukrainische Staatsführung wird von Moskau nicht nur als feindlich gegenüber Russland, sondern auch als feindlich gegenüber den eigenen Bürger:innen bezeichnet. Von Letzteren schien die Führung Russlands anzunehmen, dass etliche mit ihrer Staatsangehörigkeit unzufrieden sind und lieber russische Bürger:innen wären. Diese Annahme zerfiel schon in der erste Kriegswoche. Stolz präsentierte die ukrainische Seite Bilder von Waffenverteilungen an wehrwillige Zivilist:innen, was bei der westlichen Öffentlichkeit für Entzückung sorgte.

Russland gab als eines der Kriegsziele offiziell aus, ukrainische Bürger:innen, die sich seit 2014 im Kampf gegen die Sezessionsbestrebungen besonderes blutig hervorgetan haben, juristisch zur Rechenschaft zu ziehen. Die ukrainische Seite hat klargemacht, dass die prorussische Haltung als Staatsfeindschaft und eine Zusammenarbeit mit den „Volksrepubliken“ als Verrat gilt. Wenig überraschend, dass Zivilist:innen von nun an nicht mehr einfach als solche gelten können – für die Kriegsparteien teilen sie sich in loyal und feindlich auf. Der Schutz ihrer Leben findet seine Grenzen häufig dort, wo die der eigenen Kombattanten als gefährdet gelten. Der Übergang von der Inkaufnahme zufälliger ziviler Opfer zur gezielten Einschüchterung der feindlich gesonnenen Bevölkerung bleibt fließend.

Zudem behalten die Staaten, die über genug militärisches Potenzial verfügen, sich die Option vor, ihre Feinde überall jenseits der eigenen Grenzen auch ohne Gerichtsprozess zu töten. Einige Staaten sind auch stark genug, es offiziell zuzugeben, wie die USA im Falle von Osama Bin Laden. Andere, wie Russland, dessen Präsident Wladimir Putin schon zu Anfang seiner Amtszeit ankündigte die Terroristen überall auf der Welt „kalt zu machen“, drohen zwar damit, leugnen jedoch ihre Beteiligung in jedem einzelnen Verdachtsfall.

Vor diesem Hintergrund ist das, was die russischen Truppen in Butscha und anderen Städten hinterließen schockierend, aber wenig überraschend. Die Feindschaft zum anderen Staat lässt sich, je länger ein Krieg dauert, immer weniger von der Feindschaft zu seiner Bevölkerung trennen. Die eigene Bevölkerung gilt dem Staat als Manövriermasse und die andere Bevölkerung wird als die des Feindes wahrgenommen.

Noch viel weniger als die Grausamkeit überraschen die Reaktionen darauf. Während Russland in routinierten „whataboutism“ (mit Erinnerungen an die Taten der USA und Ukraine bei ihren „anti-terroristischen Operationen“) verfällt und die „Truther-Trolle“ mit neuen Verschwörungstheorien füttert, deklariert die ukrainische Seite die Toten als Opfer eines „Genozids“. Die ideologische Kriegsbegründung Russlands, man wolle eine freundlich-neutrale Ukraine schaffen, kontert die dortige Regierung mit der These, die Morde von Butscha stellen keinen Exzess oder Mittel der Kriegsführung, sondern deren Ziel dar. Kurz darauf holt der Historiker Timothy Snyder einen Text des „Polittechnologen“ Timofei Sergeizew vom russischen Nachrichtenportal „RIA Nowosti“ hervor und erklärt diesen zum russischen Programm zur Vernichtung der ukrainischen Idenität. Da sich in der russischen Propaganda das sowjetische Ideologem „Russen und Ukrainer sind zwei Völker, die historisch zusammen gehören“ stets mit der zaristischen Rhetorik „Ukrainer gibt es gar nicht“ abwechselt, klingt es alles fast überzeugend, solange das Auslöschen von Identität mit dem Auslöschen von Menschen zusammengedacht wird. Für die Nationalist:innen ist es keine schwere Übung. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selensky setzt den angeblichen russischen Plan mit „Deeuropäisierung“ gleich –die Botschaft an seine Verbündete ist unmissverständlich. Russen, so der ukrainischer Staatschef, töten Europäer für ihr Europäersein. Endgültige Klarheit bringt der Präsident des mächtigsten kapitalistischen Staates der Welt, indem er öffentlich verkündet, Putin begehe in der Ukraine „Völkermord“.

Angesichts dessen, dass Russland immer noch an der Version festhält, in die Ukraine gerade deshalb einmarschiert zu sein um einen Völkermord zu verhindern, wird die Tragweite der Frage offensichtlich, nämlich wer definiert, was ein Völkermord ist und was nicht. Ein wichtiger Beitrag für die Mobilisierung und zur Legitimierung des Krieges.

Alexander Amethystow

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Aus Heft 18: Menschen im Staat

Ein Rückblick die 2 Jahre Corona-Pandemie

Von Jörg Finkenberger

Die letzten 2 Jahre haben diese Gesellschaft von einer Seite gezeigt, wie man sie vorher nicht sehen konnte oder nicht sehen wollte. Immerhin ist man gezwungen, sie jetzt zur Kenntnis zu nehmen. Es hat niemand eine gute Figur gemacht. Aber es ist mehr als eine ästhetische Frage, sondern nur ein Zerrspiegel dieser Gesellschaft. Es ist alles da, was man sonst auch sieht, aber einiges kurios übertrieben; deswegen kann man Dinge erkennen, die man sonst übersieht. Sehen wir hin: die Behörden sind im Kern unfähig, die politische Führung fühlt sich niemandem ernsthaft Rechenschaft schuldig, die Gesellschaft ist bis zur Hilflosigkeit atomisiert, und in diesem Zustand anfällig für die irrsinnigsten Ideen; die öffentliche Debatte wird von Leuten beherrscht, die unfähig sind, Naturtatsachen zu begreifen. Die Fäule ist nicht nur oberflächlich. Man mag sich gar nicht vorstellen, wie es aussieht, wenn einmal wirklich was ist; aber andererseits ist nichts von alledem neu und ungewöhnlich. Eine Gesellschaft, die so aussieht wie die unsere, kann nicht anders als disfunktional sein; sie ist es auch in ihren besten Zeiten. Dann tun alle so, als wäre nichts. Es werden andere Zeiten kommen; solche, in denen man nicht mehr so tun kann. Sehen wir uns den Gesamtschaden einmal an.

1. Man weiss jetzt ganz genau, was die Belange der Frauen und der Kinder in dieser Gesellschaft zählen. Im Grunde sind 50 Jahre Frauenbewegung für die Katz gewesen. Was ihnen zugestanden worden ist, ist entweder symbolisch oder jederzeit widerruflich. Will man sich noch Illusionen machen? Die Freiheit, die diese Gesellschaft verspricht, kann nicht anders sein. Im Notfall steht man doch alleine da, wieder am Herd; im Notfall sind alle die schönen Einrichtungen, die den Frauen die Teilnahme am Arbeitsmarkt erlauben, zu nichts zu gebrauchen; und dann zeigt sich sehr schnell, an wem was hängenbleibt. Denn es hat sich in Wirklichkeit nichts verändert.

Die sogenannten Bildungseinrichtungen für die Kinder waren immer vor allem Anstalten, um die Kinder aufzubewahren, während die Eltern arbeiten. Nie hat das jemand verschwiegen. Ansonsten dienten sie dazu, den Kindern einen verstümmelten Rest Sozialisation zu ermöglichen; notdürftig verbringt man seine Kindheit damit, der unsinnigen Reglementierung und den stumpfen sogenannten Unterrichtsinhalten aus dem Weg zu gehen und trotzdem so etwas wie Freundschaften zu finden und eine Art Leben. Die Schulzeit bleibt, wenn überhaupt, nur wegen dem in guter Erinnerung, was in Schulordnung und Lehrplan ausdrücklich nicht vorgesehen ist.

Was vorgesehen ist, ist dagegen die stumpfe Trennung von jedem gesellschaftlichen Leben. Die einzige stabile Bindung ist die Isolation in der Familie, auf diese wird man zurückgeworfen. Etwas drittes gibt es nicht, niemand wagt überhaupt daran zu denken; man müsste ja ganz anders leben. Der Lehrplan geht, so gut es eben geht, derweil weiter; mit Arbeitsblättern über Arbeitsblättern. Der digitale Fernunterricht ist Schule ohne alles, was sie erträglich macht. Ob er überhaupt funktioniert, ob zuhause überall die idyllischen Bedingungen herrschen, die so etwas möglich machen, interessiert niemanden.

Das Bildungssystem wird die „Errungenschaften“ dieser Jahre sich übrigens nicht ohne weiteres entreissen lassen;. Aber selbst nach 2 Jahren ist es immer noch nicht möglich, Luftfilter in die Klassenräume zu bringen. Wozu auch, für nur eine Pandemie? Danach wird es wieder so egal sein wie vorher. Es ist offenbar allgemein akzeptiert, dass es immer so war und deswegen notwendig so bleiben muss, dass Schulen und Kindergärten Sammel- und Verteilstellen von ansteckenden Krankheiten sind. Es ist natürlich und gottgewollt, dass Kinder und junge Eltern jede zwei Wochen mit einer anderen Art von Infekt geschlagen sind. Es wäre regelrecht ein Verstoss gegen die Schöpfungsordnung, dagegen irgendetwas zu tun.

Man soll sich von der ganzen neuen Technik nicht täuschen lassen, unsere Schulen sind eine Schande gewesen und sind bis heute eine Schande, auch wo heute Beamer statt Kreide benutzt wird. Die Lehrmaterialien, die Arbeitsbedingungen der Lehrkräfte, die meistens nach einigen Jahren kapitulieren und danach als gebrochene Menschen durch die Flure schlurfen; die Klassengrössen, die soziale Dynamik, die aufs Mobbing hinausläuft; die Lehrpläne, das blinde Lernen von Unfug, der nur akzeptiert wird, weil man ihn auch wieder leicht vergessen kann; das ganze verdammte Konzept ist eine Schande, und jeder weiss das, aber wenigstend hält es die Kinder von zuhause fort. Was, wenn es das nicht mehr tut?

Diese Schulen und die Kindergärten sind im Kern alles, was diese Gesellschaft zu der Gleichberechtigung der Frauen beigetragen hat, und man setzt es leichtfertig aufs Spiel. Diese Glecihberechtigung ist noch nicht einmal der Anfang einer Befreiung; und sie besteht eigentlich nur in der Eingliederung in den Markt; etwas anderes ist gar nicht vorgesehen. Die Bedenkenlosigkeit, die völlige Gleichgültigkeit, mit der davon ausgegangen wird, dass das alles von heute auf morgen auch wieder den früheren Gang geht; dass die Frauen natürlich zu Hause bleiben werden, nicht nur einmal, sondern sooft es nötig ist; dass sie sich halt danach zu richten haben werden; das war auch etwas, was man gesehen haben musste.

Die Überarbeit der Frauen wird ganz selbstverständlich vorausgesetzt, sie wird ihnen auch nicht abgenommen, von ihren noch so wohlmeinenden Männern, und schon gar nicht von der noch so fortschrittlichen politischen Klasse. Die hat vor lauter Fortschrittlichkeit schon lange aufgehört, sich um solche banalen Dinge zu kümmern. Die Dinge sind im Kern heute nicht anders organisiert als zur Zeit unsrer Grossmütter, die ohne Erlaubnis ihrer Ehemänner keine Arbeit annehmen durften. Natürlich ist heute alles moderner und flexibler! Heute müssen die Frauen freiwillig entscheiden, zuhause zu bleiben, weil es andersherum keinen Sinn macht; weil die Männer mehr verdienen. Aber das Spiel ist gezinkt, und alle wissen es jetzt. Die Frauen werden als eine kostenlose Ressource behandelt; die Kinder als Material. Nichts neues, natürlich; aber in dieser Rohheit lange nicht gesehen. Man weiss jetzt wieder, wo der Hammer hängt.

Natürlich, wenn Kontakte reduziert werden müssen, will abgewogen sein, welche und wo; Industrie, Gastronomie, oder Schulen. Und es ist immer ganz klar gewesen, wohin die Waage ausschlägt. Nehmen wir das zur Kenntnis, wessen Belange zählen und wessen nicht! Und hoffen wir, dass es die Frauen auch nicht so schnell vergessen werden. Diese Gesellschaftsordnung, oder die Befreiung der Frauen: nur eines von beiden ist möglich.

2. Diese Gesellschaft ist in ihrer Struktur unhaltbar. Jede einzelne Verrichtung ist abhängig von Dingen, die schon in einer vergleichsweise harmlosen Epidemie nicht mehr gewährleistet werden können. Alles ist mit allem auf nutzlose und übertriebene Weise verflochten; und das liegt gar nicht an dem erreichten Stand der Produktivkräfte, sondern an der marktwirtschaftlichen Ordnung. Jedes Ding ist mit jedem Ding verbunden nicht über einen direkten Weg, sondern durch den gesamten Apparat der Gesellschaft. Das Virus tauchte in Bayern auf, weil irgendwelche Ingenieure in Wuhan auf Fortbildung waren; es stellt sich raus, die globalen Lieferketten ziehen sich praktisch durch jedes niederbayerische Nest. Es gibt im Prinzip keine lokalen Kreisläufe. In der Praxis gibt es die natürlich massenhaft, aber als untergeordnete Ausnahmen und Unvollkommenheiten. Die Familie ist selbst so eine untergeordnete Ausnahme. Die bürgerliche Gesellschaft ist ihrem Begriff nach eine gewalttätige Abstraktion; sie muss so tun, als gäbe es diese untergeordneten Strukturen nicht. Aber sie beruht darauf, dass es sie doch gibt. Sie macht sie nutzbar, unterwirft sie, aber beraubt sie aller Selbständigkeit.

Die Pest hat Jahrzehnte gebraucht, sich über die ganze alte Welt zu verbeiten, das neue Virus keine drei Wochen. Das sagt etwas über unsere heutige Welt. Die Einwohner unserer heutigen Gesellschaft stehen wirklich, wie es die bürgerlichen Ideologen sich wünschten, in direktem und unmittelbaren Verhältnis zum Ganzen, zum Markt und zum Staat. Sie haben auch nichts, wohin sich zurückziehen; sie haben keine eignen und auch keine gemeinschaftlichen Lebensgrundlagen. Alles, Lebensunterhalt, Familie, hängt an denselben grossen Kreisläufen, und in denen ist selbstverständlich auch keinerlei Redundanz. Eine solche Gesellschaftsordnung ist, neben vielen anderen Sachen, unvermeidlich eine Brutstätte für Seuchen. Es ist übrigens seit 30 Jahren so; alle zehn Jahre beinahe hatte man ja seitdem solche Epidemien. Man hat sie zweimal aufgehalten bekommen, so gründlich, dass es vollkommen vergessen worden ist; das dritte Mal dann nicht mehr. Es gibt einen Grund, anzunehmen, dass es in zehn Jahren nicht wieder passiert, ja dass es das nächste Mal nicht noch schlimmer kommt.

Und dabei ist diese faktische Weltgesellschaft noch in Staaten zerspalten, die, was die Handelsbilanz betrifft, sich gegenseitig nicht das Schwarze unter den Nägeln gönnen dürfen; die harten Massnahmen, mit denen überall auf die Seuche reagiert wurde, war eingestandenermassen der Preis dafür, die exportierende Industrie offenzuhalten. Das gesamte gesellschaftliche Leben ist beschreibbar als eine Lieferkette für diese, für die Zitadellen dieser Herrschaftsordnung. Es zeigt sich übrigens wie in der Krise von 2008, was das Gerede von der postindustriellen oder Dienstleistungsgesellschaft wert ist. An welche Branchen ist diese Gesellschaftsordnung unauflöslich gekettet, und welche sind bloss optional? Die Antwort auf diese Frage ist die Antwort darauf, was die Abstraktion „gesellschaftlicher Reichtum“ wirklich bedeutet, was noch kein Wirtschaftswissenschaftler erklären wollte. Der produktive Apparat ist ein Herrschaftsmittel. Und das wird in jeder Gesellschaft so sein, die die Grundfehler der bürgerlichen Gesellschaft teilt. Auch das, was die meisten unter dem Sozialismus verstehen wollen, wäre nicht anders. Jede Alternative, wenn sie von oben nach unten gedacht werden kann, wird keine Alternative. Sie hätte dieselben Fehler und womöglich schlimmere dazu.

3. Alle Entscheidungsgewalt ist in diesen Gesellschaften in den Händen der zuständigen Behörden konzentriert. Die Behörden sind wiederum daran gewöhnt, niemandem Rechenschaft schuldig zu sein. Das ist der reine Hohn auf die sogenannte Demokratie und gleichzeitig ihre genaue Realität: dem Staat gegenüber ist die Gesellschaft auf Dauer passiv, nicht sie handelt, sondern des Staat; und solange sie sich in dieser Rolle halten lässt, hat sie in der Tat ihre Hoheit ganz und gar abgetreten und kann sich darüber noch nicht einmal klar werden. Ihre Repräsentanten handeln für sie, wie für einen auf Dauer Unmündigen. Das ist nicht erst seit neulich so; aber bis neulich konnte man noch sagen: es funktioniert wenigstens.

Das Organisationsversagen der Behörden war auf allen Ebenen zu sehen, von den Gemeinden bis zur überstaatlichen Ebene. Es hat ja Pläne für einen solchen Fall gegeben; sie sind seit 2003 nach der ersten SARS-Epidemie entwickelt worden. Es stellt sich heraus, dass sie wertlos waren; sie hingen an den internationalen gemeinsamen Behörden der Staaten. Und es zeigt sich, dass diese internationalen Behörden heute kaum mehr handlungsfähig sind, weil die Grossmächte heute nicht mehr zusammenarbeiten.

Aber das Versagen geht noch tiefer. Sogar ein Land wie Deutschland, das ziemlich an der Spitze der globalen Nahrungskette steht, war nicht in der Lage, angemessen früh zu reagieren. Als hier die ersten Infektionen auftraten, Anfang 2020 in Bayern, durfte vor den Kommunalwahlen nichts geschehen; es hätte den ordnungsgemässen Wahlausgang gestört. So ähnlich dürfte es überall ausgesehen haben. Und natürlich feiern sich solche Leute wie Markus Söder heute für ihr entschiedenes und erfolgreiches Handeln.

Warum wird hier keine Rechenschaft verlangt? Warum ist das so gründlich vergessen? Weil alle froh sind, dass Söder später überhaupt etwas unternommen hat. Jeder, der ihn auch nur flüchtig kennt, hat damit gerechnet, dass er ohne zu Zögern auch zu einer Tour nach Art des Bolsonaro in der Lage gewesen wäre. Das bestehende politische System selektiert positiv auf Psychopathie.

Man kann den ganzen Unsinn, der von den Behörden und der gewählten Führung getrieben worden ist, gar nicht mehr aufzählen, es ist sogar schwer, ihn in Erinnerung zu behalten. Fahrlässige Unterlassungen auf der einen Seite, zähes Festhalten an einigen unsinnigen und belastenden Massnahmen auf der anderen; fortgesetzte Unfähigkeit, aus einer bald zwei Jahre dauernden Sache irgendetwas zu lernen; der allzeit völlig überraschende Herbst; die nach zwei Jahren immer noch unerklärbar fehlenden Kapazitäten in den Krankenhäusern; dafür Methoden wie unterschiedslose Ausgangssperren am Abend. Was ein normaler Mensch in diesem so gut funktionierenden Land erlebt hat, spottet jeder Beschreibung. Genau deswegen wird öffentlich nicht viel darüber geredet.

4. Ein guter Teil der Gesellschaft war im März 2020 willens, das nötige gegen die Ausbreitung des Virus zu tun; nicht nur bereit, sondern begann sich selbst angemessen zu verhalten, ohne auf Anweisung zu warten. Es war sogar erst die öffentliche Meinung, die die gewählten Anführer gezwungen hat, sich der Sache anzunehmen. Leute wie Markus Söder haben natürlich die Umfragen angesehen, ehe sie entschieden haben, ob sie es wie Bolsonaro machen oder eher nicht. Aber von Beginn an hat das ungeschickte und im Grunde gleichgültige Vorgehen des Staats diese Bereitschaft Stück für Stück zerstört. Brasilien hat eine höhere Impfquote hinbekommen als das so gut organisierte Deutschland! Wie kann so etwas passieren?

Der Staat ersetzt die Einsicht in die Lage durch den Befehl einer Vorschrift. Im Verhältnis zur Gesellschaft erscheint als wirkende Ursache der Staat, nicht die objektive Lage. Je tiefer der Staat im Bewusstsein der Gesellschafsglieder eingewurzelt ist, desto unfähiger werden sie, ihre Lage selbst zu erkennen. Die Gesellschaft, in ihrem passiven Zustand, erzeugt dadurch selbst dauernd eine eigene Psychopathie. Was der Staat befiehlt, ist je nachdem wie man zu ihm stehen will, entweder unbestreitbar richtig oder unbestreitbar falsch; die Wurzel des Urteils liegt im Verhältnis zum Staat, nicht zur Realität, das ist das wichtigste und das alles überragende Kriterium. Unsre Ideologen klagen über den Verlust der Wahrheit; aber sie tun so, als käme das von irgendeiner metyphysischen Sonnenfinsternis her. Die Pathologie des Staatsbürgers, das ist der Grund für den Verlust der Realität.

Wer jemals mit einem dieser Massnahmengegner gesprochen hat, wird die unsichtbare Sperre nicht vergessen, an der man nicht vorbeikam; der Punkt, wo die gewöhnliche Dummheit in eine gewollte Dummheit übergeht, der mit Gründen nicht beizukommen ist; die sich stattdessen beliebig eigene Gründe einfallen lässt. Dasselbe Erlebnis konnte man mit einer anderen Sorte haben: denjenigen Massnahmenbefürwortern, die selbst im März 2020 noch von Panikmache geredet haben, aber ihre Meinung mit den ersten Regierungserlassen geändert haben. Auch mit diesen war kein vernünftiges Wort zu reden. Wenn es im Gesetz steht, muss es richtig sein; wer das nicht glaubt, ist ein Feind. Diese gibt es meistens unter den Anhängern des heutigen Linksliberalismus, und es wurde über sie diesmal weniger geredet als über die anderen, weil sie diesesmal weniger störend auffielen; das wird sich ändern, denn diese Sorte ist unglaublich dreist geworden, und sie sind nicht mehr gewohnt, dass ihnen widersprochen wird. In der nächsten Periode wird man auch mit denen zusammenrucken müssen, sonst wird man sich ihrer nicht mehr erwehrt bekommen.

Die offenkundig irrsinnige Strategie unsrer gewählten Häupter war auch deswegen jeder wirksamen Kritik entzogen, weil diese beiden Gruppen von Staatsbürgern sich so hervorragend ergänzen. Die einen konnten immer, bei jedem Einwand, auf die anderen Bekloppten zeigen. Miteinander gemeinsam haben sie aber die Staatsbürgerbrille, durch die sie alles betrachten; die Unfähigkeit, Naturtatsachen von gesellschaftlichen Tatsachen zu unterscheiden; das völlige Desinteresse an den gemeinsamen Angelegenheiten, eine Art moralischer Farbenblindheit, und als Folge die Unfähigkeit, gesellschaftlich zu handeln. Und sie sind selbstverständlich zusammen in der Lage, die Debatte zu bestimmen; aber auch nur zusammen, denn sie sind aufeinander angewiesen, die Dummheit der einen deckt die Dummheit der anderen. Und die Grundlage der Debatte ist die gemeinsame Handlungsunfähigkeit.

Das ist die Psychopathie, die eine unmündig gehaltene Gesellschaft aus sich heraus hervorbringt. Und solange sie vorherrscht, wird die Gesellschaft auch immer unmündig bleiben. Das heisst, dauerhaft unfähig, ihre gemeinschaftlichen Angelegenheiten zu besorgen. Dazu, heisst es, haben wir ja den Staat! Der aber ebenso unfähig ist; und, weil er notwendig die Beute der einen oder der anderen Deppen sein muss, wird er immer nur unfähiger.

Das ganze wäre ein geschlossenes System, sauber und logisch konstruiert, in dem nichts möglich ist und nichts jemals anders wird. Aber es ist nicht so, es könnte gar nicht bestehen. Es scheint noch eine dritte Art zu geben, wie sich Menschen in dieser Gesellschaft verhalten. Sie tritt nicht laut in Erscheinung, und sie ist undankbar und mühsam. Sie besteht aus der alltäglichen Improvisation, dem alltäglichen eigenen Urteil darüber, was angemessen ist und was nicht. Die Leute von dieser Sorte dominieren selbstverständlich nicht die Debatte. Sie werden überhaupt nicht gefragt, ja gar nicht zur Kenntnis genommen. Aber sie sind diejenigen, welche beweisen, dass etwas wie Gesellschaft überhaupt möglich ist.

Wir haben vor zwei Jahren die Frage gestellt, wer die Befähigung hat, die Geschäfte der Gesellschaft zu leiten. Diese letztere Sorte Menschen sind es. Zum guten Glück sind sie unter den arbeitenden Klassen nicht ganz so selten, wie man fürchten musste. Es ist also immer möglich, dass ihnen einmal etwas Entscheidungsgewalt in die Hände fällt; das ist auch gar nicht selten so gewesen, sie haben sie nur selten lange behalten. Aber keine Veränderung ist möglich, ohne dass diese dabie die Führung übernehmen, wenigstens für eine Zeit. Und keine dauerhafte Verbesserung, ohne dass sie sie behalten. So etwas ist aber bekanntlich noch nie gelungen.

5. Eine Gesellschaft wie die unsre hat keine Zukunft. Ein Zeichen dafür ist, dass so etwas heute nicht mehr die üblichen Verdächtigen sagen, sondern ganz andere Leute. Die üblichen Verdächtigen dagegen scheinen in den streitenden Fraktionen der fanatisiertenStaatsbürger aufgegangen zu sein. Diese Fraktionen halten sich beide für oppositionell, aber sie sind es, die das unerträglich gewordene Gefüge aufrechterhalten.

Heute obenauf ist der linke Flügel des Systems, eine Art durchgedrehter Liberalismus. Er ist die Partei des modernen Kapitals und der akademisch gebildeten Mittelschichten, und er hat auch nur deren Ideen anzubieten. Er feiert sich selbst dafür, die sogenannte Ära der Populisten überwunden zu haben, und glaubt ernsthaft, das aus eigener Kraft geschafft zu haben. Das ist keineswegs der Fall. Aber der Sieg hat ihn übermütig gemacht, und die Auseinandersetzung hat ihn deformiert. Er hat sich zu einem engen und autoritären Konformismus verändert, er weist jeden Einspruch gegen sein neues Evangelium zurück, aber er hat als Deckung für seinen absurden Anspruch nichts vorzuzeigen. Er verspricht auch nichts anderes, als das es weiter so geht.

Sein Sieg ist erpresst. Und er hat sich zu sehr daran gewöhnt, dass sein zuverlässiger Gegner da ist; die sogenannte populistische Rechte, die Partei der veralteten Industrien und ihres Anhangs in dem absteigenden Teil der Mittelschicht. Er profitiert davon, dass er als einzige glaubwürdige andere Option dasteht; und er muss wütend jede Konkurrenz bekämpfen, vor allem von links. Umgekehrt ist er selbst derart verhasst, dass er der Rechten immer genug Unterstützung zutreiben wird. Das Spiel kann lange so weitergehen, bis die Tatsachen sich verschieben, die es möglich machen. Diese zwei grossen Übel brauchen einander; und sie werden bestehen, bis die heutige Ordnung, ihr gemeinsames Werk, scheitert.

Wir haben einen ersten Eindruck bekommen, wie dieses Scheitern aussieht, wir werden bald noch genauere bekommen. Denn es werden neue Konflikte auftreten; alles entscheidet sich daran, dass sie auch neue Kräfte hervorbringen. Die Keime sind zu sehen; dass sie gedeihen, ist sehr unsicher. Und noch ist es ruhig; die am meisten zu leiden hatten, sind die, deren Belange ohnehin nicht zählen. Man kam, mit Anstrengung, durch diese Sache durch, so wie man immer durchkam mit Anstrengung. Deswegen werden die nächsten Schwierigkeiten genauso bewältigt werden wie diese letzten. Die zynische und selbstzufriedene Art, wie hier gewirtschaftet wurde, wird aber unter anderen Umständen vielleicht einmal ganz anders aufgenommen werden. Es waren nicht unsere Anführer, die uns durch diese Geschichte gebracht haben, es war die Energie und Erfindungsgabe derer, auf die niemand hört. Man sollte sich niemals mit denen anlegen, die alles zusammenhalten. Aber natürlich wird das unweigerlich geschehen.

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Heft #18 unmittelbar als es selbst erschienen

(Glücks-)Wünsche, Anregungen und Bild- und Textzusendungen bitte auf den üblichen Kommunikationskanälen. Bis dahin.

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Halt deine Fresse und sage einfach Ja!

von Sandro Luminossow

Eines schönen Tages begab ich mich mit einer Ladung schmutziger Wäsche zum SB-Waschsalon meines Vertrauens. Wäschewaschen ist einerseits ein intimer Vorgang, der manchmal an einem öffentlichen Ort unter Anwesenheit fremder Menschen unangenehm sein kann. Dieses unfreiwillige Entblößen – wenn auch nur eigener getragener Socken und Unterhosen – kaschiert man, indem man sich mit jemand verquatscht, älteren Mitbürgern mit dem Bezahlen hilft, mit dem anwesenden Hundi spielt usw. Andererseits ist es ein langweiliger Vorgang, der viel zu lange dauert, besonders wenn keine Hunde und älteren Menschen da sind und man das Genörgele von nebenan gerade nicht ertragen vermag. Dann scrollt man rauf und runter auf Facebook oder liest eben was. Gefundene Flyer und Werbeprospekte oder mitgebrachte Bücher. Und da sah ich es plötzlich – einen ganzen Stapel des „Einfach Ja!“-Magazins, der „Zeitschrift für Bewusstsein, Kreativität und Heilung“. Oder Flyers und Werbeprospekts in einem, ist nicht wichtig. Optisch mindestens so ansprechend und vielversprechend wie das Grosse Thier, und genau so schien es Lösungen für alle möglichen Probleme zu liefern, vor welchen ein aufgeschlossener, moderner Mensch wie ich heutzutage nur stehen kann.

Eigentlich dürfte es solche „Zeitschriften“ überall ein einer oder anderen Form geben. Man braucht auf Facebook nur „Bewusst in Y“ oder „Bewusstes Leben in Y“ einzugeben, wobei Y eine x-beliebige Stadt ist, und schon kommen einem hilfsbereite sympathische Menschen entgegen, um einem einzureden, man habe bis jetzt nicht so bewusst und deswegen vermutlich nicht so glücklich gelebt. Diese Zeitschrift erscheint aber auch auf Papier in Dresden, spezialisiert sich vornehmlich für Ostdeutschland, lässt dich ältere Ausgaben online kostenlos lesen und kann im Osten Deutschland pauschal für 13€ beliebig viele Printausgaben schicken! So hat das das Thier früher auch gemacht! Da wurde mir klar: das Universum schickte mir ein Zeichen. Erst geht die Waschmaschine kaputt, dann zieht das Waschsalon sogar zwei Häuserblocks näher an mein Haus und ausgerechnet an diesem Tag muss ich hin und hab kein Buch und kein Telefon dabei. Ohne Grund ist das nicht.

Da es in der DIY-Presse üblich ist, einander zu supporten und einander zu rezensieren, damit das Bubble sich noch fester gegen die Außenwelt verdichtet, entschloss ich mich, den Stapel nach bestem Wissen und Gewissen zu studieren.

Man muss Alltagserfahrungen ansprechen, nicht gleich mit Adorno kommen, den man zudem selbst nicht ganz verstanden hat. Und mit den Alltagserfahrungen kann „Einfach Ja!“ sehr gut. Die Ausgabe für Februar-März 2018 heißt: „Krise, Stress, Überarbeitung… Muss das so sein?“ Wenn man spontan dem keine Alternative weiß, spürt man doch ganz deutlich, dass die liebe Arbeit zu einem nicht so lieb ist, und dass der Urlaub nur eine funktionell eingelegte Verschnaufpause ist (wenn überhaupt), und möchte spontan „Ja!“ – genauer gesagt „Nein! So muss es nicht sein!“ brüllen. Doch die deutschen scheinen nicht an eigener Betriebsamkeit zu leiden. Auf der Seite 50 findet sich eine Anzeige für das Buch „Die deutschen und ihre verletzte Identität“ von Gabriele Baring (Europa-Verlag), in der es heißt: „…Die Autorin Gabriele Baring widmet sich schon seit Jahrzehnten als analytisch orientierte systemische Familientherapeutin mit eigener Praxis in Berlin schwerpunktmäßig der transgenerationellen Weitergabe von familiären Traumata und Verhaltensmustern. In ihrer Arbeit kam sie bei tieferem Forschen um die Ursachen aktueller Probleme und Krankheiten ihrer Klienten immer wieder auf Zusammenhänge mit der Familiengeschichte, geprägt durch zwei Weltkriege und Zeiten der Diktatur in Deutschland.

Erst jetzt, nach vielen Jahrzehnten, ist es öffentlich möglich – und auch noch sehr vorsichtig – auch über das Leid von Deutschen zu reden, über noch festhängende kollektive Schuld- und Schamgefühle, über individuelle und kollektive Auswirkungen bis in unsere Zeit. Ein Zeichen dafür, wie viel noch verborgen und ungeheilt im Unbewussten liegt und auf Aufarbeitung durch die sogenannten Kriegskindern und Kriegsenkel oder auch bald -urenkel wartet. Mit ihrem Buch schafft Gabriele Baring Bewusstsein für die vielfältigen kollektiven und individuellen Symptome und Verständnis für die eigenen Vorfahren, dann das ist die Voraussetzung für Heilung im Kleinen wie im Großen, wie sie schreibt: ‚Wenn wir wollen, dass Angst, Krankheit und Depression schwinden, müssen wir dem Schicksal zustimmen. So wie es war, so wie es ist. Wir sollten Familien annehmen. So wie sie waren, so wie sie sind. Unsere Freunde, unsere Gegner, unser Land annehmen. Es ist an der Zeit‘. Dieses Buch ist eine aktualisierte Neuauflage des 2011 unter anderem Titel erschienen Werkes der Autorin – und es ist angesichts der politischen Lage aktueller denn je!“ Weiterlesen

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Liberalismus

Eines unserer Lieblingsthemen, wie man weiss, und natürlich meinen wir damit nicht nur die sogenannte FDP. Aber eben auch diese. Sie ist ja ein Teil der jetzigen Koalition mit zwei anderen Parteien, denen man nicht nachsagen kann, dass ihre Programme wesentlich über den Liberalismus hinausgehen.

Eine kleine unscheinbare Nebenfrage, die ich hier einmal einführen will, ist: was ist das eigentlich für eine Koalition? Was hat sie vor, um was für eine Idee herum ist sie gebaut? Was Corona usw. betrifft, hat sich diese Tage bekanntlich die FDP durchgesetzt. Für die SPD und die Grünen ist, gegenüber der eigenen Klientel, diese Durchseuchungspolitik kostspielig. Also warum machen sie es mit? Um die FDP zu halten. Was haben sie vor, das sie nur mit der FDP machen können?

Nur um nochmal zu erinnern, was für Lurche das sind, hier eine kleine Kostbarkeit.

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