Buchbesprechung: Andrej Platonov, „Frühe Schriften zur Proletarisierung. 1919-1927“, Wien–Berlin, 2019

[aus dem Heft #15]

– von ndejra

Ich gebe zu, von dieser Seite, als Publizisten bzw. Journalisten, kannte ich ihn bisher nicht. Seit Langem schätze ich seine Romane, seine eigentümliche, unverwechselbare Sprache, seit vielen Jahren ist er mir ein „verborgener Mensch“ (so hieß sein Roman aus dem Jahre 1927), zu dem ich immer wieder zurückkehrte. Kaum jemand hatte die kolossale Anstrengung der gesellschaftlichen Kräfte während der russischen Revolution, des Bürgerkrieges und der anschließenden Modernisierung des Landes, den Lebenskampf seiner Leute so eindringlich und ehrlich geschildert. Genauso ehrlich beschrieb er wie diese Leute auf dem Weg in den Sozialismus von den ungeheuren Mächten zermalmt werden, die sie selbst geweckt hatten. Eben dafür ist Platonov seinerzeit als einer Hoffnungsträger der jungen proletarischen Literatur in Ungnade gefallen und wurde von Väterchen Stalin persönlich als „Abschaum“ tituliert. Die Wahrheit war er als einer der wenigen Proletarier in der Schriftstellerzunft der Revolution schuldig, das war sein Kunstverständnis. Die vorliegende Aufsatzsammlung liefert einen weiteren Beweis dafür, dass selbst seine finstersten Werke wie „Tschewengur“ oder „Die Baugrube“ nicht als antikommunistischen Dystopien konzipiert wurden. Ganz im Gegenteil: er war ein Kommunist, ein Utopist, ein Facharbeiter, jemand, der an der vorderster (Arbeits-)Front den Bauern während der Dürre die modernste Bewässerungstechnik erklärte und von der Erschließung der Naturkräfte und der Ausweitung des Sozialismus über das ganze Universum träumte. Stattdessen erlebte er den Einsatz der chemischen Waffen gegen ausgeraubte Bauern durch die rote Armee beim Tambower Aufstand mit. „Eine proletarische Zeitung muss alles drucken, was von Proletariern verfasst wird, denn jeder Proletarier ist ein potenzieller Kommunist. Seine Gedanken im Geist des Marxismus zu frisieren, den kaum jemand richtig versteht, das bedeutet, das Proletariat zu beleidigen und ihm unerhörte Dinge vorzuwerfen, nämlich Sympathien gegenüber dem Kapitalismus… Wir fordern die Freiheit des Ausdrucks für das Proletariat…Die beste Redaktion einer Zeitung ist die Werkhalle. Das Proletariat ist grundsätzlich ein Kommunist, und in kleinen Hinterzimmern seine Gedanken zu filtern, ist eine Widerlichkeit. Wir drohen!“ – schrieb er 1920. Wohl im selben Geist legt er sich mit provinziellen Parteifunktionären an und wird 1921 aus der Partei ausgeschlossen. Und so schrieb er offensichtlich seine Zeitungsartikel, über alles, was ihn gerade als Revolutionär beschäftigte. Aus diesem Buch erfahren wir nicht, welchen Einfluss die spätere Nähe zur „Lukács-Lifschitz-Strömung“ in Moskau auf ihn hatte, aber es stellt die wildesten Widersprüche nebeneinander, die Platonovs Denken in weniger als zehn Jahren durchgemacht hat. Nicht der Revolutionssentimentalität wegen ist dieses Buch interessant – die Revolution wird sich in dieser Form nicht mehr wiederholen –, sondern seines utopisch-praktischen Denkens im Kapitel „Die Umwelt des Proletariats“. Kaum etwas davon ist zwar heute noch brauchbar, einige Ideen ließen sich jedoch sehr schön an die Nase der heutigen menschenfeindlichen Klimaschutzbewegung binden. Es reicht nicht, etwas zu ändern, damit das Schlamassel noch eine Weile so weitergehen kann, es muss alles ganz anders werden: die Versöhnung mit der Natur setzt eine grundlegende Änderung des menschlichen Stoffwechsels mit ihr voraus, sprich der Art und Weise, in der gearbeitet wird. „Der tragische Konflikt des Menschen, der mit Maschine und Herz und mit der Dialektik der Natur gewappnet ist, muss in unserem Land auf dem Weg des Sozialismus gelöst werden. Aber man muss verstehen, dass dies eine sehr ernste Aufgabe darstellt. Das alte Leben auf der ‚Oberfläche‘ der Natur konnte sich mit allem Nötigen aus den Ablagerungen der Naturgewalten versorgen. Wir aber dringen ins Innerste der Welt vor und sie drängt uns mit gleicher Kraft zurück“. Das schließt allerdings ein, dass die Natur dem Menschen feindlich gegenübersteht, die menschenwürdigen Bedingungen müssen ihr durch Arbeit und aktives Eingreifen in die Umwelt abgerungen werden. Die Vernünftigkeit der Klimaverbesserung mittels Reliefsveränderung durch „Sprengung plus Einsatz mechanischer Verfahren“, die Platonov Ende der der 20er Jahre vorschwebte, schlug etwa 40 Jahre später z.B. in den Irrsinn des Projekts „Tajga“ um, mit dem die Sowjetunion sibirische Flüsse mit atomaren Sprengsätzen nach Zentralasien zwecks Bewässerung umleiten wollte. Von dieser Unvernunft hätte der sowjetische Meliorator nicht einmal träumen können. Wir dagegen träumen nur Albträume. Vielleicht bringt uns ausgerechnet Andrej Platonov auf andere Gedanken. „Die Arbeit ähnelt dem Schlaf. Bislang schlief die Menschheit den Schlaf und konnte so überleben. Die Bourgeoisie ist der erste Seufzer der erwachenden, sich befreienden Menschheit. Der Kommunismus wird ihr endgültiges und vollständiges Erwachen sein. Die Elektrifizierung der Welt ist ein Schritt zu unserem Erwachen aus dem Schlaf der Arbeit. Sie ist der Anfang der Befreiung von der Arbeit, der Übergabe der Produktion an die Maschine, der Anfang einer neuen, völlig unvorhersehenen Lebensform.“ So was zum Beispiel. (Der ganze modische Poststrukturalismus im Nachwort – ja, ist vom Turia+Kant Verlag – braucht niemand zu interessieren).

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Aus Heft 17: Buchbesprechung Communization

Wir stellen die aber hier nicht noch mal hoch, steht schon hier.

Buchbesprechung: Communization

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Über Selbsttätigkeit

Aus Heft 17

1

Wenn man über die heutige Gesellschaft etwas sagen kann, dann das, dass sie zum Entsetzen disfunktional ist. Das ist vielleicht nicht ganz neu, aber die Lage, in der wir uns sehen, ist in der Tat halbwegs neu; und es zeigt sich, dass die Gesellschaft von sich aus nach wie vor völlig ausserstande ist, ihre eigenen gemeinschaftlichen Angelegenheiten vernünftig zu regeln. Sogar noch mehr: sie ist noch nicht einmal in der Lage, einen klaren Gedanken über ihren eigenen Zustand zu fassen.

Die Gründe dafür sind nicht so oberflächlicher Art, wie man es oft hört. „Das Internet“ ist für die Mehrheit der Bevölkerung zwar tatsächlich neu, aber es schafft nicht die Konfusion, es beschleunigt sie nur; „Verschwörungstheorien“ sind nicht die Ursache der verbreiteten Desorientierung, sondern ihre Folgen. Auf der anderen Seite kann die letzte Ursache des Übels mühelos in der Verfassung der Gesellschaft selbst gefunden werden; in der Isolation und der unvermeidlichen Hilflosigkeit ihrer einzelnen Glieder; aber damit ist man von einer Handhabe immer noch weit entfernt.

Die Krise der jetzigen Gesellschaft spitzt diese Isolation und Hilflosigkeit weiter zu; es steht niemandem frei, sie einfach abzulegen. Aber jeder Ausweg ist unmöglich, wenn es nicht gelingt, sie wenigstens teilweise zurückzudrängen und Raum zu erobern, in denen Austausch und Koordination möglich ist. Solcher Raum kann als Ansatzpunkt für eine breitere Gegenoffensive dienen.

Nehmen wir als Beispiel einmal die neueste und unbegreiflichste Form dieser Krise, die neuere Corona-Epidemie. Ich glaube, nicht zu übertreiben, wenn ich die Reaktion der Gesellschaft wie folgt zusammenfasse. Als sich im März 2020 das Ausmass der Epidemie abzuzeichnen begann, hatte ein Teil der Gesellschaft schon spontan den sozialen Kontakt eingeschränkt, eine vernünftige Reaktion, und begann öffentliche Massnahmen zu fordern. Das scheinen mir meistens die Frauen gewesen zu sein. Erst langsam kam der Staat dem nach, und immer noch zögernd, und die Gastronomie wurde erst eine Woche nach den Schulen geschlossen.

Niemand hatte natürlich Vorsorge getroffen für eine solche Lage, die sozialen Dienste haben fast völlig versagt, und die Unzufriedenheit damit ist berechtigt. Öffentlich am lautesten geäussert wurde allerdings eine ganz andere Unzufriedenheit, nämlich die an gesellschaftlicher Seuchenbekämpfung überhaupt. Urplötzlich tauchten die allerirrsten Geschichten auf, es ist überhaupt nicht nötig, sie zu wiederholen, ein wimmelnder sich widersprechender Wust von obskuren Theorien, mit denen man sich jede Veränderung, sei sie noch so gering, vom Hals zu halten versuchte. Das verband sich schnell mit den grösseren Verschwörungstheorien, die den ideologischen Boden der neueren revolutionären Rechten bilden.

Die Reichweite aller dieser Geschichten sollte man nicht unterschätzen. Und es ist ja nicht so, dass ihr Vordringen von einer in sich zusammenhängenden Gegenansicht begrenzt wäre. Sondern was diese Gegenansicht im Inneren zusammenhält, ist der Rest von Vertrauen in die bestehenden Institutionen; ein Vertrauen, dass diese Institutionen aber nicht verdienen, und das sie nicht auf lange Dauer werden halten können. Wer wird dann einspringen?

Nehmen wir doch auch dafür die neuere Epidemie als Beispiel! Kann man über den Staat sagen, dass seine Massnahmen konsequent, sinnvoll, hilfreich gewesen sind? In Bayern muss man zum Einkaufen FFP2-Masken tragen, aber keineswegs auf der Arbeit. Weil? Oder: Nachdem die Staatsgazette „Bild“ ihre wüste Schlacht gegen Drosten gewonnen hatte, war der öffentliche Konsens der, dass Kinder in der Schule das Virus praktisch nicht ausbreiten. Also musste man, wie in Britannien, die Schulen offenhalten. In Britannien bildete sich dann eine Variante des Virus aus, die diesen Verbreitungsweg nutzen konnte: völlig absehbar breitet sie sich also schneller aus. Wie reagiert man? Man stellte die Flüge aus Britannien ein, aber man hielt zäh die Schulen offen.

Wer soll da das Gefühl haben, ihm würde die Wahrheit gesagt? Aber noch schlimmer: die Regierung hat die eigene Krisen-Kommunikation sabotiert. Sie hat aus Unfähigkeit die Verbreitung begünstigt und die Epidemie verschlimmert. Wird das öffentlich diskutiert? Opposition in dieser Gesellschaft besteht aus Leuten, die den sächsischen Ministerpräsidenten über dessen Gartenzaun anschreien, dass niemand, in Worten niemand an dieser Krankheit gestorben sei; und innerhalb der linken Szene aus Leuten, die dergleichen Opposition nicht den Rechten überlassen wollen. Haben sie Vorschläge, die sie nicht als komplette Trottel dastehen lassen? Ich habe keinen gehört.

Ich ziehe den Schluss: die heute bestehenden Kanäle der gesellschaftlichen Kommunikation sind katastrophal unfähig, sie bevorzugen Wahnsinn und Dummheit, und sie bringen die Belange des grösseren Bevölkerungsteils zum Schweigen. Es müssen ganz andere Arten von Dinge gesagt werden; das heisst, es muss über ganz andere Kanäle der Kommunikation nachgedacht werden.

2

Bedrückend muss das Gefühl gewesen zu sein, sowohl der Epidemie als auch der Verwaltung völlig ausgeliefert zu sein. Aber war man das notwendig? Die Gesellschaft hat eine grössere Fähigkeit zu gegenseitiger Selbsthilfe, als man ihr das gemeinhin zutraut. Sollte man sich wundern? Viele derjenigen Dinge, die die Verwaltung unterlässt, bleiben ohnehin auf den Schultern der Gesellschaft liegen, aber natürlich zunächst auf denjenigen ihrer Strukturen, die nicht ohne weiteres damit umgehen können, der Familien z.B.

In den frühen Tagen des Lockdown war z.B. an vielen Orten die Rede davon, gegenseitige Selbsthilfe in den einzelnen Wohnvierteln zu organisieren, Besorgungen für Leute in Quarantäne, Kinderbetreuung usw. Sehr oft wurde daraus nichts, weil einerseits niemand die Dinge kannte, die man in medizinischer Hinsicht zu beachten hätte, und andererseits niemand die Leute kannte, neben denen man wohnte. Es ist natürlich schwer, in einer solchen Situation die Grundlagen für Nachbarschaftsorganisation erst zu legen. Im Rückblick wäre es vielleicht die beste Chance gewesen, aber das war erst zu begreifen, als sie vorbei war.

Kirchengemeinden, sogar Fussballvereine begannen, solche Dienste anzubieten; schliesslich tat auch die Verwaltung so, als gedenke sie, sich zu kümmern. Diesen Anschein hielten alle aufrecht bis zu dem Moment, wo es darauf angekommen wäre, Ende 2020. Dann verdampfte das unter der Überlastung aller Strukturen; und was man den Sommer über bequem hätte aufbauen können, war jetzt völlig unmöglich ins Werk zu setzen.

Was die Gesellschaft aber so handlungsunfähig und so abhängig von der Obrigkeit macht, ist als erstes gerade das Fehlen von Kanälen der Kommunikation. Damit ist noch nicht einmal die technische Ebene gemeint. Es wäre einfacher, mit Wildfremden sich zu vereinbaren, wenn wenigstens eine Übung darin bestünde; eine Ebene bekannt wäre, auf der man überhaupt redet. Die Einzelnen sind radikal unkommunikativ, weil sie es niemals anders gelernt haben. Ohne Kommunkation aber keine Organisation.

3

Aber umgekehrt auch ohne Organisation keine Kommunikation. Man kann nicht einfach eines Mittwoch nachmittags bei den Nachbarn aufkreuzen und vorschlagen, sich doch aus keinem Grund zusammenzutun, ohne berechtigten Verdacht zu erwecken. Ohne ein wirkliches unabweisbares Bedürfnis treten Menschen nicht in Aktion, auch nicht in Verbindung.

Die Genossenschaften der alten Arbeiterbewegung hat viel beigetragen, die Klasse politisch zusammenzuhalten, solange es währte; es waren aber nicht die Reichtagsreden der sozialistischen Abgeordneten, oder das kommunistische Manifest, was sie stiftete, sondern das handfeste Bedürfnis. Welches sind heute solche Bedürfnisse, wo der Verbrauch der arbeitenden Klasse zum Gegenstand der Preiskämpfe der Discounter geworden ist?

Auch die anderen gesellschaftlichen Bedürfnisse selbst der abgehängtesten Schichten liegen ja nicht so offensichtlich zu Tage. Überall beansprucht irgend ein Teil der kommunalen Bürokratie, für sie zuständig zu sein. Für alles gibt es irgendwo eine Stelle, irgendwo Gruppen von Ehrenamtlichen. Aber der ganze Apparat funktioniert so, dass die Bedürftigen in Passivität bleiben.

Alle Beteiligten wissen, welche immensen Aufgaben liegen bleiben, aber das sind gerade diejenigen, für die immense Mittel aufgebracht werden müssten. Nehmen wir den neuesten unfreiwilligen Qualitätssprung in unserem Bildungswesen, Remote Learning. Es gibt Kinder, die anscheinend komplett vom Radar verschwinden, weil ihre Eltern die Rechner oder den Internetanschluss nicht haben, den man dazu braucht. Was würde eine Genossenschaftsbewegung tun? Man könnte Zentren in den Stadtteilen einrichten, in denen solche Rechner stehen; böse Zungen würden sagen, etwas funktionsgleiches habe es früher gegeben und man habe es Schulen genannt. Man könnte hausweise freie Bandbreite poolen; man könnte sich in Support Bubbles, wie es in England heisst, zusammenschliessen und Rechnerkapazität teilen. Alle diese Lösungen haben ihre verschiednen Schwierigkeiten und verschiednen Vorzüge, ich führe sie hier beispielhalber an.

Die verschiednen lohnarbeitenden Schichten wohnen oft deutlich voneinander getrennt, das erschwert gegenseitige Hilfe innerhalb der Klasse; bestimmte Lösungen kommen unter Epidemiebedingungen nicht in Frage aus den gleichen Gründen, warum auch der Präsenzunterricht eingestellt ist. Bestimmte Lösungen sind pandemiefest, aber haben andere Nachteile. Ein einheitliches dauerhaftes Selbsthilfenetzwerk müsste sich einstellen, sehr flexibel zu arbeiten. Es müsste vor allem aber schon vorher am Platz sein, jedenfalls in Ansätzen, und die Ansätze müssten von vorneherein erweiterbar geplant sein.

Welche der unabweisbaren wirklichen Bedürfnisse sind heute die geeignetsten, um solch einem Netzwerk stabile Verbreitung und Etablierung zu erlauben? Das lässt sich vermutlich nicht allgemein angeben. Es müsste ermittelt werden, aber das Elend ist, dazu bedarf es wiederum der Kommunikation.

4

Auch die Ermittlung der Bedürfnisse funktioniert nicht so, dass man mit einem Klemmbrett in der Hand eines Mittwoch nachmittags bei den Nachbarn aufkreuzt. Sie werden sie einem nicht sagen, und zwar nicht nur, weil sie einem nicht trauen oder nie gesehen haben, sondern weil sie diese Bedürfnisse gar nicht kennen. Und zwar dieses aus dem einfachen Grund, weil niemand jemals danach gefragt hat. Die knapp zahlreichste Gruppe der Bevölkerung besteht aus Leuten, deren Arbeit für alle Gesellschaft völlig zentral ist und deren Bedürfnisse seit Jahrtausenden als irrelevant gelten, sogar als öffentliches Gespött dienen, nämlich den Frauen. Diese unterdrückten Bedürfnisse müssen erst aus ihrer mühsamen Verdrängung entwickelt werden.

Ohne das ist an keine Veränderung dieser Gesellschaft auch nur zu denken. Die Krankheit dieser Gesellschaft, ihre Unfähigkeit, über ihre wichtigsten Angelegenheiten einen klaren Begriff zu bekommen: das entspricht vollkommen der Art, wie mit diesen Bedürfnissen umgegangen wird. Hier liegt das erste Hindernis der Veränderung, aber auch ein mächtiger Hebel.

Wie aber lassen sich solche Bedürfnisse entwickeln? Man geht nicht einfach hin und bildet sich ein, man weiss, was gut für die Leute ist und was sie wollen müssen. Sondern sie müssen sich in freier Selbsttätigkeit entfalten und eine Sprache selbst finden. Es handelt sich auch nicht einfach darum, dass Einschränkungen bestehen, die einfach aufgehoben werden könnten; sondern es kann niemandem unmittelbar klar sein, was er oder sie wirklich will, weil niemals die Möglichkeit bestand, darüber in Ruhe nachzudenken. Und in Ruhe, das heisst auch gar nicht alleine, sondern in Gesellschaft und Austausch. Genau dieser fehlt.

Was da tun? Wir besitzen ja doch einen konkreten Begriff von freier, selbsttätiger und schöpferischer Rede. Man nennt es die Kunst. Und die gesellschaftliche Literatur, der „angewandte Roman“ (Friedrich Schlegel) ist das Theater. Die moderne Kunst, namentlich die sogenannte avantgardistische, erhebt schon lange den Anspruch, gesellschaftsverändernd zu wirken; unterdrückte Bedürfnisse zu entwickeln; die Mittel des Ausdrucks zu befreien; einen Angriff gegen die bestehende Ordnung zu führen.

Glauben wir das? Ich habe neulich Zweifel daran geäussert: gerade der durch nichts gedeckte Anspruch, eine Avantgarde zu sein, eine abgetrennte und selbstherrliche Gruppe, die niemandem Rechenschaft schuldet, ist es, der das Vorhaben unmöglich macht. Die Hinterlassenschaft von 200 Jahren Avantgarde-Kunst müsste, um zu etwas noch nütze zu sein, radikal von dieser Perspektive aus neu untersucht werden: welche Gestalt nimmt sie an, wenn sie nicht mehr die Ansprüche einer kleinen Gruppe von Intellektuellen, sondern die Ansprüche der unterdrückten Mehrheit entwickeln sollte? Wie sähe eine massenhaft demokratische und radikale Kunst aus?

Das interessante ist, wir haben bereits Erfahrungen. Theater z.B. funktioniert ganz hervorragend und besser ohne das Hohepriestertum des Autors oder des Regisseurs, ohne den Geniekultus des spezialisierten Schauspielers. Dieser ganze Kram kann ohne weiteres auf den Müll. Die moderne Kunst hat schon jetzt besseres, einschneidenderes, machtvolleres gefunden; sie kann es sich nur nicht eingestehen, ohne ihr spezialisiertes Dasein aufzugeben. Diejenigen, die ein Stück entwickeln, unterscheiden sich von denen, die es ansehen, nur auf eine Weise unvermeidlich: dass sie länger sich damit beschäftigen. Jeder Gegenstand von einigem Interesse, aus dem man ein Drama machen kann, bietet unendlich Gelegenheit zu Überlegung, Erörterung und Urteil; und zwar befreit von einem unmittelbar drängenden Zweck, aber trotzdem angeleitet von dem Gegenstand. Je relevanter aber der Gegenstand, desto mehr schlägt solche kollektive Kunst in gesellschaftliche Debatte selbst um. Gerade wegen ihrer Realitätsferne kann die Form Kunst gegen eine Gesellschaftsordnung gekehrt werden, die selbst realitätsfern ist.

Es gibt natürlich einige theoretische Schulen für derartiges Theater, ausgedacht von Fachpersonal; einige interessanter, andere weniger. Aber man muss sich mit diesen nicht länger aufhalten, als man will; jedesmal, wo spezialisiertes Wissen zur Voraussetzung für solche Tätigkeit wird, hört diese Tätigkeit auf, frei und allgemein zugänglich zu sein. Kritische Intellektuelle haben nicht die Aufgabe der dauernden Anleitung; Prozesse, die mehr als einen nachhaltigen Anstoss benötigen und ohne dauernde Anleitung nicht ablaufen, sind künstlich und taugen nicht zur Selbstbefreiung.

5

Jeder Versuch, dauerhaft die Isolation zwischen den Gesellschaftsgliedern aufzuheben, wird sich auf mehr als einer Ebene bewegen müssen und sich mehrerer Mittel bedienen müssen. Umgekehrt kann keines dieser Mittel ohne Einbusse seiner Wirkung alleine betrieben werden. Sie unterstützen sich in ihrer Wirkung, aber sie behindern sich gegenseitig, wenn sie nicht gleichmässig entfaltet werden. Die Entfaltung der verdrängten Bedürfnisse hat den Status eines Versprechens, mehr nicht; sie bedarf zu ihrer Wirksamkeit der Einlösung, der praktischen Unterstützung für die bereits bewussten Bedürfnisse. Die praktische Selbsthilfe aber bedarf dieses Versprechens, bedarf des Auswegs aus der Passivität; der Bereitschaft, nach dem bisher unmöglichen zu streben.

Solche sich gegenseitig bedingenden Tätigkeiten gehören also eigentlich schon räumlich zusammen. Die Frage nach dem Raum und seiner organisatorischen Struktur zieht die Frage nach sich, wie man die nötigen Ausgaben bestreitet; eine der letzten Rückzugsorte für Spezialistentätigkeit wird auf absehbare Zeit die Wissenschaft von den Fördermitteln bleiben. Es ist keine Schande, Förderungsmittel zu beziehen; besser wäre es, wenn es dessen nicht bedürfte. Fördermittel tendieren dazu, Abhängigkeit zu schaffen; aber man muss bedenken, dass auch jeder konkurrierende Akteur, die Vereine und die Kirchen, Förderungen beziehen. Die frühe französische Arbeiterbewegung hatte bei aller Staatsfeindschaft keine Scham, für ihre Bourses de Travail, Arbeiterbörsen, sich von den Gemeinden Häuser geben zu lassen. Sie hatte allerdings auch die Grösse, die Gemeinden dazu zu bringen.

Je unabweisbarer das gesellschaftliche Bedürfnis, in dessen Namen man auftritt, desto legitimer tritt man auch auf; desto eher ist man in der Lage, Räume und Möglichkeiten zu bekommen. Es ist vielleicht keine schlechte Idee, sich Gegenden mit gemischter Sozialstruktur zu suchen. Die bestehenden Sozial- und Kulturangebote in gemeindlicher, kirchlicher oder freier Trägerschaft sollte man gut kennen; sie konstituieren im Guten wie Bösen die unmittelbaren Bedingungen der Tätigkeit.

Man sollte sich an keine der einzelnen unterdrückten Gruppen exklusiv binden, wenn das die Gefahr mit sich bringt, dass man sich den Zugang zu anderen Gruppen dadurch versperrt. Genau die Dynamik der Zwietracht sollte man im Gegenteil unterlaufen. Und man sollte niemals der Versuchung unterliegen, sich einzubilden, man hätte fertige, belastbare und überlegene Ideen, die man anderen nur nahe genug legen muss. Auch die eigenen Beschränkungen, bei unserer Leserschaft die des studentischen Milieus, müssen abgelegt werden. Auch wir wissen in Wahrheit erschreckend wenig.

Heisst das, die längst bekannte Stadtteilarbeit neu zu erfinden? Wahrscheinlich gar nicht unbedingt. Aber es liegt auch dort viel an Fähigkeiten brach, und es bleibt zu vieles ungetan; und das Bewusstsein fehlt heute in weiten Kreisen, was praktische Kritik (denn um solche handelt es sich) bedeutet, und wieviel davon abhängt. Es geht nicht um ein Haus mit einer roten Fahne, wo man seine Parties feiert. Es geht nicht um einen Raum, wo man seine Vorträge hält. Keine Sekte, keine Szene hat hier etwas zu suchen, keine Organisation, die nach Bestätigung ihrer eigenen Grundanschauungen suchen muss. Sondern es geht hier darum, die alte Gesellschaft aufzulösen, indem man eine andere beginnt. Die Eroberung der Mittel des Ausdrucks, die Revolution des alltäglichen Lebens; alle diese schönen Wörter, mit denen unsere Sekte gewohnt war zu hantieren, haben eigentlich keine Bedeutung, wenn nicht so.

Kollektivarbeit

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Gute Frage XV

Bärbock, ah, aus South Park, oder?

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Sackgasse der Subversion

Vorbemerkungen zu einer Selbstkritik des „Surrealismus im Dienste der Revolution“

Es ist gelegentlich die Rede von den Situationisten und ihrem Beitrag dazu, das revolutionäre Erbe der Avantgardekunst zu retten. Aber es wird fast nie darüber nachgedacht, worin dieses Erbe denn bestehen soll, noch nicht mal, ob die Avantgardekunst denn ausreichend tot ist, um sie beerben zu wollen. Am Ende könnte es sein, dass die Ideen über die Avantgardekunst genauso unüberlegt sind wie die über die Revolution. Man soll sie ja einander aber nicht einfach äusserlich gegenüber stellen. In was für einem Verhältnis stehen sie zueinander?
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GIK-Lesekreis

Folgende Mitteilung rücken wir hier ein:

Hallo,

wir finden das Buch der Gruppe Internationaler Kommunisten (GIK),
"Grundprinzipien kommunistischer Produktion und Verteilung"
(http://www.mxks.de/files/kommunism/gik.html), vielversprechend 
genug, um es gemeinsam zu lesen und zu diskutieren. Wir lesen 
es schon seit einigen Wochen immer Montag Abend und sind bereits 
bei Kapitel 12, Interessierte können sich aber gerne noch 
anschließen. Das Thema ist umfangreich genug, um uns noch 
ein Weilchen zu beschäftigten. Der Lesekreis findet online 
bzw. in Berlin statt. Schreibt uns bei Interesse 
an betriebe2020@gmx.de.
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Okkulter Klassenkrieg in Frankreich

— spf

Ich schenke euch hier mal wahlweise einen coolen Titel für einen roman noir, für eine „Revision“ eines Brecht-Stücks oder eine Black-Metal-Platte der Marke Mayhem oder so. Oder vielleicht alles gleichzeitig. Denn die geplante und von der Polizei vereitelte Ermordung eines CGT-Gewerkschafter und Sympathisanten der „Gelben Westen“ Hassan T. durch die Betriebsführung mit Hilfe der Freimaurer ist genau das: eine lausige, erbärmliche Version von „Johnny mnemonic“. Man muss fast schon dafür dankbar sein, dass es so lausig war. Andererseits: warum wundert mich dieser Blödsinn nicht ein mal richtig? Ich meine, vor vielen Jahren so was Ähnliches bei Julius Evola gelesen zu haben, was ich auch gerne wieder vergessen habe.

rtl.fr schreibt:

In drei Sätzen bestätigt der Geschäftsführer dann nach 48 Stunden Dementi die Vorwürfe von Frédéric V., dem mutmaßlichen Drahtzieher der im Januar in einer Freimaurerloge abgebauten Kriminalzelle, der unter anderem das desaströse Projekt der Justiz aufgedeckt hatte. „Ich war schwach und leicht beeinflussbar“, fügt Muriel M. schnell hinzu, bevor sie schlussfolgert: „Ich habe gemerkt, dass ich viel Blödsinn gemacht habe.“

Diese Geständnisse lassen uns nachvollziehen, warum die 54-jährige Mutter am 7. Mai wegen krimineller Verschwörung zum Mord angeklagt und in Untersuchungshaft genommen wurde, wie RTL mitteilte. Sie bestätigen auch die Gefährlichkeit der inzwischen neutralisierten Zelle, in der sich Freimaurer, ehemalige Polizisten und Geheimdienstler aller Art vermischten. (…)

Im Dezember 2019 wurde Hassan T. schließlich in den CSE gewählt. Muriel M. erzählt dann von ihrer „Angst“, dass er andere Mitarbeiter um sich vereinen werde und „Gewerkschaften sich gründen (…) nachdem wir den Familiengeist verloren haben“, so ihre Aussage gegenüber der Polizei. Es war ihre „Phobie“, bestätigt ihr Bruder, Co-Manager des Unternehmens. Keine Gewerkschaftssektion soll jemals das Licht der Welt erblicken, dennoch bietet die Personalabteilung dem Mitarbeiter eine Vertragspause an, die er ablehnt. (…)

Der Vertrag über den Kopf des Gewerkschafters wird Teil eines „Pakets“ Schulung + Audit + Elimination sein. Alles für rund 80.000 Euro, abgerechnet in „vier Rechnungen“, adressiert an die verschiedenen Firmen von Frédéric V.

Das nennt man auch Coaching, hab ich gehört. Oder Rationalisierungsmaßnahmen. Oder Unionbusting. Sorgt für Schutz.

 

 

 

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Extremely concerned about your class attitude

– spf

Der belarussische Staat hat neulich ein Passagierflügzeug auf dem Weg von einem EU-Land in ein anderes EU-Land unter Androhung von Waffengewalt zur Landung gezwungen. Von Bomben, eskalierenden Konflikten am Bord und anderen Bullshit-Vorwänden abgesehen, galt die Aktion dem Blogger Roman Protassewitsch (engl. Protasevich) und seiner Freundin. Es ist gut möglich, dass dem Mitbegründer des unabhängigen Nachrichtenportals NEXTA außer Folter und Gefängnis auch noch Hinrichtung droht – für das Provozieren von Massenunruhen. Das ist ein ganz großer Tennis, wie wir Profsportler sagen, selbst für Belarus. Für die Leute, die wie üblich etwas desorientiert sind, gibt es mittlerweile ein Twitter-Account Namens „Is EU concerned?“, auf dem die EU-BürgerInnen ihre Gefühle bequem mit offiziellen Richtlinien abgleichen können.

Und schon läuft eine Kampagne an, um die Solidarität mit Protassewitsch zu torpedieren. „International support for Belarussian Protasevich is currently undermined by pushing two major narritives. The first one is whataboutism about Evo Morales grounding incident in 2013, and the second one is ‚Protasevich is a Neo-Nazi‘“, wie neulich eine ukrainische Kollegin schrieb. „Minsk carried out a brilliant operation to detain Roman Protasevich, a man who manipulated human souls and urged juveniles to take to the streets so that they would be killed in the riots“, so steht das auf der englischsprachigen Seite von „Pravda“ (rus. für „Wahrheit“, sic!). Zahlreiche bots und agents retranslieren das auf ihre jeweilige Manier und in ihren jeweiligen Sprachen in ganz Europa.

Sogar Andrij „der weiße Führer“ Bilezkyj, seines Zeichens der Kommandeur des berüchtigten ukrainischen Frewilligenregiments „Azow“ hat Protassewitschs Tätigkeit als Journalist bestätigt. Der „linke Intellektuelle“ im Dresdner Exil Wolodymir Ischtschenko, nebenberuflich der ukrainische Kofferträger Putins, meint allerdings, dass Bilezkyj damit auch noch etwas anderes bestätigt hätte:

Ich sage dazu nur noch, was ich immer zu Leuten wie Ischtschenko sage: Achtet auf RednerInnen-und ReferentInnenlisten der Rosa-Luxemburg-Stiftung, wenn die Veranstaltungen wieder live und in Farbe anfangen und sich wieder Gelegenheit bietet, eine „linke“ Konferenz zu deutsch-russischen Beziehungen über ukrainische Köpfe hinweg abzuhalten. Ansonsten überlasse ich den anderen, sich an dieser Kackschlacht zu beteiligen, falls jemand die Frage, ob selbsternannte Präsidenten JournalistInnen hinrichten dürften, auch wenn sie sich vor Jahren in Svastone-Klamotten ablichten ließen, für eine Diskussion mit offenem Ergebnis hält.

Es erinnert mich, ehrlich gesagt, an den Prozess gegen Senzow und Koltschenko, die 2014 wegen Terrorismus verhaftet und nach Russland verschleppt wurden. Für den Filmemacher Oleh (oder Oleg) Senzow engagierten sich diverse angesehene Leute und beispielsweise Europäische Filmakademie. Für seinen Mitgefangenen, den Krimer Anarchisten Olexandr Koltschenko, der ganz anständig an einer versuchten Brandstiftung an russländischen militärischen Einrichtungen auf der Krim sich beteiligte, interessierten sich nicht einmal deutsche bzw. europäische AnarchistInnen, die sich ansonsten routinemäßig mit jeder brennenden Mülltonne irgendwo auf der Welt solidarisieren. Ja, man glaubt es nicht, in welche Milieus die russländische Propaganda hineinreicht. Von etwa 70 verschleppten Krimtataren im Hizb-ut-Tahrir-Prozess ganz zu schweigen, die angesehenen Leute werden sich damit nicht profilieren können.

Nun lasst uns zu einem anderen Thema kommen, das wir vor einem halben Jahr angekündigt bzw. angeschnitten haben. Es dürfte vielen interessierten BeobachterInnen in den jüngsten Wahlprotesten in Belarus etwas aufgefallen sein, was bis jetzt in den sogenannten „farbigen Revolutionen“ bis jetzt so gut wie nie da war, vor allem so massiv: die Präsenz der Arbeiterklasse mit den eigenen Forderungen und Aktionen. Gehen wir diesem Umstand auf die Spur, es ist genügend Zeit vergangen, um wenigstens rückblickend darüber zu urteilen.

Bereits in den ersten zwei Wochen der Proteste im August 2020 beteiligten sich etwa 80 Betriebe in einer oder anderen Form an den Protesten: Warnstreiks, Petitionen, Demonstrationen, Organisation von eigenen Strukturen und Koordination mit anderen Betrieben abseits von offiziellen Gewerkschaften.

Das Verhältnis betrachten wir ein bisschen näher. Es gibt kaum unabhängige Gewerkschaften in Belarus, heißt es immer, und das scheint zu stimmen. Große Gewerkschaftsverbände seien eh die elektorale Basis des Regimes, vor allem die Belegschaften der Staatsbetriebe gelten der Opposition als unnötiger Ballast aus der Sowjetzeit, groß, staatstreu, fast vormodern – als würde der Staat nur mäßig profitable Großbetriebe nur für den einen Zweck aushalten, damit wenigstens jemand bei den bekanntlich gefälschten Wahlen ganz ehrlich seine oder ihre Stimme für Väterchen Luka abgibt. Das ist natürlich nicht so. Die Arbeiterschaft stand der neuen Opposition, die denselben neoliberalen Wirtschaftskurs wie Lukaschenko nur etwas schneller fahren will, logischerweise skeptisch gegenüber. Und nun macht zumindest ein Teil, ein sichtbarer Teil von ihr bei der Opposition mit. Da waren sich fast alle sicher: Wenn die stillen „Stützen des Systems“ in Bewegung geraten sind, sind seine Tage gezählt. Der Fall ist nun nicht eingetreten und wir müssen wohl alle einsehen, Lukaschenkos Regime wird nicht mehr so schnell fallen. Die Folgen der Einmischung der Arbeiterschaft sind aber klar zu spüren. Weiterlesen

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Heft 17 in Druck

Zumindest glauben wir, dass es Heft 17 ist. Hat jemand mitgezählt?

Zu beziehen über die üblichen toten Briefkästen.

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Die amerikanische Verfassungskrise IX

Es ist jetzt eine Weile her, dass uns die amerikanische Verfassungskrise beschäftigt hat, und erstaunlich schnell stellt sich ein Gefühl von Normalität ein. Es ist ja noch einmal alles gutgegangen, was. Es ist jetzt genügend Wasser die Pegnitz heruntergeflossen, dass man ein paar Dinge zusammenfassen und festhalten kann.

1. Man hat bis vor kurzem ohne weiteres so getan, als wäre die liberale parlamentarische Regierungsform gleichzeitig eine Natureigenschaft der kapitalistischen Produktionsweise, und eine Natureigenschaft einer bestimmten Weltregion, die man den „Westen“ nennt. Man beginnt zu begreifen, dass man auf diesen Gedanken überhaupt nur innerhalb einer bestimmten Epoche kommen konnte, und zwar ist diese Epoche nicht sehr lange gewesen. Sie beginnt vielleicht erst vor 100 Jahren mit dem Untergang der alten europäischen Ordnung, dem Eingreifen der USA in den ersten Weltkrieg auf Seiten Frankreichs, und den Revolutionen nach 1917. Und all die Zeit konnte man so tun, als bliebe das globale Zentrum dieser Regierungsform und Gesellschaftsordnung, die USA, von der Geschichte der Revolutionen und Konterrevolutionen unberührt. Das ist wohl jetzt vorbei.

Also wird man vielleicht, nach den Ereignissen der letzten 10 Jahre, nicht mehr so tun, als wären diese Vorstellungen von „Freiheit und Demokratie“ sozusagen der Normalzustand der Moderne, der ohne weiteres gegeben ist. Man wird aber auch aufhören müssen, so zu tun, als wären sieirgendwann von Woodrow Wilson erfunden worden, rein um irgendwelche imperialistischen Ziele zu verschleiern.

2. Grössere Teile unsrer Linken unterschätzen die Reichweite und Gehalt dieses „amerikanischen“ Begriffs von Freiheit und Demokratie. Man ist entweder sehr stolz darauf, dass mans „bürgerliche“ Freiheit und „bürgerliche“ Demokratie nennt, und vergisst nie, allerhand über den Kapitalismus dazuzusagen. Gleichzeitig gibt man sich aber verständnislos, wenn grössere Revolutionen der Gegenwart anscheinend bei diesen „bloss bürgerlichen“ Forderungen „stehenbleiben“. Wenn solche Revolutionen scheitern oder steckenbleiben, dann hört man die üblichen Weisheiten: wie wichtig es sei, dass sich derlei bürgerlich-demokratische „Illusionen“ auflösen; und dass „die Massen“ stattdessen besser dran täten, sich an die patentierten Methoden der jeweils eignen Sekte zu halten.

Das Ausmass, in dem solche oder ähnliche Weisheiten vorherrschen, ist genau das Ausmass, in dem diese Teile unsrer Linken niemandem etwas sagen werden, und von niemandem etwas lernen werden.

Wie kommts denn, dass „die Massen“ den „bloss bürgerlichen“ Begriffen von Freiheit und Demokratie viel hartnäckiger anzuhängen scheinen, als z.B. dem Leuchtenden Pfad oder auch dem Operaismus? Ich lese ja zur Zeit, ich gebs besser gleich selbst zu, aus reiner Langeweile den Castoriadis, und es wird wohl nicht ausbleiben, dass ich da noch etwas dazu schreiben muss. Castoriadis scheint mir zu denen zu gehören, die am Anfang der ganzen neueren (nach 68er und postmodernen) Ultra-Linken stehen. Und diese ganze Strömung scheint mir auf eine ganz ähnliche Frage zurückzugehen, mit der niemand recht zu Ende gekommen ist.

Die Arbeiter haben im Mai und Juni 1968 umfassend und unangemeldet gestreikt, aber sie haben danach im Grunde weiter Lohnarbeit, Gewerkschafterei und Parlamentswahl getrieben, obwohl wir doch wissen, dass sie stattdessen auch Fabrikbesetzung, Selbstverwaltung und klassenlose Gesellschaft hätten treiben können. Man findet dann allerhand Fragen auf diese Antwort. Aber man gibt sich keine Mühe, sie zu begreifen. Leute wie z.B. ägyptischen Arbeiter von 2011 ff. haben dann natürlich keinerlei Mitleid oder gar Solidarität mehr zu erwarten. Wenn man sich dann fragte, wer denn dann überhaupt, dann hat man das Problem schon völlig begriffen.

3. Wir werden uns also nicht viel klüger vorkommen, wenn man uns versichert, die Auseinandersetzung zwischen dem Biden-Lager und dem Trump-Lager habe uns im Prinzip nichts anzugehen, weil es eine Auseinandersetzung „innerhalb der herrschenden Klasse“ sei. Wir ahnen stattdessen, dass es womöglich innerhalb der „herrschenden Klasse“ mehrere Sorten gibt; die einen, deren Vorherrschaft der parlamentarischen Demokratie bedarf; und die andere, die nicht zur Vorherrschaft gelangen kann, ohne die parlamentarische Demokratie niederzureissen.

Wir haben ausserdem gefunden, dass diesen zwei Sorten womöglich verschiedne „Kapitalfraktionen“, wie man es altmodisch nennt, entsprechen, und dass die Wählerkoalitionen, die sie unterstützen, sich aus den Lohnarbeitern dieser Kapitalfraktionen zusammensetzen. Es können also beide Seiten von sich behaupten, von „den Arbeitern“ gewählt worden zu sein, und das tun sie auch ausgiebig. Die Klassenfrage hat eine nachgerade erstaunliche Wiederauferstehung erfahren.

Diese „Kapitalfraktionen“ stehen sich aber nicht einfach äusserlich und unveränderlich gegenüber, sondern sie stehen ja in ökonomischen Gefüge in dauerndem Austausch, d.h. im Kampf um Profitmargen; d.h. sie verdauen sich jeden Moment gegenseitig. Und es kann so aussehen, als ob für die USA diejenige Fraktion, an die sich die Demokratische Partei anlehnt, die entscheidende Oberhand gewonnen hat.

4. Man kann z.B. das Jacobin Mag lesen, das von Leuten gemacht wird, die sich für sog. radikale Linke halten müssen. Da liest man dann gleichzeitig folgende Dinge: erstens, Biden ist natürlich so eine Kapitalisten-Socke : „It didn’t take long for Joe Biden to betray the Labor Movement“, die alte Leier; wobei man sich bitte endlich einmal angewöhnen muss, sauber zu arbeiten, denn entweder ist jemand der Klassenfeind, oder jemand ist ein Teil der verräterischen versöhnlerischen Führung, aber nicht beides zusammen. Oder aber man liest über den PRO Act, es sei der ehrgeizigste Entwurf eines gewerkschaftsfreundlichen Gesetzes jemals, ohne eingebaute Kompromisse, eine „wish list„; aber aus dem Weissen Haus hört man, dass der Präsident dieses Gesetz beschlossen wünscht.

Und das gilt nicht nur für die Arbeitsgesetzgebung. Ganze Strömungen der radikalen Linken sind anscheinend in der Gefahr, ihre populärsten Forderungen zu verlieren. Die gekauften Schergen des Kapitals nehmen sie ihnen einfach weg und machen Gesetze draus. Es lässt sich noch nicht einmal sagen, dass sie mit allerhand üblen Tricks den sozialistischen Kandidaten Bernie Sanders von der Macht abhalten. Sie haben ihn zum Vorsitzenden des Haushaltsausschusses gemacht.

Präsident Biden ist nicht besonders radikal. Wer in der Lage ist, zwei Billionen Dollar in einen Nachtragshaushalt zu schieben, muss das auch nicht sein. Mit dieser Art Geld muss man nicht einzelne Personen des linken Parteiflügels kaufen. Sondern man kauft ihr Programm. Wer in der Lage ist, 100jährige Anleihen für praktisch 0% Zinsen am Markt zu plazieren, ist auch in der Lage, den gesamten Green New Deal in einem einzigen Gesetz zu erledigen.

Heisst das, dass alle diese Forderungen viel zu zahm, „reformistisch“ gewesen seien? Ich muss gestehen, dass ich nicht weiss, wer das sein soll, der reformistische von nicht-reformistischen Forderungen unterscheiden kann, und auch nicht, was eine nicht-reformistische Forderung sein soll. Mir scheint, dass z.B. revolutionäre Veränderungen nicht gefordert, sondern gemacht werden.

5. Ist das also die Art, wie die Auseinandersetzungen der letzten 10 oder 12 Jahre ausgehen: mit einer neuen sozialdemokratischen Ära? In keiner Weise. Es ist noch gar nichts vorbei, es hat noch nicht einmal begonnen. Genau in demselben Masse, in dem es Biden gelingt, die amerikanische Gesellschaft zu konsolidieren, verlagern sich dieselben Gegensätze auf die aussenpolitische Ebene. Und das selbe wird für eine etwa von den Grünen geführte deutsche Bundesregierung gelten.

Nehmen wir die Autoindustrie. Wir haben darüber schon viel geschrieben. Sie steckt in einer grösseren Sackgasse, ihr Kapitalstock ist veraltet, die internationale Konkurrenz frisst die Profite. Eine Politik nach Art des Green New Deal bedeutet nicht mehr und nicht weniger, als dass ungeheure Summen in die Umstellung auf Elektromobilität gesteckt werden, und zwar sowohl in der Fertigung, als auch im Strom- und Strassennetz; sowie eine gewisse staatliche Nachfrage nach Elektrofahrzeugen, die wie eine Abnahmegarantie wirkt.

Das ganze wirkt gegenüber dem Weltmarkt, insbesondere China, wie eine Aufholjagd in einem Handelskrieg; gegenüber den mächtigen Branchen der älteren Autokonjunkturen, wie der Erdölbranche, wie ein gewaltiger Machtkampf. Und wenn dieser Machtkampf im Inneren entschieden ist, sind die älteren abgestiegnen Branchen ihrerseits darauf verwiesen, sich zu fügen und einen Platz in der neuen Ordnung zu finden. Beweisstück B:

Können sie das? Ja, wenn die neue Ordnung der Dinge ihnen eine genügende Profitrate lässt. Aber genau das ist das Problem: die Sanierung der Profitrate ist nur zu haben über den Handelskrieg.

6. Die Gegensätze zwischen „dem Westen“ und China werden bis zu einem bisher unbekannten Punkt ansteigen. Und, was nicht ganz dasselbe ist, auch die zwischen „dem Westen“ und Russland bzw. denjenigen Regimen, für die Russland der Hauptanker ihres Bestehens ist.

Die Revolutionen von 2009 ff. sind auch keinesfalls erledigt, sondern sind mit gewaltiger Anstrengung stillgestellt. Sie können und werden weitergehen, sobald der Druck von ihnen genommen wird. Zwei Dinge halte ich aber auf absehbare Zeit für illusorisch.

Erstens: keine dieser Revolutionen wird schnell Frieden und Prosperität bringen. Sondern sie werden ohne Zweifel zu fürchterlichen Bürgerkriegen führen. Und jede innenpolitische Auseinandersetzung tendiert dazu, sich an den aussenpolitischen Gegensätzen festzumachen; so dass die kommenden Revolutionen auch in dieser Periode von Stellvertreterkriegen überlagert sein werden. Ohne die Aussicht auf Frieden und Prosperität werden aber grössere Teile der Bevölkerungen Revolutionen nicht unternehmen, ausser die Lage ist völlig verzweifelt. Es steht also zu erwarten, dass in vielen Gesellschaften die Lage in der Tat verzweifelt werden wird, während kleinere radikalierte Teile bereits in Bewegung geraten; ehe dann das Unvermeidliche dennoch losgeht und kein gutes Ende nimmt.

Zweitens: eine klare Perspektive für eine dauerhafte und gründliche Sanierung der kapitalistischen Produktionsweise gibt es nicht. Und ohne das gibt es überhaupt keine Antwort auf die Frage, ob „der Westen“ in seiner heutigen Form, oder die liberal parlamentarische Regierungsform, eine Zukunft haben. Aber eine solche Perspektive hat es niemals gegeben, sondern das ganze Geschäft hangelt sich mit notdürftigen Lösungen von Schwierigkeit zu Schwierigkeit. Einstweilen kann das Geschäft vielleicht aufrechterhalten werden, indem man China Anteile wegnimmt. Mittelfristig müsste man neue Bedürfnisse finden, die sich durch Waren befriedigen lassen; und die eine selbsttragende Konjunktur möglich machen würde, wie es z.B. Auto und Plastik in den 1950ern getan haben. Aber man kann nicht so tun, als würde sich das schon finden. Was passiert, wenn es sich nicht findet? Es geht so weiter wie bisher, nur härter.

Das heisst: weder die ungestörte Entwicklung der Dinge noch die Revolution lässt einen guten Ausgang erwarten. Aber beide werden dennoch unweigerlich eintreten.

7. Eine Revolution wie die jetzt versuchte in Weissrussland zB ist, sagen unsre Schlaumeier, ist gar keine grosse Sache, im Grunde gehts darum, ein verkommenes disfunktionales Regime zu ersetzen durch ein modernes, nagelneues Regime, aber eine grundlegend andere Gesellschaft wird daraus nicht. Und natürlich haben unsre Schlaumeier recht, denn das ist ihr Geschäft, d.h. das einzige, was sie können.

In denjenigen Teilen der Welt, in denen fürs parlamentarische Regieren die wirtschaftlichen Voraussetzungen nicht bestehen, sind solche Revolutionen die einzige Art und Weise, wie ein unfähig gewordnes Regime verschwindet. Und als solches ist da auch nichts dabei, so könnte man unsern Schlaumeiern zugeben, und das ist der normale Gang der Dinge, von dem niemand viel erwartet. Ein neues Regime wird installiert, es erkennt die geerbte Staatsschuld an, die bestehenden Verträge und das ausländische Kapital und tastet auch ansonsten die Ordnung der Dinge nicht weiter an; 30 Jahre später ist es selbst versteinert, und das nächste ist an der Reih.

Was aber passiert, wenn seit zehn Jahren jedes noch so kaputte Regime, eh es stürzt, von russischen Waffen aufrechterhalten wird? Wenn die russische Regierung die Schutzmacht aller konservativen Kräfte geworden ist? Eines Tages wird sie zusammenbrechen, und mit ihr alle ihre Klienten, auf einmal. Sind das dann auch noch nur lokale episodische Ereignisse?

8. Es gibt also keinerlei Ruhepunkt, und keinerlei stabile Ordnung einer Zwischenzeit. Es kann sich jederzeit alles wieder umkehren. Der friedliche Fortgang der Dinge im Westen hat die Verschärfung der internationalen Konflikte zu seiner Voraussetzung. Ob er will oder nicht, sein Schicksal hängt an der Wiederaufnahme der Revolutionen; aber diese werden auch auf ihn zurückschlagen.

Keine bestehende Tendenz repräsentiert heute anscheinend etwas anderes als ein Moment innerhalb dieses Vorgangs. Von keiner kann erwartet werden, über ihn hinauszuführen. Aber keine bestehende Tendenz ist mehr neutral in irgendeinem Sinne, die Vorgänge der letzten zehn Jahre haben sie alle sortiert und ihnen ihren jetzigen Platz zugewiesen, wenn dieser Platz auch ein sehr anderer war, als man es am Anfang erwarten konnte. Es bestehen heute ganz andere Allianzen. Aber was werden sie taugen? Die Karten werden schon morgen neu gemischt.

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(Anti)-Paternalismus

Der vorletzte Artikel in der jungle world, den ich gelesen habe, war von Felix Klopotek. Ich hab danach noch einen von Magnus Klaue gelesen, dann hab ich beschlossen, dass ichs jetzt bleiben lass. Felix Klopotek argumentiert da irgendwie über die Massnahmen der Corona-Vorbeugung und bemüht da allerhand Dinge, um irgendeine Folgerung zu stützen, und ich kanns nicht ändern, ich find, was er sagt, einfach verlogen.

Was ist, wenn die Menschen dort (sc. „in proletarischen Vierteln“) eine Infektion mit dem Virus eher in Kauf nehmen als in den Wohngegenden der zum Teil panisch verängstigen Mittelschicht? Wenn ihnen das großfamiliäre Leben wichtiger ist als der Schutz vor der Pandemie? Wenn sie Kontaktbeschränkungen und Isolationsgebote bewusst nicht so ernst nehmen und sich sagen: »Wir haben eh ein hartes Leben, wenn wir es jetzt noch in Quarantäne verbringen, werden wir vielleicht gesund bleiben, aber dabei noch ärmer werden.«

So heissts da zunächst. Ja, in der Tat, was ist dann? Ist das dann gut oder schlecht? Felix Klopotek sagt es uns nicht. Das heisst, er sagt es uns nicht gleich. Er will uns zu einem Schluss führen, ohne ihn auszusprechen. Er nimmt es erst als Einleitung, um danach festzustellen,

dass Arme und Proletarisierte in linken Diskussionen derzeit fast nur als Opfer der Pandemie auftauchen und kaum einer auf die Idee kommt, ihnen Eigensinn zuzugestehen – als wäre der Antipaternalismus, den einst der Arzt und Historiker Karl Heinz Roth, der Rechtsanwalt und Autor Detlef Hartmann, die Wildcat-­Redaktion oder auch die Gruppe Kanak Attack mühselig etabliert haben, in der radikalen Linken schon wieder passé.

Also gut, Antipaternalismus ist erfunden worden von einigen Angehörigen freier Berufe, ein Arzt, ein Rechtsanwalt, allerhand Leute, die es zu etwas gebracht haben, aber warum sagt uns Felix Klopotek so ausdrücklich? Ich jedenfalls wollte es gar nicht so genau wissen. Und was schliesst er daraus? Gerade hiess es, dass arme Leute sich so einen Lockdown schlecht leisten können. Jetzt hiess es, dass wohlhabende Leute ihnen keine Vorschriften machen sollten. Das ist alles gut und schön. Und jetzt:

Anzeichen dafür, dass vielen Proleten ein Leben, das von Angst vor Tod und Krankheit bestimmt ist, nicht so lebenswert erscheint wie ein Leben, das riskanter, aber eben auch angstfreier ist, gab es im vergangenen Jahr immer wieder: Umfragen in Frankreich, wonach der Anteil der Lockdown- und Isolationsbefürworter unter Menschen mit geringem Einkommen signifikant niedriger ist; Jugend- und Vorstadtrandale in Frankreich, Brüssel, Stuttgart und jüngst in Spanien.

Jetzt hat man den Sprung gemacht, dass arme Leute eben einfach risikofreudiger sind als die „panisch verängstigte Mittelschicht“. Woher weiss man sowas? Aus „Anzeichen“. Das kann ich dem Felix Klopotek jetzt glauben oder auch nicht. Aber wozu sollte ich? Ich bin schliesslich derzeit weder Antipaternalist noch Freiberufler, dass ich aus allerhand „Anzeichen“ herauslesen könnte, was man als Handarbeiter oder, wie die Antipaternalisten sagen, „Prolet“ so denkt.

Ganz ernsthaft, ich glaube, diesen Leuten ist nicht mehr zu helfen. Dass man sich nicht blöd vorkommt, dass man Leute ernsthaft „Proleten“ nennt. Sich ihr Leben und ihre Motive ausmalt. Sich öffentlich daran erregt, für wie risikofreudig und unverdorben man sie hält. Während man offensichtlich keinerlei Ahnung hat. Und dann stolz seinen Antipaternalismus präsentiert. Guter Gott. Und der Zeitung, in der man das schreibt, fällts auch nicht auf.

Ich wüsste ehrlich gesagt nicht, was ich verliere, wenn ich mich, was diese Leute betrifft, an das schöne Lied von Anatol Blasch halte:

Wir wünschen Ihnen alles Gute
für Ihre berufliche Zukunft usw.

 

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Neuer Blog, neues Heft

So hallo,

das Alte Thier hat einen neuen Blog. Das liegt tatsächlich hauptsächlich an  wordpress.com, wo man grad das letzte benutzbare editing-Tool abgeschafft hat. Andererseits ists aber natürlich eine Art Übersprungshandlung, so wie man seine Wohnung aufräumt, wenn man merkt, dass man seit zu langer Zeit nichts mehr gescheites getan hat.

Also gut, tun wir mal wieder was gescheites! Die Bäume sind grün geworden, die Vögel drehen völlig frei und kreischen gestört; schnauzbärtige Diktatoren lassen wildfremde Passagiermaschinen abfangen, aber die Aussengastronomie öffnet wieder. Langsam reckt das Alte Thier seine knirschenden Knochen und hinkt nach der Öffnung seiner Höhle zu. Danach wird es hinunter zum Bach gehen, um seinen wüsten Durst zu stillen.

Und auch wir werden noch einmal mit dem Thier hinausgehen, auf unbekannte Ebenen;  eine andre Wahl haben wir ja doch nicht. Haltet euch gut an seinem schmutzigen Fell fest! Es wird wie immer eine wacklige Fahrt.

Vorwärts mit dem Grossen Thier!

ruft verzweifelt
Das Grosse Thier.

 

 

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