Von Jörg Finkenberger
Aus Heft 19
Die Untersuchung des „Kapital“ setzt eine Unterscheidung voraus. Es gibt das „Kapital“ zweimal, einerseits das irdische Buch, das anscheinend ein Buch wie jedes andere ist, aber andererseits das himmlische, welches letztere bei den Ideen wohnt und unveränderlich und unfehlbar ist. Wir haben es hier mit dem ersteren zu tun, das letztere haben wir denen zu überlassen, die es „rekonstruieren“ wollen.
Das wirkliche „Kapital“ ist technisch gesehen unfertig und von Engels aus dem Nachlass zusammengestellt. Ob Engels treulos oder aus Unverstand für irgendwelche Mängel verantwortlich ist, ist Gegenstand der Wissenschaft vom himmlischen „Kapital“, hat uns also im strengen Sinne nichts anzugehen. Wir wollen aber anfügen, dass wir aus der heiligen Geschichte namentlich der schiitischen Sekten Beispiele kennen, die diese auf Erden sonst nicht begründbare Vermutung stützen können. Der Befund der veröffentlichten Manuskripte in der MEGA-Edition stützt sie jedenfalls nicht.
a. Das „Kapital“ soll nach manchen noch allerhand enthalten haben, insbesondere Bücher über den auswärtigen Handel, Staat und Weltmarkt. Das verdankt sich einer Notiz aus einem Brief von Marx aus einer Zeit, ehe das „Kapital“ konzipiert war. Diese Nachricht ist sehr nützlich, um das Fehlen jeder Ahnung von Weltmarkt oder Staat in der marxistischen Schule zu begründen, aber es ist in dem wirklichen „Kapital“ nicht zu ersehen, wie diese Bücher Wirklichkeit hätten werden können, ausser als selbständige Schriften ausserhalb des Werkzusammenhangs. Denn die Materie ist im „Kapital“ schon verhandelt, aber nie im Zusammenhang, sondern verteilt an den verschiednen Orten. Sie im Zusammenhang zu erörtern, hiesse das ganze Ding nocheinmal, aber von einem anderen Ausgangspunkt aus schreiben. Das ist normalerweise ein Kennzeichen eines selbständigen Werks. Diese Phantombücher gehören also wohl dem Reich des himmlischen „Kapital“ an.
Das wirkliche „Kapital“ endet in dem Kapitel über die Klassen. Dieses Kapitel ist nach derselben Art wie die vorherigen als Skizze angesetzt. In den erhaltenen Manuskripten über den Plan und Inhalt findet sich dieses Kapitel noch erwähnt, ein weiteres nicht mehr. Es ist auch mit diesem Kapitel gezeigt, wie der Aufbau der bürgerlichen Gesellschaft, von dem Anfang aus gesehen, stattfindet. Es ist eine so gute oder so schlechte Art, das Buch aufzuhören, wie jede andere auch. Das wirkliche „Kapital“ ist also nur technisch unfertig. Es hätte nicht sinnvoll weitergeführt werden können, ohne den Untersuchungsgegenstand zu wechseln.
b. Das „Kapital“ endet auf eine Weise, dass seine Voraussetzungen gerade nicht bewiesen, sondern widerlegt werden. Der Hegel-Marxismus muss sich das „Kapital“ so vorstellen wie eine Art materialistischen Hegel, d.h. Hegel, von den allergröbsten Einwänden befreit. Der Anfang, d.h. der Ansatz, ist zunächst einmal durch nichts begründbar. Er schwebt in der Luft, bis das Ende ihm zu Hilfe kommt und ihm beweist, dass er von jeher guten Boden unter seinen Füssen hatte. Damit ist es erreicht, dass der menschliche Geist sich wie Münchhausen selbst an seinem Zopfe aus dem Schlamm gezogen hat. Diese Idee ist unmaterialistisch, d.h. sie gehört genau zu dem, was zu Recht gegen Hegel eingewandt worden ist. Sie gehört also allenfalls dem „Kapital“ des Ideenhimmel an, aber nicht demjenigen, das hienieden auf Erden bekannt ist.
Das „Kapital“ endet bei einer Gesellschaft, in der die Idee, auf die der Anfang gegründet ist, eine Hypothese wie jede andere ist; in der sich zeigt, dass der Mehrwert, statt aus der Arbeit, genausogut auch einfach aus dem Profitaufschlag auf den Kostpreis zustandekommen kann, ja mehr noch wirklich zustandekommt. Spätestens bei der Herstellung der Durchschnittsprofitrate wird das, womit Marx anfängt, völlig unsichtbar, und spätestens seit der Debatte um das sogenannte „Transformationsproblem“ muss das den Marxisten klar sein.
Diese Debatte ist bekanntlich ausgegangen wie das Hornberger Schiessen. Der Ökonom Samuelson hat völlig Recht: die marxistische Ökonomie kann diese „Transformation“ nur so zuwege bringen, dass sie zuerst die Werte hinschreibt, sie dann mit dem Radiergummi ausradiert, und die Preise darüberschreibt. Ökonomen wie Sraffa haben daraus den völlig korrekten Schluss gezogen, dass man marxistische Ökonomie am besten treibt, indem man aufhört, marxistische Ökonomie zu treiben. Einige wenige Standhafte versuchen immer noch, eine Lösung für das Transformationsproblem zu finden, indem sie den „Algorithmus“, den Marx gegeben hat, verbessern. Aber der Algorithmus, den Marx gegeben hat, ist tatsächlich der, den Samuelson beschrieben hat: er radiert die Wertgrössen aus und schreibt Preisgrössen hin. Eine bessere Lösung für das Problem besteht nicht, weil das Problem nicht besteht, jedenfalls nicht für Marx.
Das Problem, das da gelöst werden soll, ist nämlich vom Gegenstand der Untersuchung schon gelöst, und zwar auf genau diese Weise. Die Kapitalien, soweit sie sich am Markt halten können, sind (idealerweise) Freie und Gleiche, d.h. solche, die eine gleiche Profitrate tragen. Die Spur ihrer naturbürtigen Ungleichheit, der verschiednen Bewegung menschlicher Arbeit, ist darin ausgelöscht, und mit ihr jede Spur, die die Begriffe des Bd. I hinterlassen haben könnten. Wenn es anders wäre, d.h. wenn in den Preisen die Wertverhältnisse sichtbar wären, dann wäre Bd. III daran gescheitert, die wirkliche Gesellschaft zu beschreiben.
Das „Kapital“ holt seine Voraussetzungen auf gar keine Weise ein, es besteht sogar darin, zu zeigen, warum das nicht möglich ist. Diese Voraussetzungen kann man also, im Rahmen einer Wissenschaft von der Ökonomie, glauben oder auch nicht. Sobald diese Wissenschaft sich von dem Begriff eines Werts, der auf Arbeitszeit gründet, abwandte, ist alles, was im „Kapital“ steht, grundsätzlich für sie ohne Belang.
Das wäre auf keine Weise anders, wenn Marx das irdische „Kapital“ seinem Urbild im Himmel mehr angenähert hätte. Denn es ist kein wissenschaftlicher Beweis für diese Voraussetzungen denkbar, ausser wenn alles, was in Bd. III steht, falsch ist. Wir müssen also annehmen, dass das himmlische „Kapital“ entweder nur aus Bd. I besteht, denn den Bd. II hat bekanntlich niemand je gelesen, oder genauer aus den ersten hundert Seiten; dann würde es aber genausowenig funktionieren. Oder wir müssen annehmen, dass es in Wahrheit viel umfassender ist, weit über den Bereich der Ökonomie hinausgreift, so dass deren Grundbegriff, der gesellschaftliche Reichtum, sich auflöst in einen allgemeinen Begriff von gesellschaftlicher Herrschaft; dann ist das „Kapital“ nur das Prolegomenon zu einer kritischen Theorie der Gesellschaft, und zwar einer, die alle bisherige Geschichte in sich enthält. Aber das überschreitet m.E. den ursprünglichen Werkplan.
c. Wie ist es denn dann um die geistesgeschichtliche Stellung des „Kapital“ bestellt, wenn es so dürftig endet? Es sieht verdächtig so aus wie einfach irgendein Buch. Erweist sich nicht die Wahrheit seiner Anfangsgründe in irgendeiner Weise aus dem Gang der Darstellung? Es zeigt sich doch, dass in Bd. III tatsächlich gelingt, eine Gesellschaft darzustellen, die so aussieht wie die jetzige. Namentlich die Krisen, durch die hindurch der Fortschritt des Kapital sich wirklich vollzieht; sie sind doch in ihrem letzten Grund nur durch das „Kapital“ verständlich? Weiterlesen →