Buchbesprechung: Ukraine, I

Juri Andruchowytsch (Hg.), Euromaidan. Was in der Ukraine auf dem Spiel steht, Suhrkamp 2014

Nehmen wir diesen Band, immerhin aus dem Hause Suhrkamp, zur Hand, um zu sehen, ob wir Antwort darauf bekommen, was in der Ukraine 2014 eigentlich alles geschehen ist. Wenn wir der putinistischen Propaganda und ihren hiesigen Verteilstellen von KenFM bis zur AfD glauben sollen, handelt es sich um einen Putsch westukrainischer Nazi-Kollaborateure, angeführt von den globalistischen Eliten, das heisst natürlich George Soros.

I
Der Name Soros fällt seit Mitte der nuller Jahre immer dann, wenn irgendwo auf der Welt eine ganz bestimmte Sorte von Mafia-Regime von ganz bestimmten Sorte Oppositionsbewegung gestürzt wird. Solche Ereignisse nennt man dann verächtlich „Farbrevolutionen“, weil die sympathisierende Westpresse ihnen in ihrer unendlichen Dummheit verniedlichende Beinamen angehängt hat wie Rosenrevolution, samtene Revolution, orangene Revolution oder ähnlichen ärgerlichen Blödsinn, der es wiederum den Männern des Regimes sehr leicht gemacht hat, diese Bewegungen als unecht, als blosse Inszenierung abzutun.

Die Linken haben da nicht viel dagegen zu sagen gewusst, und mittlerweile sind die so eingeübten Denkweisen überall fast nicht mehr wegzubekommen. Wenn man die Bewegung von 2004 in der Ukraine, nur als Beispiel, oder von 2005 im Libanon als „unecht“ als amerikanisches Geheimdienstkomplott darstellen lässt, wie kann man dann widersprechen, wenn das selbe bei einem Generalstreik von 12 Millionen ägyptischer Arbeiter geschieht? Wenn man der Lüge einmal Zeit gegeben hat, sich zu konsolidieren, dann hat man dem Feind die Möglichkeit eingeräumt, jede Regung von proletarischem Widerstand als feindliche Invasion darzustellen und nach Möglichkeit mit Giftgas und Fassbomben zu beantworten, wie dies in Syrien dann auch geschehen ist.

Die „Farbrevolutionen“ genannten Bewegungen sind nun in der Regel sicherlich nicht proletarische Bewegungen gewesen, indem ihre Ausdrucksformen und Ziele sicherlich nicht den bürgerlichen Rahmen des Liberalismus überschritten hat. Man mag das ihren Klassencharakter nennen. Es geht aber nun sicherlich nicht an, daraus auf ihre Teilnehmerschaft zu schliessen. Ein grösserer Teil der Arbeiterschaft hat an solchen Reformbewegungen immer ein eigenes und reges Interesse genommen. Sie nehmen an ihnen, man weiss es vom Iran 2009 etwa, aber als Bürger teil, das heisst sie greifen nicht zum eigenen Kampfmittel der Arbeiterklasse, dem Massenstreik.

Elsässer hat sich zu seiner grossen Karriere als abgefeimter Lügner bekanntlich durch seine Parteinahme gegen die iranische Bewegung von 2009 vorbereitet:

Der Präsident hat klar gewonnen. Und die Leute, die dagegen demonstrieren, sind erkennbar eine kleine Minderheit: Die Jubelperser von USA und NATO. Hat jemand die Girlies gesehen, die da in bestem Englisch in die Mikrofone von CNN und BBC heulen? Das sollen die Repräsentanten des iranischen Volkes sein, oder auch nur der iranischen Opposition? Da lachen die Hühner im Capitol! Hier wollen Discomiezen, Teheraner Drogenjunkies und die Strichjungen des Finanzkapitals eine Party feiern. Gut, dass Ahmidenedschads Leute ein bisschen aufpassen und den einen oder anderen in einen Darkroom befördert haben.

Diese Sätze muss man mittlerweile klassisch nennen. Es ist nun aber keinem Menschen plausibel zu machen, dass eine so wenig zahlreiche Klasse ein Regime fundamental erschüttern könnte. Im Gegenteil soll die Protestbewegung ja nicht „das Volk“ sein oder darstellen, sondern zu diesem in Gegensatz gebracht werden, so dass das Regime mit „dem Volk“ identifizierbar ist. Woher hat diese kleine Gruppe also ihre Kraft? Nun, vom feindlichen Ausland und irgendeinem Geheimbund. Solchermassen aus der Nation hinausdefiniert und ausserhalb des Gesetzes gestellt, ist sie für den Mord markiert.

Auch wenn wir früher für die sogenannten „Farbrevolutionen“ nicht interessiert waren, zwingen uns die Ereignisse seit 2011, sie als Teil der neueren Revolutionsgeschichte anzuerkennen, als Abschnitt, als enttäuschte Illusion, als Hindernis vielleicht sogar, als Aspekt einer Dynamik, die bei ihnen niemals stehen bleiben kann, als Darstellung der Ansprüche bestimmert Fraktionen der Klasse, die genauswenig übergangen können werden wie die gegenteiligen Ansprüche derjenigen Fraktion, die Autos anzündet, weil

kein Teil des Proletariats mehr sich bewegen [kann], wenn sich nicht das ganze Proletariat bewegt

.

II
Das alles steht natürlich nicht in dem Buch. Es steht aber ein Haufen anderer Dinge drin, die Überlegungen wie den gerade ausgedrückten vielleicht Material geben können.

Es tut mir immer noch weh, wenn der Maidan als unabhängiges politisches Subjekt in den Medien herabgewürdigt wird. Im virtuellen Raum treten die Figuren von Politikern und Rechtsradikalen in den Vordergrund. Diese Figuren vervielfältigen sich, aus ihnen werden die Propagandasujets aufgebaut. Das Schlimme daran ist nicht nur die Diffamierung des Maidan, sondern auch seine verdrehte Darstellung, und dass man ihn von der Tagesordnung streicht. Vielleicht hat gerade diese verdrehte Darstellung zu der Einsamkeit unseres Protestes im europäischen Kontext geführt. Der Maidan ist weder Swoboda noch der Rechte Sektor. Das sind Tausende Menschen, die ein neues revolutionäres Subjekt geschaffen haben.

Schreibt Kateryna Mishchenko. Da ist schon ziemlich viel ausgesprochen, was den ganzen Band durchziehen wird: das Gefühl, recht alleine in einem Kampf dazustehen; das Gefühl, dass dieser Kampf aber europäische Dimension hat und die Zukunft Europas betrifft; die Erfahrung kollektiven eigenständigen Handelns, kontrastiert mit der Behandlung dieses Handlens als fremdgesteuert und manipuliert; gekrönt von der besonderen Leistung, eine im Prinzip langweilig-liberale Bewegung als einem Nazi-Putsch, unterstützte von einem aggressiv-imperialistischen Westen darzustellen. Das wiederum hatte durchaus die Wirkung, den Westen von entschiedener Unterstützung abzubringen, zu welcher er ohnehin wenig Lust verspürte.

Der Westen macht gute und einfache Geschäfte mit den Kompradoren der Systeme vom Typus Putin (oder Mubarak). Jede Störung ist ihm unangenehm. Ihn bei seinen „Werten“ zu packen, ist futil. Nicht einmal ein plattes Wortspiel, auf welchen offshore-Konten solche Werte am besten liegen, will uns dazu einfallen. (Höchstens vielleicht nach einigem Nachdenken, welcher newyorker Immobilien-Entwickler besonders bekannt dafür war, neurussisches Schwarzgeld in westlichen Werten anzulegen.)

Der wahre Grund für die militärische Invasion durch Russland ist der unbedingte Wille, eine gutartige, erfolgreiche und fruchtbare ukrainische Revolution zu verhindern, sie unmöglich zu machen, in Verruf zu bringen; den Ukrainern, vor allem aber den Russen, für immer den Gedanken auszutreiben, sich gegen den русский мир, die »russische Welt«, aufzulehnen, der despotischen Ordnung das produktive Chaos vorzuziehen, den Gewissheiten einer Diktatur das Risiko der Freiheit und Selbstbestimmung. Und es »dem Westen« zu zeigen.

schreibt Jurko Prochasko. Und weiter:

Die europäischen Reaktionen auf unsere Revolution waren widersprüchlich und nicht besonders ermutigend.
Manchmal will man es einfach nicht glauben: Man fährt »nach Europa«, um über die ukrainische Revolution zu berichten und zu diskutieren. Man erwartet wenn schon nicht Verbündete im Geiste, so doch zumindest wohlwollende, wenn nicht mitfühlende Beobachter. Die meisten Gesprächspartner sind gut informiert oder haben alle Voraussetzungen, um sich ein unvoreingenommenes Bild machen zu können. Und dann schlagen einem so wüste Unterstellungen über die Revolution, ihre Natur und ihre Akteure entgegen, dass man es nicht fassen kann. Denn diese Unterstellungen sind ausgesprochen antieuropäisch. Sie sind geradezu putinesk.

Man darf sich schon daran erinnern, was für Figuren 2014 bei uns auf einmal aus ihren Löchern krochen, was für Bündnisse auf einmal deutlich wurden zwischen alten Dummköpfen aus der DKP, jungen „Globalisierungskritikern“, Irren jeder Sorte und halt auch den Nazis. Man darf sich auch erinnern, dass dieser Haufen seither in der zweiten Phase der Pegida-Bewegung aufgegangen ist, und in der AfD. Dazu kann man auch gerne die Zeitleiste zu Rate ziehen, die wir für genau diesen Zweck erstellt haben. Und man darf sich erinnern, dass diese Propaganda kontinuierlich überging in die der Achse Orban-Seehofer. Und wer halt noch alles von den Plünderern des Sovietvermögens gut bezahlt wird. Über Syrien reden wir hier noch gar nicht mal.

III

In den vier Monaten des Maidan haben auch wir Vierzigjährigen mehr Epochen erlebt als je zuvor, und einige davon kannten wir nur aus den Geschichtsbüchern. Wir haben uns an den Gebrauch von Worten gewöhnt, die wir nur theoretisch kannten.

Schreibt Katja Petrowskaja. Solche Dinge habe ich Ägypter auch sagen hören.

Ganz einfach, sagte Sascha, als ich sie nach dem Weg fragte, um die Barrikade herum und dann links. Das Wort Barrikade fiel Sascha so leicht, als wäre es ein gewöhnliches Detail städtischer Architektur, wie eine Kreuzung oder ein Bogen. Aber dann sagte sie noch in schnellen Worten: Einsatz, Folter, Vermisste, Schusswunden, und, ja, die Freundin von mir, sagte sie, sucht immer noch nach ihrem verschwundenen Mann, er war auf der Hruschewskyj-Straße.

Von wegen Sehnsucht nach dem Ausnahmezustand.

Oder Alissa Ganijewa aus Russland:

Vielleicht gelingt es der Ukraine oder wenigstens Teilen von ihr, das zu erhalten, was sie auf dem Maidan erkämpft hat, sich aus der Umlaufbahn des bürokratischen Systems Russlands zu lösen und dem »zersetzenden Westen« näherzukommen. Nicht dem Status und nicht einmal dem Lebensstandard nach, sondern dem Wesentlichen, der inneren Einstellung nach. Der Fähigkeit, auf die Staatsmacht Einfluss zu nehmen, selber die Macht zu sein. Das weckt Hoffnungen. Also ist auch für uns, die Nachbarn, noch nicht alles verloren. Der Maidan hat uns gelehrt, dass eine freie Bürgergesellschaft im postsowjetischen Raum möglich ist. Und wir können sie mit unseren eigenen Händen schaffen.

In ihrem kleinen Artikel „Wir Nationalverräter“ überliefert sie ausserdem die Bezeichnung židobandera:

Neologismus aus žid, extrem verächtlich für Jude, und Bandera. Stepan Bandera, ukrainischer Nationalist, Politiker, Partisan, der mit der deutschen Wehrmacht kollaborierte und dem ein Massaker an Lemberger Juden vorgeworfen wird, wird von Teilen der Bevölkerung im Westen der Ukraine als Volksheld verehrt. »Bandera-Leute« (banderovcy) ist ein altes Schimpfwort im Osten der Ukraine und in Russland, gemünzt auf die Westukrainer. Maidan-Anhänger wurden in der russischen Propaganda pauschal als banderovcy und Faschisten verunglimpft. Židobandera, etwa Bandera-Jidden, nennen sich auch, um den logischen Widerspruch des Propaganda-Begriffs zu entlarven, jüdische Maidan-Anhänger.

Da sind wir auch schon mitten im schönen Herz der Propaganda. Martin Pollak erzählt als Beispiel von einem Gemälde, des die Sowjetunion in den 1970ern dem Jüdischen Historischen Institut in Warschau geschenkt hatte, dass detailgetreu und in Öl die unvergessliche Szene zeigt, wie die Sowjetluftwaffe dem Aufstand im Warschauer Ghetto 1943 zu Hilfe kommt. Dieses Bild musste dann wohl auch aufgehängt werden, obwohl alle wussten, dass so etwas nie geschehen war. Bekanntlich ist weder die Sowjetunion noch die polnische Untergrundarmee dem Ghettoaufstand zu Hilfe gekommen.

Als ich eines Tages ins ŻIH kam, erregte eine Gruppe älterer Menschen, Männer und Frauen, meine Aufmerksamkeit. Sie betrachteten andächtig das Bild, in ihrer Mitte ein Führer, der ihnen das dargestellte Geschehen erklärte. Russische Touristen, ihren Gesichtern und der Kleidung nach zu schließen eher einfache Menschen. Mit leuchtenden Augen standen sie vor dem Gemälde und lauschten den Worten des Guides, der die heroische Hilfe sowjetischer Flieger für das kämpfende Getto rühmte. Vermutlich waren sie die einzigen, die jemals den Unsinn für bare Münze nahmen, der da, in Öl gemalt, an der Wand hing.

Der Kampf gegen Hitler wird von der regierenden Kaste als ihr exklusives Privateigentum betrachtet. Wer sich gegen sie stellt, stellt sich gegen den Antifaschismus. Die putinistische Propaganda ist ja auch nicht die Propaganda irgendeines dahergelaufenenen Dutzendregimes, sondern kann immerhin stolz beanspruchen, auch hier die Sowjeunion zu beerben. Und spätestens hier treffen Linke dann wieder auf bekanntes Terrain.

Die Bolschewiki sind ja in der russischen Revolution nicht von alleine an die Macht gekommen, sondern sie haben sich erst einmal gegen ihre Feinde und gegen die Bevölkerung durchsetzen müssen, und zwar unter erheblichem Aufwand an Lügen und Mord. Erst fünf Jahre nach der Oktoberrevolution hatten sie die Arbeiter und Bauern unter Kontrolle gebracht. Gleich danach gingen sie daran, gegeneinander mit denselben Methoden vorzugehen. Ende der zwanziger Jahre hatte sich Stalin einigermassen gegen die anderen Bolschewiki durchgesetzt. Und kurz darauf fingen die sogenannten grossen Säuberungen der 1930er an. Nicht nur die Spitze der Partei und der Armee, sondern vermutlich einige hunderttausend mehr oder minder unbeteiligte Leute sind dabei umgebracht worden, im Namen des Kampfes gegen eine, nun ja, „faschistisch-trotzkistische“ Verschwörung.

Es ist eine ganz andere Frage, warum die Säuberungen gerade in der Zeit eskalierten, als Stalin seine Macht eigentlich konsolidiert hatte und alle davon ausgingen, dass es künftig geordnet zugehen werde. Wir werden darauf zurückkommen. Bemerken wir nur jetzt schon die Logik der Lüge, wie sie in den Moskauer Prozessen zu bewundern ist, und erinnern uns an Bücher wie „Darkness at noon“ von Koestler, oder „1984“ von Orwell, oder Victor Serge, oder selbst was der Stalinist Aragon in „Die Kommunisten“, 6 Bde., über die verheerenden Effekte dieser Logik auf die internationale Arbeiterklasse berichtet.

IV

Für die Linke kann das nicht nebensächlich sein. In Stalins Apparat wurden die Methoden der Propaganda erfunden, die seither auch den Mao, Ghadhdhafi, Assad gut gedient haben; die sozialistische Pseudorealität, die die allgemeine Staatssklaverei verheimlicht. Nicht nur in der Sowjetunion hat das Spuren hinterlassen, sondern in den Kreisen der Linken. Sie fallen ja heute, was Syrien, Libyen, und eben die Ukraine betrifft, noch oft und gerne darauf herein.

Das ist nicht dasselbe, wie zu sagen, es hätte sich nichts geändert. Oh und wie sich etwas geändert hat. Nehmen wir den Beitrag von Anton Shekhovtsov über den „Rechten Sektor“. Er beschreibt, wie postsowjetische Polittechnologie geht: suche dir gezielt „Gegnerattrappen“, nimm dir eine bestimmte Menge Leute, die aussehen wie dumme oder gefährliche Clowns, baue die zur offiziellen Opposition auf, so dass die Wählerschaft keine Wahl mehr hat. Wir könnten als Beispiel beliebige russische Wahlen nehmen, sagen wir die letzten. Zhirinovsky: gefährlicher Clown. Ksenia Sobchak: dummer Clown. Jedenfalls ein gut sortiertes Feld von Leuten, verglichen mit denen Putin nicht ganz so dumm und gefährlich aussieht, wie er aussähe verglichen mit sogar noch Navalny.

In der Ukraine unter Janukowych hat man hierfür hauptsächlich Swoboda und den „Rechten Sektor“ hergenommen. Dessen Vorgängerorganisationen wurden in gezielte Manöver eingespannt, etwa in einen „Unterstützungsmarsch“ für den Gegenkandidaten Juschtschenko 2004 in Kiew. Unnötig zu erwähnen, dass der darum keineswegs gebeten hatte, oder dass vorher noch niemals in Kiew ein Naziaufmarsch genehmigt worden war, oder dass diese Organisation noch 10 Jahre später 300 Mann zählte. Die Idee ist: halte dir diese Jungs in Reserve, und placiere sie gezielt so, dass die Opposition schlecht aussieht dabei.

So weit, die dazu benötigte faschistische Verschwörung gleich selbst noch anzuzetteln, war Stalin ja nun noch nicht. Das muss dieser Fortschritt sein, von dem man soviel hört. Erinnert ja auch ein bisschen an Syrien.

So oder so ähnlich geht es wohl zu. Falls man sich überlegt, wie es aussehen wird, wenn der Rest Europas nicht unter die Fuchtel der Freunde des Kreml fällt, ist das Buch ja vielleicht auch ganz hilfreich.

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