Agenda 2010 als Produktionsverhältnis von Angst und Panik

von C., gehalten am 18. Juli 2019 an der HTWK Leipzig beim Arbeitskreis Kritische Soziale Arbeit (AKS Leipzig)

Mich freut es deshalb besonders hier zu sprechen, weil diese Veranstaltung von Leuten organisiert wurde, die mehr oder weniger in die soziale Arbeit involviert sind – mindestens sich mit ihr auseinandersetzen oder dann ganz praktisch (im Sinne des Berufs): Sozialarbeiter oder Sozialarbeiterinnen sind. In diesem Fall dann eben noch solche, die sich kritisch mit der sozialen Arbeit auseinandersetzen. Das umfasst, wenn ich es richtig verstehe, die mögliche Verstrickung sozialer Arbeit in die sozialen Probleme selbst – sei es in Form von problematischer Kooperation mit staatlichen Institutionen oder in Form von reiner Symptombehandlung. Soziale Arbeit somit als Arbeit am Sozialen, am Gesellschaftskörper, als Hilfestellung für Leute, die in verschiedenster Form Hilfe suchen (Beratungsstellen, Streetwork) oder in der Melde- respektive Obhutspflicht sind (Jugendamt, Bewährungshilfe) .

Soziale Arbeit ist ebenso Hilfe bei der Re-Integration derer, die Herausfallen bzw. sonst auf Dauer herausfielen. Soziale Arbeit hängt davon ab, wie Gesellschaft jeweils eingerichtet ist: ob und wie sie sich soziale Arbeit leistet oder ob sie gar unnötig ist. Sie ist also selbst ein Produkt von gesellschaftlichen Widersprüchen, ein Resultat der Bewegung der Gesellschaft, indem sie mit ihr auf Probleme antwortet. Gesteuert wird diese Antwort allermeist durch den Staat: indem er sie finanziert, reguliert, organisiert. Ob und wie auf soziale Verwerfungen reagiert wird, ist nicht seit eh und je gesetzt, sondern ändert sich von Zeit zu Zeit: Situationen, die noch vor 50 Jahren Szenen repressiver Polizeiarbeit nach sich zogen, werden heute besser und ganz ohne Schläge und Tritte gelöst; allgemeiner gefasst: wo früher Menschen an den Rändern der Gesellschaft gestoßen und dort gehalten, bzw. sich selbst überlassen wurden, da wird heute integrierend – reintegrierend vorgegangen. Auch die Reintegration kann sich in der Art und Weise unterscheiden: von brachial repressiv bis alternativ liberal.

Vor allem handelt es sich um eine politische Frage, nämlich die, wie die Gesellschaft und ihr Staat sich zu ihren Rändern – zu denen verhält, die vermeintlich oder real im Abseits stehen. Genau an diesem Punkt soll Hartz 4 nun kritisiert werden: als wesentlich politisches Projekt, das zweifellos ökonomische Bedingungen und Gründe hat, doch im Besonderen auf die Bindung der Bevölkerung an ihren Staat zielt. Eine Kritik der Agenda 2010 fußend auf der Kritik der politischen Ökonomie.

Hartz4 markiert einen Bruch – nicht das Ende des Sozialstaats, sondern dessen Weiterführung mit anderen Mitteln. Die Rede vom neoliberalen Rückzug des Staates halte ich dahingehend nicht für sehr hilfreich, weil der Staat stattdessen seinen Zugriff auf die Einzelnen erweitert und vertieft hat.

Dazu lohnt ein Blick in die Geschichte des Sozialstaats. Dessen Anfänge gehen auf Otto von Bismarck zurück, der auf verheerende Verarmung und Missstimmung in der Bevölkerung zum Ende des 19. Jahrhunderts in einer Doppelstrategie antwortete: Zum einen sollte eine Sozialgesetzgebung die Armut abfedern und die Arbeiter an den Staat binden. Dafür wurde 1883 die Krankenversicherung, 1884 die Unfall- und 1891 die Rentenversicherung eingeführt. Zum anderen wurden die „Sozialistengesetze“ verabschiedet, die kommunistische, sozialistische, sozialdemokratische, Vereine, Versammlungen und Schriften, deren Zweck der Umsturz der bestehenden Staats- und Gesellschaftsordnung sei, verboten. Die Stoßrichtung der Politik von Bismarck pointierte er in einem Satz selbst sehr deutlich, nämlich, dass die Arbeiter nun nicht nur ihre Ketten, sondern auch ihre Renten zu verlieren hätten. Zur deutschen Sozialpolitik gehörte immer die Bindung der Massen an den Staat, um so nicht nur die Armut abzufedern, sondern auch einer potentiellen Frontstellung der Verarmten gegen den Staat vorzubeugen. Ein weiterer Schritt in dieser Richtung vor der Einführung der Arbeitslosenversicherung im Jahr 1927 war der Erlass über das Hilfsdienstgesetz von 1916: alle Männer zwischen 17 und 60 Jahren konnten zur Arbeit im Agrar- und Forstsektor eingezogen werden, um die Front im ersten Weltkrieg zu unterstützen. Zur Beschwichtigung der Gewerkschaften wurde darin auch die Mitbestimmung in Form der Arbeiterausschüsse (Paragraf 11) eingeführt, eine Vorform der Betriebsräte, in denen Missstände artikuliert werden konnten. Ebenfalls im 1. Weltkrieg, wurden die Schlichtungskommissionen innerhalb von Betrieben zur Wahrung des sozialen Friedens eingeführt. Dadurch wurde der Staat kriegsfähig gehalten, die Front im Inneren nicht nur gestützt, sondern auch gegen mögliche Versuche der Kriegsgegnerschaft der Arbeiterinstitutionen abgedichtet, indem diese an den Staat gebunden wurden. Ich begnüge mich hier mit dieser schlaglichtartigen Betrachtung des Sozialstaats, um zu zeigen, dass der Sozialstaat immer schon der Umgang des Staates damit war, dass die Lohnarbeitenden sich durch die eigene Bewegung des Kapitals (Freisetzung, Lohndruck) nicht reproduzieren könnte; ebenso sollte er die Aufwiegelung von verarmten Massen unterbinden, indem man sie in den Apparat integrierte bzw. sie an ihn band. Bezogen auf die Mechanismen, war die Agenda 2010, war Hartz4 kein Abbau des Sozialstaats, sondern ein Umbau. Und dieser Umbau fand konsensorientiert statt – im Gespräch mit der Opposition und den Gewerkschaften. Zwar wurde die Agenda von Rot-Grün durchgesetzt, aber parteiübergreifend fand sie auch bei der CDU/CSU und der FDP hohe Zustimmung. Wichtig zu erwähnen ist dies deshalb, weil so bereits vorab geschlichtet wurde und neue Gesetze als Gemeinschaftsaktion erschienen.

Reagiert wurde mit der Agenda 2010 auf stagnierendes Wirtschafswachstum u.a. durch die Lockerung des Kündigungsschutzes, durch die Senkung des Arbeitgeberanteils an der Renten- und Sozialversicherung und durch den Ausbau des Niedriglohnsektors. Die Gründe dieser Stagnation, so hieß es, gingen zurück auf zu hohe Barrieren für die Wirtschaft (Lohnkosten, Kündigungsschutz usw.) und die schlechte Organisation in den Behörden, welche der Wiedereingliederung von Arbeitslosen im Wege standen. Ein Problem war die Sockelarbeitslosigkeit, die beschreibt, dass ein relativer Teil der Bevölkerung keine realistischen Chancen hat, wieder in den Arbeitsmarkt zu kommen, da die Jobs hierfür schlicht nicht vorhanden sind. Erstmalig hantiert wurde mit dem Begriff der „Sockelarbeitslosigkeit“ in den 70ern, einer Zeit des Einbruchs nach langem wirtschaftlichem Booms. Der Grund hierfür liegt in der gesellschaftlichen Ordnung selbst.

Die moderne, kapitalisch-produzierende Gesellschaft löste die Feudalordnung ab und führte so zu einer Versachlichung der Beziehungen zwischen den Menschen. Die Versachlichung meint, dass an stelle personaler Bindungen (Leibeigenschaft) die vertragliche Anstellung und der Tausch tritt. Zwischen denjenigen die Produktionsmittel besitzen und denen, die nichts außer ihrer Arbeitskraft haben findet Tausch statt, innerhalb dessen sich die Einzelnen als gleich, nämlich als Warenbesitzer gegenübertreten. Der Tausch ist zwischen Freien und Gleichen, insofern selbst diejenigen ohne Produktionsmittel frei sind – im doppelten Sinne: frei ihre Arbeitskraft an wen sie wollen zu verkaufen und frei von Produktionsmitteln: in den Worten von Marx „los und ledig, frei von allen zur Verwirklichung [ihrer] Arbeitskraft nötigen Sachen“ (Kapital). Vermittelt über den Tausch treten sich die Menschen gegenüber. Darauf wird zurückzukommen sein.

Zur Profitmaximierung gilt es die Produktionsprozesse zu optimieren und den Einsatz von Maschinen voranzutreiben. Durch die Produktivkraftsteigerung (Technisierung, Rationalisierung) können so mehr und mehr Waren durch immer weniger Einsatz von menschlicher Arbeitskraft produziert werden. Folglich wird für die gleiche Arbeit immer weniger menschliche Arbeitskraft – also weniger Personal gebraucht. Karl Marx konstatierte im Kapital ein „allgemeines Gesetz“, demnach die „progressive Produktion“ zu einer relativen Überbevölkerung führe. „Mit der durch sie selbst produzierten Akkumulation des Kapitals produziert die Arbeiterbevölkerung also in wachsendem Umfang die Mittel ihrer eignen relativen Überzähligmachung.“ Die nicht mehr Gebrauchten werden so durch die Triebdynamik des Kapitalismus freigesetzt. Entstehen gleichzeitig keine neuen Märkte und Begierden, können diese Menschen auch nicht in anderen Segmenten aufgefangen werden und werden so Arbeitslos ohne Perspektive auf einen neuen Arbeitsplatz. Ohne Aussicht auch nur potentiell noch auf den Markt zu drängen, werden die Freigesetzten so tendenziell überflüssig. Dieser Anteil der Proletarisierten bildet ein Surplus-Proletariat – also einen überschüssigen Teil, der nicht schlicht eine Vergrößerung der Reservearmee der Lohnabhängigen meint, sondern eben das Phänomen, dass Teile des Proletariats nicht mal mehr auf den kapitalproduktiven Markt drängen. Sie sind in den wohlhabenderen Ländern der Welt Objekt der Verwaltung, also vom Staat alimentierte Schicht, und im Rest der Welt werden sie immer mehr in die Randgebiete der Megacities, in die sogenannten Slums gedrängt, wo sie, wie Mike Davis in „Planet of Slums“ beschreibt, im „informellen Sektor“ Elendsjobs nachgehen, die kaum das Überleben sichern. Davis verdeutlicht dies anhand eines Berichts aus Kalkutta: „…drei oder vier Personen teilen sich eine Tätigkeit, die genauso gut von einer verrichtet werden könnte, Marktfrauen sitzen stundenlang vor kleinen aufgetürmten Obst- oder Gemüsestapeln, Friseure und Schuhputzer hocken den ganzen Tag auf dem Bürgersteig, nur um eine Handvoll Kunden zu bedienen, kleine Jungs springen immer wieder mitten in den fließenden Verkehr, um Papiertaschentücher zu verkaufen, Autoscheiben zu putzen, Zeitschriften oder einzelne Zigaretten anzubieten, Bauarbeiter warten allmorgendlich und häufig vergebens in der Hoffnung auf Arbeit.“

Diese gesellschaftliche Dynamik wirkt doppelt auf die Einzelnen: abseits jeder qualitativen Entwicklung ist das Individuum als Funktion im Verwertungszusammenhang immer austauschbar. „Weil jeder weiß, daß er nach dem Stand der Technik überflüssig wäre, so lange um der Produktion willen produziert wird, empfindet jeder seinen Erwerb als verkappte Arbeitslosenunterstützung, ein vom gesellschaftlichen Gesamtprodukt der Erhaltung der Verhältnisse zuliebe willkürlich und auf Widerruf Abgezweigtes.“ (Adorno) Mit der realen Freisetzung immer größerer Teile der Menschheit – ohne eine Chance irgendwie in den Markt wieder eingezogen zu werden – werden diese vollends überflüssig. Dies führt zu Angst: Angst nicht nur schlicht ausgetauscht werden zu können, sondern nicht mal mehr irgendwie gebraucht – also tauschbar zu sein, seine Arbeitskraft nicht veräußern zu können. Gebändigt wird diese Angst in den Sozialsystemen, die die Einzelnen nicht dem Hunger überlassen.

Mit Hartz4 ändert sich das. Hervor tritt dies im Verhältnis der Alimentierten zum Staat. Im Sozialgesetzbuch II heißt es: „Für erwerbsfähige Hilfebedürftige, die keine Arbeit finden können, werden Arbeitsgelegenheiten geschaffen werden. […] Diese Arbeiten begründen kein Arbeitsverhältnis im Sinne des Arbeitsrechts.“ (§16 Abs. 3) Und geschaffen wurden die sogenannten „Zusatzjobs“. Zusatzjobs sind, so schreibt das Bundesamt für Wirtschaft und Arbeit in einer Broschüre zur Einführung von Hartz 4, „Ausdruck einer neuen Balance zwischen staatlicher Fürsorge und Eigenverantwortung. Wer die Hilfe der Gemeinschaft braucht, bekommt sie, muss aber bereit sein, dort zu helfen, wo wichtige gesellschaftliche Aufgaben bislang unerledigt blieben.“ „Der Zusatzjob – oftmals auch »Ein-Euro-Job« genannt – hilft den Arbeit-suchenden, neue Perspektiven zu erschließen und leistet gleichzeitig einen wertvollen Beitrag für die Gemeinschaft.“ Die neue Perspektive ist nichts anderes als die Verinnerlichung des Zwangs – die Akzeptanz der Irrationalität dessen, dass Arbeit tendenziell überflüssig wird, stattdessen aber die Menschen überflüssig erscheinen. Also keine Linderung der Angst, sondern ein verstetigen und darüber hinaus ein anheizen der Angst, indem der Körper als Faustpfand für die Alimentierung genommen wird.

Indem der Staat die freie Verfügung über die Ware Arbeitskraft streicht, die Reservearmee aber nicht dem Hunger überlässt, verleibt er sich die Arbeitskraft ein. Die Betroffenen sind noch frei an Produktionsmittel aber nicht mehr frei ihre Arbeitskraft nach eigenem Gusto zu veräußern. So bildet der Staat aus ihnen eine neue Schicht – eine Klasse für den Staat, eine Staatsklasse, weil sie ihm auf Gedeih und Verderb ausgeliefert sind. Die Initiative sozialistisches Forum Freiburg schreibt dazu: „Indem aber die Vermittlung abgeschafft und eine absolute Grenze gezogen wird, ändert sich die Qualität der Bittsteller selbst; aus den Verkäufern im Wartestand wird das Zwangskollektiv der Versorgten, halbherzig Gepflegten und notdürftig Gespeisten, werden Leute, denen man [Zitat SGB II] „in vertretbarem Umfang auch Beziehung zur Umwelt“ (§20) gestattet.“ Es entsteht ein Bruch innerhalb der Reservearmee durch die, die überhaupt nicht mehr auf den Markt drängen, die Objekt der Verwaltung und nur noch das sind. Selbst schuld sollen sie sein und alles sollen sie tun, um ihren Umstand abzuschaffen.

Sprachlich wird das dann wie folgt eingedrillt: „Einen Beitrag leisten. Menschen, die hilfebedürftig sind, weil sie keine Arbeit haben, können nur dann mit der Unterstützung der Gemeinschaft rechnen, wenn sie alles unternehmen, um ihren Lebensunterhalt wieder selbst zu verdienen. Das ist sozial gerecht. Eine eigene Arbeit oder zumindest die Möglichkeit, einen Beitrag zum eigenen Lebensunterhalt zu leisten, steigert außerdem die Selbstachtung und soziale Anerkennung. Die dauerhafte Abhängigkeit von staatlichen Leistungen ist keine Lebensperspektive.“ Weiterhin in der Broschüre „Menschen in Arbeit bringen“ heißt es unter dem Stichpunkt „Wirtschaftlichkeit und Gerechtigkeit“: „Unsere Arbeitsmarktreform ist wirtschaftlich vernünftig und sie ist gerecht. Denn es ist nicht vernünftig und nicht gerecht, dass die Langzeitarbeitslosigkeit seit Jahren steigt.“

Der systemische Zwang der Arbeitsgesellschaft wird zur Vernunftsform stilisiert, ganz gleich, ob überhaupt eine Notwendigkeit von Arbeit besteht, wird die Sache der Plackerei noch zur Basis von Gerechtigkeit. Vernunft sei nicht die Frage, ob steigende Arbeitslosenzahlen nicht Grund sein müssten, darüber nachzudenken, wie die Arbeit verteilt ist – gar die Frage, wie produziert wird, sondern der Imperativ der Arbeitsgesellschaft. Der Tausch als Vermittlungsform der Gesellschaft wird zur Vernunft umgemünzt – das ewige Gleich um Gleich des Tausches in den Ideenhimmel projiziert und daraus wiederum wird fleißig abgeleitet. Die Sache der Plackerei wird zur Sache der Gerechtigkeit. Hartz4 dient als Denkstütze zum Verständnis der konkreten Unvernunft und deren Internalisierung: es hilft den Leuten auf die Sprünge führt zu neuen „Perspektiven“ oder wie es in einem Artikel in der FAZ heißt: Hartz4 ist der Beginn eines sozialen Intelligenztests.“

Gegen die Sachzwänge der Ökonomie, sich verdingen zu müssen, aber es durch die Veränderung der Produktivkräfte gar nicht zu können, wird der „freie Wille“ pointiert, der Ausschluss der Einzelnen durch die Gesellschaft selbst, wird mit dem Wollen-müssen der Einzelnen beantwortet. Der Staat als Souverän schweißt zur Zwangsgemeinschaft zusammen, indem er dem bornierten Einzelinteresse des Bourgeois die nicht ganz so freie Entscheidung zum Staatsdienst aufdrückt. Wo der Bourgeois an die Grenze der Ökonomie gerät, dort soll der Staatsbürger, der Citoyen erst richtig Einsatz zeigen. „Gemeinnutz vor Eigennutz“ ist die Formel für das Opfer, das gerecht, das vernünftig sein soll. Angst ist das Treibmittel dieser Operation, Panik das Produkt und der Zweck. Hartz4 und Agenda 2010 sind so das Labor und das politische Produktionsverhältnis der Panik.

Die Angst der Einzelnen vor und durch das notwendige Scheitern auf dem schmaler werdenden Arbeitsmarkt, wird durch die Veredelung der Lohnarbeit zur Sache der Vernunft, zur Sache des Wollens, bei Drohung des Entzugs von Leistungen. Die Alimentierung wird zum Schauplatz des freien Willens, Einsatz zu zeigen, zu kämpfen, einen Beitrag zu leisten und das mit dem Fluchtpunkt des Marktes, der unerreichbar wird. Und hinter dem freien Willen, alles zu unternehmen, um nicht mehr am Tropf zu hängen, steht die Maßnahme, die Sanktion- dass ganz schnell auch die Zuwendung durch den Staat gestrichen werden. Dem Staat geht es darum, die Realangst ins Virtuelle zu schieben, zu verfremden und durch die Panik der blinden Selbsterhaltung zu substituieren. Was diese angeheizte Panik bedeutet, hat Sigmund Freud 1921 in „Massenpsychologie und Ich-Analyse“ anhand der Auflösung „künstlicher Massen“ dargestellt:
„Eine Panik entsteht, wenn eine solche Masse sich zersetzt. Ihr Charakter ist, dass kein Befehl des Vorgesetzten mehr angehört wird, und dass jeder für sich sorgt ohne Rücksicht auf die anderen. Die gegenseitigen Bindungen haben aufgehört und eine riesengroße, sinnlose Angst wird frei. […] Der Einzelne bezeugt damit die Einsicht, daß die affektiven Bindungen aufgehört haben, die bislang die Gefahr für ihn herabsetzten. Nun, da er der Gefahr allein entgegensteht, darf er sie allerdings höher einschätzen.“

Allein was Freud für das Phänomen der „künstlichen Massen“ beschreibt, gilt für die kapitalisierte Gesellschaft selbst. Dazu nochmal die ISF Freiburg: „Die Panik, hat mit der Anthropologie von Individuen nichts, mit der gesellschaftlichen Ontologie der Subjekte dagegen alles zu tun. Panik ist nicht eine Neigung der „Masse Mensch“, eine objektive Tendenz ihrer psychischen Verfasstheit. Sie ist ein politisches Produktionsverhältnis. Darin wird dem Subjekt qua Schock vor Augen geführt, wie einsam und verloren es ist, und dass es keine wirkliche Vermittlung gibt zwischen dem Einzelnen und der Gattung, sondern nur den Sprung der Monade mitten ins falsche Kollektiv. […] Im Maße, in dem die Panik das Subjekt ergreift, greift es zur Theorie, d.h. zur Verschwörungstheorie und zu eben dem Selbstbewusstsein, das ihm aus der Fusion von Psychokratie und Bürokratie zuwächst.“

Hartz 4 zielt wahrlich auf den „ganzen Menschen“, der sich ganz der Gemeinschaft, ganz dem Staat verschreiben soll und genau dafür steht die Aktivierungspolitik, der Jargon aus Arbeitspsychologie und Coachingseminar hinter dem die nackte Gewalt der Maßnahme steht. Der Druck dieses Freiluftlabors der Panik führt zu Schuld, weil die Anforderungen durch die Überflüssigwerdung tendenziell unmöglich werden und jedes Scheitern zur Selbstzerfleischung oder der Projektion der Schuld gerinnt, wo keine Möglichkeit auf Änderung möglich scheint. Es ist das um-sich-schlagen zur vermeintlichen Selbsterhaltung, das quasi natürlich, nämlich aus der zweiten Natur, der bürgerlichen Gesellschaft kommend, seine Objekte findet, die, wenn die Krise kommt, noch mit ins Grab genommen werden sollen. Die Aktivierungspolitik der Agenda 2010 soll auf Trab halten, ist Dauermobilisation, die den Einzelnen die Unvernunft als Vernunft einhämmert – die nicht ganz so freundliche Einladung den Irrsinn der Idee von Staat und Arbeitsgesellschaft sich einzuverleiben und sich ihr einzuverleiben. So könnte das Stakkato der Broschüren und Flyer auch von unnötigem Brimborium befreit, für alle sichtbar auf Tafeln vor jedem Jobcenter angebracht werden: „Niemand wird sich entziehen dürfen. Das ist vernünftig. Das ist gerecht.“ Klarer würde damit auch, dass Hartz4 zwar ein Experiment mit begrenztem Probandenkreis ist, aber als Projekt gesamtgesellschaftlichen Appell hat – anders ausgedrückt -, eine Drohung an alle ist. Dadurch wird auch der Diskurs um die Betroffenheit insofern zu reflektieren sein, dass tatsächlich alle gemeint sind, wenn auch nicht alle ihren „persönlichen Ansprechpartner“ oder „Fallmanager“ oder „Kundenberater“, wie das Personal der Jobcenter genannt wird, zugewiesen wurden.

Was sich in Hartz4 versinnbildlicht ist die allgemeine Veränderung der Arbeitswelt weg von der realen Tätigkeit hin zur bloßen Potenz und Verfügbarkeit. Hatz4 ist die politische Seite dieser Veränderung, nämlich die Dressur derer, deren Performance nicht gefragt und doch erzwungen wird. Die Bewusstseinsindustrie floriert und gehört für manche zum guten Ton – für andere ist das Coachingseminar Teil der nächsten Maßnahme. Während jedoch der Markt das Hauen und Stechen der Konkurrenz in vermittelter Form in Bahnen hält und die Abrichtung in Form der Selbstdressur fördert, forciert der Staat bei den Herausgefallenen die Disziplinierung ganz unmittelbar. Darin jedoch ist Hartz 4 kein Novum, vielmehr die Konsequenz des Sozialstaats, Elend in Zeiten der Überflüssigkeit des Menschen zu Verwalten und Aufruhr zu unterbinden.

Die Bewahrung der Funktionsfähigkeit und die aktive Teilnahme am Geschehen sind der übergeordnete Diskurs, dessen Polizei viele Gesichter hat. Die unmittelbare Gewalt des Staates wird so durch die soft measures begleitet, die sich der sozialen Probleme auf die eine oder andere Weise annehmen. Womit ich wieder am Anfang bin. Ein zurück zum guten alten Sozialstaat ist als Forderung unwahrscheinlich, nicht nur, weil er an den Kriterien des postmodernen Kapitalismus unpraktikabel ist, sondern weil gar noch der Wunsch nach der Utopie eines sozialen Staates der Gewalt Hohn spricht. Eine Utopie des Sozialstaats gibt es so wenig wie die Utopie der sozialen Arbeit. Was es gibt ist die Kritik am Staat und die Kritik an der Arbeit am Sozialen, am Gesellschaftskörper zur Formierung der Einzelnen.

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