Interview zu aktueller Lage im russischen Hinterland

Aus dem aktuellen Heft (#19), geführt in Januar oder Februar. Hinterland war allerdings auch damals schon nicht gleich Hinterland. – das GT

GT: In erster Linie interessiert mich dein subjektives Empfinden des Krieges fern der militärischen Auseinandersetzungen, in der Provinz. Wie äußert und fühlt sich an im Alltagsleben, z.B. offizielle Propaganda, Zensur, Mobilisierung, die sog. Exportsubstitution und sonst welche wirtschaftlichen Folgen der «Speziellen militärischen Operation»? Grob gesagt, was ist mit bloßem Auge sichtbar?

B: Kaum jemand hat ernsthaft geglaubt, dass ein realer Krieg ausbricht, zudem ohne einen Grund bzw. irgendeine Provokation. Am Anfang hatte er kaum Einfluss auf den Alltag, mit dem Fortdauern der militärischen Handlungen aber wurde klar, dass deren Folgen früher oder später alle treffen würden. In erster Linie betrifft das den Konsum, das Wegziehen der Unternehmen aus dem Land hat sich rasch am Automarkt geäußert, wo die Preise für Autos mehrfach gestiegen sind; Autowerke, die Autos zusammengebaut haben, stellten die Produktion ein und drohen, zu schließen und das Personal zu entlassen. Außerdem beginnen Lebensmittel wie Cola, zu verschwinden, die versucht wird, durch andere Marken zu ersetzen. Das Unterbrechen der üblichen Lieferketten und Probleme mit dem Währungskurs wirkten sich auf Lebensmittelpreise aus, die die ganze Zeit während der sog. Spezialoperation immer weiter steigen. Was ins Auge springt: Graue Verpackung für Milchprodukte anstatt der weißen, es ist kein Tetra Pak mehr, deswegen leckt sie und die Milch wird schneller sauer. Die Preise sind beinahe für alles gestiegen, früher konnte man mit 500 Rubel einkaufen gehen, heute reichen auch 1000 Rubel nicht mehr. Verschwunden sind viele beliebte Produktmarken, meistens sind das aber keine Produkte des alltäglichen Bedarfs (Cola, Chips, McDonalds usw.), also für mich persönlich ist das nicht relevant. Dafür hat uns das Blockieren von sozialen Netzwerken schwer getroffen, jetzt weiß man einfach nicht, was bei den Freunden und in der Welt passiert, weil hauptsächlich dafür Facebook und Instagram genutzt wurden. Einen aktuellen Ersatz gibt es dafür nicht. Und natürlich hat die Mobilisierung keine zusätzliche Beliebtheit den Obrigkeiten gebracht, da es sich herausstellte, dass potenziell alle Bürger eingezogen werden könnten, die im Ganzen neutral zum Krieg eingestellt waren, solange er sie direkt nicht betroffen hatte.

GT: Über das Internet und Facebook usw. Anfangs habe ich dich noch im Netz gesehen, das letzte halbe Jahr sehe ich weder dich noch andere. Klappt das gar nicht mehr? Gibt es denn keine populäre Möglichkeiten, die Sperre zu umgehen wie VPN oder Ähnliches?

B: Ja, Facebook und Instagram wurden schnell eingestellt, dabei ist Youtube unberührt geblieben, wo jedeR jede beliebige Info über die „Spezialoperation“ finden kann. Ich glaube, der Staat hat FB stets als ein Bollwerk der Opposition betrachtet und es wäre vermutlich auch ohne den Krieg geblockt, und Meta hat sich dem auch nicht widersetzt. Aber klar, so etwas wie die chinesische Webseitenkontrolle konnten die Unseren nicht schaffen, jede Information kann man auf Youtube oder Telegram finden. Man könnte sich auch mit VPN abmühen, die kostenlosen funktionieren eher schlecht, Geld ausgeben für die Möglichkeit, Nachrichten auf FB zu lesen, möchte man nicht unbedingt. Außerdem gibt es in Russland eigene soziale Netzwerke wie vk oder Odnoklassniki, die versuchen, den frei gewordenen Markt zu besetzen, locken bekannte Blogger zu sich usw.

GT: Wie konnte man einen Großteil der Bevölkerung zu einem Krieg gegen das Nachbarland «überreden»? Wozu brauchen sie diesen Krieg? Einerseits gibt es eine dermaßen blanke Lüge, eine dermaßen grobschlächtige Propaganda im Fernsehen, andererseits die COVID-19-Krise demonstrierte in Russland ein hohes Grad des Misstrauens gegenüber dem Staat. Werden wirklich die Ukraine bzw. die NATO als eine reale, konkrete Gefahr wahrgenommen? Gibt es womöglich nicht offensichtliche, irrationale Motive für die Unterstützung bzw. Zustimmung zum Krieg? Ist sie denn so hoch, wie Umfragewerte das suggerieren?

B: Na, man hat ja auch nicht versucht, jemand zu überreden. Erst startete man den Krieg und dann haben sie sich die Erklärungen dafür überlegt, das konnte man an Z- und V-Symbolen sehen. Diese fehlt weitgehend auf PKWs oder Häusern, Hauseingängen usw. Das Fernsehen hat sich auch erst eingeschaltet als die Sache angefangen hat, noch dazu die ursprüngliche Rechtfertigung (des Krieges) mit Entnazifizierung und Demilitarisierung war keine geschickte Wahl und kaum jemand hat sie verstanden. Dann aber, als klar wurde, dass der Staat mit der elementaren materiellen Versorgung von Soldaten überfordert ist, entstanden Freiwilligeninitiativen, die Kleidung und andere Sachen für die Front sammeln, einige sind bereits um staatliche Einrichtungen entstanden, die vermutlich den Befehl hatten, mit Spendensammeln anzufangen, wie Bibliotheken, Kommunalverwaltungen usw. Dort arbeiten in der Regel ältere Frauen, die die offizielle Propaganda unterstützen. Im Allgemeinen versuchen die Leute, nicht zu besprechen, was gerade passiert. Vermutlich hat es damit zu tun, dass die Obrigkeiten vom allerersten Tag an sehr hart gegen Antikriegsagitation vorgegangen ist. Die offiziellen Kundgebungen wegen des Anschlusses neuer Territorien stießen allerdings auch auf keine besondere Begeisterung.

GT: Warum eigentlich die älteren Frauen? Hast du dafür Erklärungen?

B: Hier gehe ich von meinem eigenen Umfeld auf der Arbeit. Das sind ältere Frauen, sie unterstützen den Krieg im Allgemeinen und tun, was sie können: stricken Socken, spenden Artzneimittel usw. Insgesamt hat sich die Gesellschaft geteilt wie bei allen anderen Fragen auch: wer gegen Putin war, ist gegen den Krieg, wer ihn unterstützte – unterstützt jetzt den Krieg. Die Mehrheit bleibt draußen und regt sich nur, wenn sie aktiv in etwas wie z.B. Mobilisierung reingezogen wird. Arbeitskolleginnen meiner Frau, die etwa 30 sind, sind umso mehr dagegen, weil bei vielen die Männer eingezogen worden sind.

GT: Ein gewisser Teil der russländischen Linken, nicht nur die sog. «roten Konservativen», sondern u.A. der Nachrichtenportal Rabkor / Boris Kagarlitsky z.B. (1) haben offensichtlich 2014 erwartet, dass Putin ihnen «Noworossija» für sozialistische Experimente schenken oder gar für sie die UdSSR rekonstruieren würde. Sie wurden im Nachhinein natürlich enttäuscht, aber die Liebhaber von Hammer-und-Sichel-Symbolen unterstützen die «Spezialoperation» immer noch, sammeln und verteilen humanitäre Hilfe usw. Warten sie wirklich auf die Wiederherstellung der UdSSR oder hoffen sie, dass der Krieg sich zuhause in einen Bürgerkrieg verwandelt? Hast du irgendwelche Erklärungen für diese Position?

B: Ich habe explizit solche Erwartungen bei Kagarlitsky nicht wahrgenommen. Zwar es ist schon möglich, dass das empfunden wird wie ein Versuch, die UdSSR wiederherzustellen, obwohl den Fakten und der Rhetorik nach ist es eher der Versuch, den Bürgerkrieg (1918-1923) auf der Seite der «Weißen Garde» neu auszuspielen. Denn offiziell werden Lenin und Chruschtschow der Erschaffung der Ukraine auf Kosten der genuin russischen Gebiete beschuldigt und deren Zurückeroberung jetzt soll die Wiederherstellung der Gerechtigkeit in der Geschichte sein.

GT: Weil du formell mit der Russländischen Sozialistischen Bewegung zu tun hast: Die RSB hat 2014, soweit ich weiß, verurteilte die Krimannexion und sprach Klartext über den Krieg. Ich denke, mit so einer Position ist es gerade völlig unmöglich, öffentlich aufzutreten. Seid ihr im Untergrund oder aufgelöst bis zu besseren Zeiten? Gab es Repressionen?

B: Ja, die Reaktion des Staates gegen jegliche Antikriegsrhetorik macht alle öffentliche Versuche, diese zu verbreiten, zunichte. Viele aktive Leute zogen es vor, das Land einfach zu verlassen. Von unmittelbar von Repressionen wegen Antikriegsprotesten Betroffenen habe ich nicht gehört.

GT: Und zu guter Letzt: Was meinst du, wie wird dieses Schlamassel ausgehen?

B: Ich denke, dass der Krieg de facto bereits Ende März verloren war, der Informationskrieg ist ebenfalls alles Andere als erfolgreich. Die Zerstörung der sozialen Infrastruktur und andere Verbrechen, die auf dem ukrainischen Territorium begangen werden, machen alle Versuche, in Zukunft die UdSSR wiederherzustellen sehr unwahrscheinlich. Außerdem kann man auch ein Ende des Krieges nicht erwarten, weil davon die politische Zukunft Putins abhängt. Um den Konflikt zu beenden, muss man entweder ihn al Hauptinitiator beseitigen oder es sind irgendwelche bedeutende militärische Niederlagen nötig, die den Systemkollaps und die Unzufriedenheit der Massen hervorrufen. Die Niederlage im Krieg würde das Ende des Systems Putin bedeuten, man muss aber bedenken, es ist schwierig zu sagen, wer davon profitieren würde, denn alle politischen Kräfte in Russland am Boden und zerstört sind.

1) https://anton-shekhovtsov.blogspot.com/2014/09/boris-kagarlitsky-kremlins-mole-in.html

https://dasgrossethier.noblogs.org/2022/10/newsii/

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