Sozial ansteckend

Buchbesprechung: Chuang, „Social Contagion and other materail on microbiological class was in China“, 2021

Dezember 2019 brach in der chinesischen Stadt Wuhan unter immer noch nicht ganz geklärten Umständen eine hochansteckende Krankheit aus, die zunächst die Stadt, dann das ganze Land in einen Belagerungszustand und anschließend trotz Bemühungen der chinesischen Führung, das Problem unter den Teppich zu kehren, das Leben der gesamten Menschheit auf den Kopf stellte und den Schätzungen der WHO zufolge 7 bis 20 Mio. Menschen das Leben kostete. Was seitdem als die Covid-19-Pandemie bezeichnet wird, demonstrierte eindeutig, dass eine in Klassen und Staaten zerrissene Menschheit solchen globalen Herausforderungen nicht vernünftig begegnen kann. Die Linke weltweit nutze die Gelegenheit, auf die Sache nur immerzu das zu projizieren, was der jeweiligen Fraktion schon immer auf dem Herzen lag. Von daher ist es vielleicht nicht verkehrt, sich das Buch vom unabhängigen kommunistischen Kollektiv Chuang anzuschauen, falls es jemand noch nicht kennt (das Buch ist immerhin von 2021).

„Social contagion“ präsentiert nicht nur eine genuin chinesische Perspektive auf die Covid-19-Pandemie, die zudem direkt aus Wuhan stammt und sich vornehmlich mit Überlebensstrategien der Wuhaner Arbeiterschaft während des Lockdowns beschäftigt, es wird zudem noch angekündigt als als ein Versuch, die wahrscheinliche Entwicklungsbahn des globalen Kapitalismus zu bestimmen. Während es unter den linksdeutschen Publizisten immer wieder ein paar „tankies“ gibt, die glauben, dass der chinesische Staat ausgerechnet mit seiner Pandemiebekämpfung der ganzen Welt die Überlegenheit des sozialistisches Systems demonstriert hätte, für die unabhängige chinesische Linke scheint es überhaupt nicht in Frage zu stehen, dass China eine der führenden kapitalistischen Weltmächte ist und sein Weg, wenn ein sehr spezifischer, trotzdem ein profitorientierter und arbeiterInnenfeindlicher ist. Dass es ausgerechnet das Zusammenspiel des deregulierten Wirtschaftens und des autoritären Regierens für den Ausbruch der Covid-Pandemie in China verantwortlich ist, steht für das Chuang-Kollektiv ebenfalls außer Frage. Mit den Illusionen aufzuräumen, dass China das planmäßig agierende ultimative kapitalistische Böse schlechthin und für andere gleichzeitig der utopische Weggefährte auf dem Weg zum Weltsozialismus sei, ist das erklärte Ziel des Kollektivs (S. 2).

Zunächst stellen Chuang fest, dass die Geschichte des Kapitalismus, die von ihrem Anfang an global war, immer von rapider Industrialisierung und Urbanisierung, mit radikalen Änderungen in der Landwirtschaft und Ernährung und Verdichtung der Transportwege begleitet war. Der Zoonose, der Übertragung der ansteckenden Krankheiten von Tier zu Mensch bereitet natürlich der mittlerweile ins Mikrobiologische, ins Chemisch-Molekulare reichende Stoffwechsel der menschlichen Gattung mit der Natur und die weltumspannenden Waren- und Arbeitskraftströme den besten Nährboden. Die Pandemie setzt die Menschen miteinander in ein soziales Verhältnis so, wie das Kapital bzw. die Ware das tut. Und es gibt eben Gründe dafür, warum ausgerechnet die chinesische Gesellschaft in ihrem raschen Wandel während der letzten Jahrzehnte ein paar davon produziert hatte.

Hier kommt allerdings einer der spannenden Punkte an diesem Buch: der Versuch der sich kommunistisch schimpfenden Staatsführung, die soziale Krise zu managen. „Both Chinese and Western propaganda have emphasized the real repressive capacity of the quarantine, the former narrating it as a case of effective government intervention in an emergency and the latter as yet another case of totalitarian overreach ob the part of the dystopian Chinese state. The unspoken truth, however, is that the very aggression of the clampdown signifies a deeper level of state incapacity“. (S. 36) Die chinesische Staatlichkeit ist laut Chuang wird immer noch aufgebaut, befindet sich wie der Rest der Gesellschaft im Wandel. (Der sog. Staatssozialismus scheint eh permanent seine Institutionen „bewusst“ umzuwälzen, die Sowjetunion z.B. hat in 70 Jahren ihres Bestehens periodisch Verfassungen ungeschrieben, an der zentralen Planung rumgewerkelt, die Grenzen der Teilrepubliken verschoben, clanähnliche Strukturen in der Führung hervorgebracht usw. Aus irgendeinem Grund grenzt G. Scheit den Staatssozialismus trotzdem von sog. Behemoth-(Un)Staatlichkeit nach Franz Neumann ab oder sieht darin etwas Artverwandtes. Es wäre vielleicht mal eine interessante Aufgabe, sich den Staatssozialismus unter dem Aspekt einer sehr labilen Staatlichkeit anzuschauen, wer auch immer sich ihr annimmt). Chuang, wie auch immer, machen viele Schwächen aus, die zur Katastrophe erst geführt haben sollen: mangelnde Kommunikation zwischen den Verwaltungsebenen (ärztliche Whistleblower z.B. wurden gegen das Interesse der Zentralregierung zum Schweigen gebracht), ineffektive Weitergabe an medizinischen Lageberichten und – ganz elementar – fehlende medizinische Grundversorgung für die Bevölkerung. Auf die Unruhe, die sich massiv ankündigte, konnte man natürlich nur noch mit Repression und Bevölkerungskontrolle antworten, der chinesische Staat reagierte auf den Ausbruch der Krankheit als wäre ein eine Masseninsurrektion, „roleplaying civil war against an invisible enemy“. (S. 37)

Die Diagnose allerdings, die Chunang dem Staat stellen, um es kurz zu fassen, ist keine besonders optimistische. Die Einschränkungen waren zwar auf allen Ebenen massiv, sie hätten aber nicht funktioniert, wären sie – aus unterschiedlichsten Gründen – nicht von der gesellschaftlichen Basis, im Alltagsleben nicht mitgetragen. Natürlich immer so, dass gewisse Schlupflöcher dort entstehen, wo sie gerade gebraucht werden, das ist im Grunde genommen die ganze „Magie“ der totalitären Pandemiebekämpfung in China.

„More striking here are a few of the telling contrasts with conditions in Europe and, in particular, the United States. In almost every respect, the Chinese situation seems to be an inversion of that in the US, where the shutdown helped to spur the largest, most assertive mass rebellion in recent history, including a steady simmer of labor unrest that has gone relatively unnoticed beneath the more spectacular riots against the police. In China, however, despite a recent history of worker organizing, struggles have remained muted, with the late 2020 uptick in some sectors and regions (…) still moderate compared not only with the explosions abroad but also with previous Chinese waves of industrial unrest from the late 1990s through the mid 2010s. In part, this contrast may be due to another, identical inversion: the fact that China readily contained the pandemic while the US has still brutally failed to do so“. (S. 46) Das ist sicherlich der nächste spannende Punkt an Chunags Bericht: die Interviews mit ganz normalen Leuten, Bekannten, ArbeiterInnen, die von ihren Bewältigungsstrategien erzählen. Sie erzählen, dass es durchaus Unterschied ausmachte, ob ein Supermarkt dem Staat oder der Gemeinde gehörte, von staatlich bezahlten Taxis, die später als „Freiwillige“ gelobt wurden, von kollektiven Lebensmittelbeschaffungen, von tatsächlich freiwillig und spontan entstandenen Gruppen, die in der (noch nicht gesperrten) Gegend den Krankenhäusern halfen, bis des dem Staat zu viel des Guten wurde und er diese Tätigkeiten unterband. „It felt like the government was revealing its true nature. Like this is how it had been all along, and now everyone could see it. It had created this mess and now the only help it could offer for ansuring peolpe‘s survival was to shut everything down, with no way for people to get anything they needed to live“, berichtet einer der Aktiven (S. 72). Manche Gruppen, die erwähnt werden, bestanden bereits zuvor als eine Art Hobbygruppen, man fuhr z.B. gemeinsam zu Konzerten. An dieser Stelle folgendes hot take: wenn eure situationistisch angehauchte Marx-was-auch-immer-Lesekreise oder Laientheater nicht so veranlagt sind, dass sie sich u.U. zu handelnden Netzwerken umformatieren lassen, sind sie bereits davor in gesellschaftlicher Hinsicht unnütz, dann dienen sie dem persönlichen akademischen bzw. künstlerischen Fortkommen. Bloß erfahren wird man das erst im Nachhinein.

Selbst nachdem die sog. Freiwilligen die Krankenhäuser mit Instrumenten und Essen nicht mehr versorgen durften, kümmerten sie sich um das psychische Wohlbefinden der Mitmenschen so gut sie konnten. Und an dieser Stelle mein zweites hot take: es besteht ein großer Unterschied zwischen den „coronakritischen“ Pseudoanarchisten hierzulande (und nicht nur) und z.B. den Leuten (egal wie kritisch sie sich selbst vorgekommen sind), die ihre schimmeligen Infoläden oder sonstige Buden in grassroot Hilfezentren (wie z.B. in den USA) umgewandelt haben – die ersteren haben im Grunde nur ihren erzwungenen Konsumverzicht nach dem Motto der Querdenker „Jedem das Seine“ beklagt, die anderen versuchten den Schwachen zu helfen und sie kollektiv zu stärken. Dieser Unterschied soll nicht vergessen werden. Die folgenden Zeilen haben Chuang wie für die Staatstheoretiker der Marke Laidak (bestimme Sequenzen findet man nur, wenn man irgendwelche Sequenzapparate anschmeißt, völlig schleierhaft, wie das passiert, if you know you know) geschrieben:

„But the more common cultural current is conservative, defined by a recognition of the catastrophe without the ability to delineate its cause. At its most reactionary, this manifests as a pure substitution; tens of thousands of people for whom politics is nothing but endless paranoia deny the existence of the virus outright, seeing in it nothing but an excuse for the overreach of the state. Others take an equally reactionary but opposite position. They vigorously amplify the myth that states craft for themselves by pointing to the relative success of various East Asian governments in containing the outbreak (and conveniently ignoring their failures that facilitated it). Whether rallying around the state or rallying against it, these are concise expression of an almost universal approach to the question of the plague, ranging from the party propagandist, to the paranoid anti-masker, and from there all the way up to the ivy-league philosopher. The thematic core is this: the plague is not the plague but is instead simply one face of the totalizing state. The state here acts as a sort of final threshold of ideology. This is the limit-point beyond which one has no other option but to gaze upon contours of the beast we call capitalism. At this threshold, the rule is to speak of the plague without speaking of its origins, to speak of society without speaking of the social and to speak of the pandemic as a purely administrative matter conducted by those at the helm of the state. In short, the most common way that the pandemic is spoken of today is not to discuss it at all and to discuss the state in its place.

The shadow of the state is dark and cloaks all that lies beneath. What should be a deeper lesson in the microbiological and macroecological devastation that necessarily accompanies production for the sake of never-ending accumulation is thereby disguised as a stereotypical drama of the “man versus society” archetype, as taught in high schools English departments and here retaining all the depth of a teenager’s essay on Orwell. The cliché is played out not only in news media but also in what is the most representative from of the genre today: the plague diary, serialized over social media”. (S. 110f)

Was allerdings kein örtliches solidarisches Netzwerk mehr beheben kann, ist die wirtschaftliche Not, das Leben auf Sparflamme funktioniert nicht auf lange Sicht, die Leute müssen wieder ihre Arbeitskraft verkaufen, die zerrütteten Unternehmen machen langsam auf (hier wiederum die staatlichen etwas schneller als die privaten). Über diesen Aspekt erfahren wir nicht viel, es wird jedoch hie und da von Aueinandersetzungen um ausstehende Löhne berichtet.

Nach diesen lehrreichen Schilderungen kommt das Chuang-Kollektiv wieder zur Bestimmung des kommenden chinesischen Staates zurück. Es ist wohl trivial zu erwähnen, dass der Staat den Pandemieausbruch zur Entwicklung und Evaluierung der Aufstandsbekämpfungsmaßnahmen genutzt hat, das haben sie alle in einem oder anderem Ausmaß. Es gibt allerdings Gründe, warum der chinesische Staat so und nicht anders darauf reagiert hat, es hat was mit historisch gewordenen Verwaltungsstrukturen und der Staatsideologie, entlang welcher der kommende Staat kreiert werden soll. „The great Unity of all under Heaven“ nennen das Chuang. „Capitalist imperatives are the foundations of the state and the conflicts arise from the fact that disjointed processes of state building and state dacay exist side by side within a single global economy. This material conception of the state requires an understanding of it in its specificity – that is, in relation to civilization as a whole and to paricular modes of production – rather than as some exaggeraten, paranoiac Leviathan haunting humanity from the moment the first grains were cast into the soil“. (S. 113) „Tianxia“, von der auch bei unseren Intellektuellen derzeit viel geredet wird, ist nichts anderes als traditionelle Legitimationsideologie eines föderatives Staatsgebildes, nach welcher die staatliche Bürokratie majestätisch über der sich weitgehend autonom verwaltenden Gesellschaft schwebt und mal formelle, mal informelle Herrschaft über diese ausübt. Ungefähr das haben wir auch während der Krise beobachtet: die ganzen Haus-, Viertel- und Dorfkomittees, Polizei und andere Sicherheitsorgane und lokale medizinische Einrichtungen treffen auf mehr oder minder organisierten Leute, die für ihr Überleben sorgen und sich gegen die Krankheit schützen wollen. Dann arbeiten sie mit oder gegen einander. Der Staat wäre, wie gesagt, ohne sie gar nicht in der Lage gewesen, die Krise halbwegs zu bewältigen. Andererseits warnen Chuang davor, diese umfassende Basisorganisierung als irgendein Ausdruck der alten guten anarchistischen „gegenseitigen Hilfe“ zu feiern, obwohl das Potenzial unbestreitbar da wäre.

Anschließend plädieren Chuang für ein aufmerksames Studium der chinesischen Staatlichkeit, das ist natürlich nicht ganz ohne, denn nirgends auf der Welt scheint die Sprachbarriere für die „westliche Linke“ größer zu sein. Es ist nicht der neuere Sozialismus, der da gerade entsteht, nicht irgendein „neoliberaler“ oder gar „neuartiger“ Kapitalismus. China scheint die Avantgarde des Weltkapitalismus zu sein, bloß nicht einer eigenartigen Flugbahn. Soviel Eigenständigkeit muss man einem kapitalistischen Staat unter anderen zuerkennen, dessen Ideologie ein wildes Gemisch aus Konfuzianismus, sozialistischen Vokabeln, Carl Schmitt und obskurem Neotraditionalismus a la Alexandr Dugin (den man in China durchaus schätzt). Es ist wohl das, was unsere Klassiker einst im „Kommunistischen Manifest“ als den Bourgeoissozialismus beschrieben haben, die praktische Umsetzung davon ist immer noch der Kapitalismus. „Tianxia“ nützt nicht viel bei kriselnder Wirtschaft und leerer Staatskasse. Ob China wie das Putinsche Russland die kriegerische Flucht nach vorne wagt, und wie sich die chinesische Arbeiterschaft dazu verhält, bleibt abzuwarten.

– von ndejra

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