1
In der „Linkspartei“ und in der Linken aussenherum wird erbittert gestritten um die richtige Art, gegen die steigenden Lebenshaltungskosten zu protestieren. Zwei oder mehr Meinungen scheinen sich da gegenüberzustehen; aber wir haben nicht vor, Kreml-Astrologie zu betreiben. Das Innenleben dieser weitgehend gescheiterten Partei ist auf geradzu byzantinische Weise undurchschaubar. Wir haben aber an ein paar andere Dinge zu erinnern: an ältere Erfahrungen, aus der Protestbewegung von 2004, aus der diese Partei, wie sie heute ist, entstanden ist. Und es waren keine guten Erfahrungen.
Im Westen waren es sozialdemokratisch-gewerkschaftliche Kreise, im Osten linksparteiliche, die die Proteste damals organisiert hatten. Vage hoffte man wahrscheinlich auf eine langanhaltende und tief in der Gesellschaft verankerte Bewegung. Die Westlinken dachten dabei eher an ihre Bündnispolitik aus den 1980ern, die Ostlinken eher an eine Wiederaufnahme der gewaltigen Anti-Treuhand-Proteste der frühen 1990er. Daher auch die Brücke zum Montag als Protesttag.
Und beide waren bis zur Realitätsverleugnung überfordert mit der Sorte Volk, die da zum Teil auftauchte. Man steht auf sehr dünnem Boden, wenn man eine Klassenfrage in der Hand hat und eine Volksbewegung proklamiert. Natürlich werden sehr viele verschiedene Leute da auftauchen, die alle keine Ahnung haben, was sie miteinander gemeinsam haben; die allermeisten werden sprachlos herumstehen, und gewisse organisierte Minderheiten werden das Wort an sich reissen. Das sind die, die einen fertigen Plan haben. Die Nazis gehörten genauso zu diesen wie die MLPD.
In Würzburg passierte die Absonderlichkeit, dass die paar wenigen, die ein an der „Krisis“-Position angelehntes Flugblatt „gegen die Arbeit“ verteilten, aus der Kundgebung entfertn wurden; während der zweite Vorsitzende der örtlichen NPD mit seinen Leuten in Frieden gelassen wurde. Nicht, weil man ihn nicht gekannt hätte, der Mann war nicht zu verwechseln, er hatte ein Paar Springerstiefel auf den Kopf tätowiert und trug keine Haare darüber. Man hatte vorher mehrmals Demonstrationen gegen ihn angemeldet.
Natürlich war das eine strategische Entscheidung. Man muss mir nichts anderes erzählen. Anderswo gab es noch krassere Sachen zu sehen. Aus der Sorte von Linken, die das damals organisiert hatte, ging bald danach die Linkspartei in ihrer heutigen Form hervor; und diese Leute gehörten darin zu dem Wagenknecht-Flügel und sind mit diesem auch einstweilen in der Versenkung verschwunden. Sie werden noch einen Auferstehungstag sehen; aber etwas gutes ist von ihnen nicht zu erwarten, im Gegenteil.
2
Es ist ihnen weder gelungen, eine dauerhafte, selbsttragende Bewegung zu erzeugen, noch ist ihnen gelungen, diese Bewegung in der Hand zu behalten. Aber treten wir noch einen Schritt zurück.
Selbst wenn es ihr gelänge, was ist dann? Kann eine Bewegung, die „in der Hand“ einer bestehenden politischen Partei ist, überhaupt bestehen, und was kann sie zuwege bringen? Eine Bewegung braucht Autonomie, eigenes Selbstbewusstsein, eigene Tätigkeit. Sie wird neue Leute hervorbringen und neue Fragen stellen. Und unsere Linke will gerade das gar nicht.
Unsere Linke ist voll von Leuten, denen die Notwendigkeit einer Veränderung gar nicht eingeht. Diese Leute können den heutigen Zustand der Linken betrachten, ohne dass ihnen die Tränen kommen. Sie haben ihn ja auch verursacht. Jedes drängende Bedürfnis nach einem Neuanfang fehlt ihnen naturgemäss völlig. Es ist in der Tat alles nach ihrem Geschmack und ihrem Bedürfnis eingerichtet, also ist alles bestens.
Wie die ältere Linke, die Wagenknecht-Linke, eine Protestbewegung in den Sand gesetzt hat, haben wir damals gesehen. Will man sich vorstellen, wie die heutige Linke das anfangen wollte? Die satirischste Phantasie würde nicht ausreichen. Die heutige Linke viel paranoider und gleichzeitig unbeliebter als jemals; sie hält alle Gedanken, die auch ausserhalb ihrer eigenen Kaste bekannt sind, für potentiell faschistisch. Sie müsste entweder den grössten Teil der Bevölkerung direkt von ihren Aufzügen ausschliessen; oder sie müsste die Sache so oberflächlich halten, dass ihre Spezialideen gar nicht zur Sprache kommen und zur Debatte gestellt werden.
Es ist vollkommen begreiflich, dass die Sache so erbittert diskutiert wird. Aber das Dilemma wird dadurch nur realer. Wenn die Linke die Sache nicht in die Hand zu nehmen in der Lage ist, werden es ohne Zweifel die Rechten tun, da haben die einen vollkommen recht. Und die anderen umgekehrt, dass eine Hegemonie dieser Linken sich niemals wird halten lassen. Wenn es die Linke von 2004 nicht konnte, wird es diese von heute erst recht nicht können.
3
Niemand hat eine Bewegung „in der Hand“. Es ist sonst keine Bewegung. Bewegungen entstehen, wenn die bestehenden Formen und Organisationen unfähig sind, mit einem drängenden Problem weiterzukommen. Sie werden nicht ins Leben gerufen von diesen Organisationen. Genausowenig kann eine lebendige Bewegung ohne weiteres übernommen werden. Eine Scheinbewegung, die dazu gedacht ist, sich an eine vorher bestehende Kraft passiv anzulehnen, kann allerdings leicht übernommen werden: eine Bewegung ohne innere Debatte, ohne eigenes Selbstbewusstsein.
Der Charakter einer Bewegung wird auch nicht vorrangig durch möglichst disziplinierte Bewegungs-Polizei entschieden, oder durch die richtige Gesinnung die ersten Anmelder. Der Charakter einer Bewegung wird dadurch entschieden, welche Sorte Leute sie anzieht, und welche notwendig im Mittelpunkt stehen. Der Charakter einer Bewegung wird also, unter anderem, entschieden von dem Ausdrucksmittel, oder besser der Kampfform.
Eine Latschdemo, an der alle nur als Bürger unter Bürgern teilnehmen, die ihre Meinung sagen, zieht unpolitische Leute an. Ein offenes Mikrofom zieht Sektierer an. Eine Blockade zieht Aktivisten an, die sich für eine Elite halten. Das ist nicht neu und es ist alles kein Zufall. Und diese Leute geben dann den Ton an. Eine Latschdemo wird auch vom grössten schwarzen Block nicht radikalisiert; und gegen den gewiegten Sektierer am offnen Mikrofon kommt man nur an, wenn man den Stecker in der Hand hat.
Es wird viel über die Lehren von 2004 geredet, aber nie über die merkwürdigste dieser Lehren. In den grossen Belegschaften ist nämlich damals ernsthaft darüber gesprochen worden, gegen die Gesetze in den politischen Streik zu treten. Genau dieselben Gewerkschafter, die die Protest-Demos organisiert haben, sind es gewesen, die das mit viel Mühe verhindert haben.
Ein Streik ist etwas ganz anderes als eine Protestdemonstration. Ein Streik ist nicht die Äusserung einer ansonsten gleichgültigen Meinungen, ein Streik ist eine Tatsache und schafft Tatsachen. Es wäre vollkommen närrisch, z.B. gegen die Inflation zu protestieren; man könnte genausogut gegen die Zeit protestieren. Jede konkretere Forderung, die sich nicht sofort ins Nirgendwo verflüchtigen soll, kann nur Sinn haben im Rahmen einer Politik, die schon im Detail beschrieben ist; das heisst, ihr richtiger Ort ist die parlamentarische Opposition, nicht die Bewegung. Die Art und Weise, wie die Arbeiterklasse gegen die Inflation protestiert, ist dagegen nicht der Appell an den Staat, sondern der Lohnstreik.
Bei einem Streik haben weder Laufpublikum noch Sektierer viel zu melden, und sie finden auch kein so bereitwilliges und leichtgläubiges Publikum; weswegen sie auch gewöhnlich nicht wie Heuschrecken über solche Veranstaltungen herfallen. Bei einem Streik hat man es nicht mit Leuten zu tun, die im Grunde nicht wissen, was sie wollen, sondern diese Leute haben sich schon zu einer bestimmten Entschlossenheit durchgerungen. Die Struktur und die Dynamik der Sache sind ganz anders; die Streikenden und nur diese haben das Heft in der Hand. Weiterlesen →