Aus dem Netz: Allgemeine Theorie der Rekuperation

Allgemeine Theorie der Rekuperation I

Wir argumentieren einerseits, dass das heutige linke Milieu gemessen an seinem eigenen laut proklamierten Anspruch nicht funktioniert. Wir argumentieren auch, dass es innerhalb dieses Milieus Tendenzen gibt, denen das ganz recht ist; und zwar aufgrund ihrer eigenen Interessen, die nicht ganz so laut proklamiert werden.

Wir haben aber zu erklären, warum sich dann an nicht statt der nicht funktionierenden Strukturen neue bilden. Diese Gesellschaft hat erstens nur eine sehr eingeschränkte Öffentlichkeit; und sie hat zweitens nur sehr wenige vorgezeichnete Wege, auf denen Veränderungen geschehen können.

Zu diesen vorgezeichneten Wegen gehört erstens der reale Vorteil des studentischen Milieus. Jedes Anliegen, gut oder schlecht, muss erst einmal formuliert und anschliessend der Gesellschaft vorgetragen werden. Dazu braucht man Zeit, Bildung, eine gewisse Naivetät und vor allem Orte, an denen man sich findet. Die Studentenschaft ist also gewissermassen das Organ, das die Gesellschaft sich für derartige Dinge leistet. Sie ist auch, durch ihre Herkunft und ihre Perspektive, mit der Staatsklasse nah genug verbunden.

Die von diesem Milieu beherrschten Initiativen, Organisationen etc. sind die natürlichen Sammelstellen für Unzufriedene aller Art. Vor allen Dingen natürlich von Unzufriedenen aus denselben Schichten oder Milieus; aber auch allen anderen bleibt zunächst nichts anderes übrig, als sich dort einzufinden. Die Alternative wäre gewesen, genau diesem Milieu um jeden Preis fernzubleiben.

Für diese Alternative war bisher der Preis der, dass andere Orte, an denen Unzufriedene zu finden wären, gar nicht bestanden. Die Rechnung ist ja nicht nur: wo finde ich selbst andere Leute, mit denen ich mich zusammentun kann, sondern: wo gehen wahrscheinlich andere Leute hin, die andere Leute suchen? Und die einzigen bestehenden Kristallisationspunkte war die studentisch beherrschte Szene, die dadurch ihr Monopol hielt. Und es ist gar nicht ausgemacht, dass sich das so bald ändert

 

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Allgemeine Theorie der Rekuperation II. Wenn die Studenten das noch nicht wissen, bekommen sie es beigebracht durch das Fussnotenwesen: in ihren universitären Arbeiten üben sie, dass Wahrheit durch Fussnoten entsteht, durch Zitate aus einer Literatur, die sie selbst nicht verstehen brauchen, und die sie nur glatt zu handhaben lernen müssen. Sie lernen auch, dass sogar der offenkundigste Unsinn die Autorität hinter sich haben kann, wenn er richtig zitiert ist. Sie lernen, dass das die Quelle ihrer Macht ist, und sie begreifen, dass ihr Einkommen keine andere Rechtfertigung haben wird.

Sie lernen, mit anderen Worten, dass ihre vorgesehene gesellschaftliche Stellung die von verlogenen Parasiten sein wird. Sie sind darüber in der Regel alles andere als glücklich; die meisten versuchen sich einen Weg einzurichten, wie sie im beruflichen Leben wenig Schaden anrichten, sie entwickeln früh eine Desillusionierung, die manchmal dem Zynismus nahekommt. Wenn sich Widerstandsgeist regt, findet er sich schnell zurückgeworfen auf Bahnen, die von ehrgeizigen Strebern beherrscht sind; namentlich in der studentischen Politik.

Diese sind natürlich eine kleine Minderheit, aber alle wissen, dass sie die Macht der Institution hinter sich haben, und dass sie nur unverhüllt aussprechen, was Sache ist. Sich gegen sie auflehnen, hiesse sich gegen die eigenen Studien auflehnen; wie es Mustapha Khayati damals formuliert hat. Gerade denen, die an der Unwahrheit ihrer Studien leiden, fehlt es an der Unbekümmertheit, die es zu dieser Auflehnung bräuchte; die studentischen Pseudopolitiker haben mehr als genug von dieser Unbekümmertheit, sie glauben an gar nichts und sind deswegen im Vorteil.

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Allgemeine Theorie der Rekuperation III. Dass die Krankheit des studentischen Milieus sich unmittelbar in der gesellschaftlichen Willensbildung fortsetzt, kommt auf ganz dieselbe Weise zustande. So wie innerhalb der Studentenschaft die politisierenden Narren alle Kanäle der Öffentlichkeit besetzen und verstopfen, so tut es die Studentenschaft in der gesamten Gesellschaft. Das ist leicht einzusehen, wenn man sich anschaut, wie die Öffentlichkeit dieser Gesellschaft aussieht.

Diese Gesellschaft hat nur so viel Öffentlichkeit, wie ihre Einrichtungen zulassen. Die Parteien, Verbände, Gewerkschaften; die Kirchen, Universitäten, Zeitungen und Rundfunkt sind alles Einrichtungen, die zur Verwaltung der Öffentlichkeit, zur Beschränkung des Zugangs zu ihr da sind. Die so gründlich verwaltete Welt hat nie wirklich funktioniert. Sie war selbst nie in der Lage, die gesellschaftlichen Bedürfnisse aufzunehmen und unverfälscht zum Ausdruck zu bringen. Auf mittlere Frist ist so etwas für jede Gesellschaftsordnung tödlich; sie muss irgendein Organ haben, um solche Bedürfnisse aufzunehmen und zu reagieren.

Ein gesellschaftliches Bedürfnis hat es von jeher nur dann geschafft, zur Geltung zu kommen, wenn es unter die Verschanzungen, mit denen die Öffentlichkeit umgeben war, Tunnel zu graben verstand. Die Techniken der Subversion, die 1968 entwickelt worden sind, haben nicht zugereicht, die verwaltete Welt umzustürzen; die verwaltete Welt verdankt ihnen vielmehr, dass sie nicht vollends in Erstarrung verfallen ist.

Alles das, was dieser Gesellschaftsordnung erlaubt hat, sich weiterzuentwickeln, musste in ihre vollkommen verstopfte Öffentlichkeit mit ähnlichen Mitteln implantiert werden. Die Gegenkultur wurde zur unentbehrlichen Ergänzung der Öffentlichkeit. Im selben Masse wurde aber die Gegenkultur respektabel, staatsnotwendig und ein Teil des Karrierewegs zu Höherem; mit einem Wort, sie wurde zur leichten Beute des studentischen Milieus.

Die gegenwärtige Erstarrung, die Entfremdung des politischen Apparats und der Basis, ist keine seltsame Fehlentwicklung, die erst neuerdings aufgetreten ist. Sie ist vielmehr die Normalität der verwalteten Welt. Diese Normalität ist ein halbes Jahrhundert von den Resten einer Gegenkultur überdeckt worden. Die fortschreitende Liquidation dieser Gegenkultur raubt einerseits der Opposition immer mehr die Äusserungsmöglichkeit; aber bringt auch das System in eine schwierige Lage. Es staut sich Opposition an, die nicht in geregelte Bahnen abfliessen kann.

Von dem reinen Aufbau grösseren Drucks allein ist aber noch keine Veränderung zu hoffen. Das Bild aus der Physik versagt hier. Der Druck wendet sich gegen die Opposition, er treibt sie in die Passivität zurück, wo sich nicht eine gemeinsame Form und ein gemeinsamer Gedanke finden lässt. Und genau das zu verhindern, dazu ist das Ganze nach wie vor in der Lage. (Teil IV folgt)

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Allgemeine Theorie der Rekuperation IV. Diese „Liquidation der Gegenkultur“, ihre Aufsaugung in den Apparat, ihre Assimilation und Zähmung ist das, was wir hier zur Abwechslung „Rekuperation“ nennen. Sie ist nicht ein einmaliger Vorgang gewesen, sondern ein andauernder, fortschreitender. Es lassen sich in ihr verschiedene Stufen unterscheiden, verschiedene Ebenen und verschiedene Phasen.

Ihr bekanntester Move ist der, aus einer Bewegung eine Ware zu machen. „Capitalism will steal your movement and sell it back to you“. Es geht aber weit darüber hinaus, dass man Sex Pistols-Shirts bei H&M kaufen kann. Die Logik ist aber immer die gleiche. Es ist die Logik der Ware und ihres Gegenstücks, der politischen Repräsentation.

Wer sich schwertut, den letzten Sätzen zu folgen, soll sich zB die Aktivitäten der IL und ihrer Kampagnenorganisationen im letzten Jahrzehnt in Erinnerung rufen. Die gewohnheitsmässige Übernahme jeder Art von Bewegung, wo immer sie sich zeigt; ihre symbolische Beschlagnahme durch ein Markenzeichen; ihre Überformung und routinierte Verwaltung; die Zuversicht, die man auszustrahlen in der Lage ist durch die Vortäuschung, man habe einen guten Plan und eine Strategie. Das alles ist Rekuperation auf hohem technischen Niveau, aber gleichzeitig nahe am Implosionspunkt gewesen.

Die IL ist nicht der einzige Anbieter auf diesem Markt, aber jede Konkurrenz folgt der gleichen Logik. Und noch merkwürdiger, die IL agierte in einer Welt, in der niemand mehr in der Lage war, den komplizierten Betrug zu begreifen, der an ihnen begangen wurde. Im Gegenteil finden sich viele bereitwillig ein, um daran noch mitzuwirken. Woher kommen diese?

Erinnern wir uns an die frühe Geschichte der Fridays for Future. Diese Bewegung war am Anfang eher umstritten, ehe sie dann von der guten Gesellschaft ans Herz gedrückt worden ist. Solche Umarmungen haben erstens etwas erstickendes; zweitens geben sie das Signal an die gute Bürgerjugend, dass man hier mitmachen kann und muss.

Es gibt einen Flügel dieser Gesellschaft, oder sagen wir einen ihrer Aspekte, der selbst aus der Assimilation der Gegenkultur hergekommen ist. Es sind dies zB wohlhabend gewordene Alternative; im schlimmsten Fall solche, die früher die Radikalen gespielt haben, als sie noch jung waren und es nichts gekostet hat; im besten Fall solche, die gezwungen waren, sich von ihren Jugendträumen zu verabschieden. Aber auch diese haben an diesen Träumen nichts weiterentwickelt; sie haben sie in die Vitrine gestellt und kennen sie nur in ihrer unreifen Form. Sie sind daher anfällig für jede Art der sentimentalen Selbsttäuschung. (Die dritte Sorte sind natürlich die Stocknormalen, die nur immer gerne etwas besonderes gewesen wären, aber wohlweislich nie etwas Riskantes versucht haben.)

Gemeinsam ist allen diesen, dass sie das schlechte Gewissen dieser Gesellschaft geradezu verkörpern. Ihnen ist in groben Zügen die Aufbruchsstimmung der Gegenkultur, die selbst immer nur eine Selbsttäuschung gewesen ist, in Erinnerung. Sie erinnern sich vage, dass sie einmal geglaubt haben, es gebe eine richtige Seite und eine falsche; sie wissen nicht, wie man sie unterscheidet, sie wissen nur, dass sie selbst sich für die falsche entschieden haben. (Teil V folgt)

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Allgemeine Theorie der Rekuperation V. Die Idee, auf der richtigen Seite zu stehen, ist in der Tat immer eine Selbsttäuschung gewesen; auch die Gegenkultur war in ihrem Innersten völlig ratlos und hatte keine Ahnung, was zu tun wäre. Sie war aus einer gesellschaftlichen Krise entstanden, die sie selbst nicht durchschaute, und musste um jeden Preis versuchen, ihre gesellschaftliche Isolation sich schönzureden.

Das schlechte Gewissen derer, die sie Seiten gewechselt haben, ist auf keinen Fall der einzige Vektor, durch den diese Selbsttäuschung in den Kern der Gesellschaft übertragen worden ist. Es ist aber der am deutlichsten sichtbare.

Der bürgerlichen Gesellschaft muss ohnehin, wie es hier neulich hiess, sich selbst für einen Garanten fortschreitender Befreiung halten. Das ist nicht einfach bürgerliche Propaganda; es ist unvermeidbares Nebenprodukt einer Gesellschaft, deren offizielle Ausbeutungsweise der freie und gleiche Warentausch ist. Der Fortschritt der bürgerlichen Freiheit, das ist nicht nur ihre Legitimation und ihr Fensterschmuck; es ist ihr Expansionsprinzip, ihr Geschäftsmodell.

Das ganze ist mit fortschreitender Zeit immer hohler und unglaubhafter geworden; um so angestrengter wird es aufrechterhalten. Das schlechte Gewissen, von dem wir gesprochen haben, spielt dabei eine Hauptrolle. Je weniger dieser Flügel des Gesellschaft wirklich weiss, wo hinten und vorne ist, desto mehr gleicht er sich den trend scouts der Kulturindustrie an, die der neuesten Mode hinterherspüren, um sie marktgängig zu machen und auszubeuten.

Je länger dieser Vorgang andauert, desto weniger kann unterschieden werden zwischen dem Ausbeuten eines vorgefundenen Trends und der künstlichen Erschaffung eines Trends; zwischen „authentischer“ Bewegung und synthetisch hergestellter. Der Charakter dieser Gesellschaft ist zunehmend der eines organisierten Selbstbetrugs, in dem die Betrogenen versuchen müssen, selbst zu Betrügern zu werden.

Das ganze verhängnisvolle Spiel wird nicht durchschaut. Sebastian Haffner hat in seinem Buch über 1918 irgendwo folgendes geschrieben, dass der Grund, warum der SPD die Dolchstoßlegende so geschadet hat, der Verrat von 194 gewesen ist. Die SPD hatte den Vorwurf des Vaterlandsverrats auf gar keine Weise verdient, sie hatte für den Weltkrieg im Gegenteil das ganze Erbe der Arbeiterbewegung verraten. Aber das konnte sie natürlich unmöglich zu ihrer Verteidigung vorbringen.

Genauso sieht heute fortschreitende Verrat an 1968 aus, als wäre er im Gegenteil die Erfüllung des Vermächtnisses von 1968. Die heutige Rechte schreit: „Marxismus!“, wenn sie von denen spricht, die den Historischen Materialismus in den Dreck treten. Niemand benennt die heutige Klimapolitik als den letzten Akt des Verrats an der Umweltbewegung, der sie ist; er kann hingestellt werden als der ultimative Anschlag der Umweltbewegung an den rechtschaffen Arbeitenden. Und genau im selben Zeitalter beginnt die Rechte, sich selbst zu inszenieren als subversive Kraft, als grundsätzliche Opposition, und sogar als Erbin der Gegenkultur. Auch das ist eine Gestalt der Rekuperation; vielleicht eine ihre ihrer entfaltetsten Formen.

Die Rekuperation wirkt also nicht trotz ihrer Unwahrheit, sondern paradoxerweise auch aufgrund ihrer Unwahrheit. Die Opposition von rechts, die Fleisch von ihrem Fleisch ist, stabilisiert sie nur noch: sie gibt ihr das, was ihr gefehlt hat, nämlich einen Anhaltspunkt dafür, wo denn die richtige Seite der Geschichte ist. Dass der „fortschrittliche“ Teil der Gesellschaft sich nicht anders mehr definiert als negativ, von der Rechten aus, ist kein bug, es ist ein feature. (Teil VI folgt)

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